Es gibt ihn auch in unserem Nachbarland, den typischen Durchschnittspolen und die durchschnittliche polnische Familie. Jan Kowalski heißt er, der polnische Otto Normalverbraucher. Er ist verheiratet, Mitte 40, hat zwei Kinder und lebt in einer mittelgroßen Stadt mit vielleicht 100.000 Einwohnern. Herr Kowalski ist Ingenieur in einer Baufirma, und ist in seinem Berufsleben bisher von Arbeitslosigkeit anders als beispielsweise sein Bruder verschont geblieben.
Seine Frau Anna Kowalska ist Anfang 40 und arbeitet erst seit ein paar Jahren wieder in einem großen Bekleidungsgeschäft, derzeit halbtags. Wie es in Polen üblich war, haben die Kowalskis früh geheiratet, Anna war gerade 21 Jahre alt. Ihre Tochter Ewa, das mit 15 Jahren jüngere ihrer beiden Kinder, will sich da mehr Zeit lassen. Wie es heute gängig ist, will sie frühestens mit Mitte oder Ende 20 heiraten und dann auch nicht gleich Kinder haben, vielleicht aber auch sowieso nur ein Kind. Sohn Adam ist 18 Jahre alt, besucht das Lyzeum und macht im nächsten Jahr Abitur. Während seine Schwester noch überlegt, was sie studieren will, sieht Kowalski junior seinen Weg schon vor sich. Wirtschaft will er studieren, am liebsten natürlich in Warschau, und am allerliebsten an der renommierten Warsaw School of Economic. Nach Warschau drängt in Polen jeder, der jung, dynamisch und erfolgshungrig ist oder sich dafür hält. An Polens 420 Hochschulen studieren rund zwei Millionen junge Polen, jeder zweite seines Geburtsjahrgangs.
Jan Kowalski wohnt mit seiner Familie in einem "blok", einem großen Plattenbauwohnsilo, wie zwölf Millionen anderer Polen. Dabei haben Kowalskis es nicht schlecht getroffen. Wie der größte Teil dieser Wohnungen ist auch die von Jan Kowalski mittlerweile saniert und modernisiert.
Vor der Privatisierung hatte das ganze Hochhaus dem damaligen ersten Arbeitgeber von Jan Kowalski gehört. Nach einem komplizierten System von Bonuspunkten für die Dienstjahre, das Lebensalter und die Zahl der Kinder wurde damals für jeden Mitarbeiter ein individueller Preis errechnet, zu dem er seine Wohnung erwerben konnte. So kam Jan Kowalski wie ein hoher Prozentsatz aller Polen zu Wohneigentum. Das aber macht einen Umzug in eine andere Stadt heute ungeheuer schwierig, muss doch immer erst die Wohnung verkauft oder vermietet werden.
Inzwischen gibt es durch den Bauboom wieder mehr Mietwohnungen auf dem polnischen Wohnungsmarkt, doch die Mieten sind vor allem in den polnischen Großstädten sehr hoch. Im Durchschnitt zahlt man zwischen 5 und 12 Euro pro Quadratmeter. Die Eigentumspreise sind in den vergangenen Jahren ebenfalls gewaltig gestiegen und betragen zwischen 560 und 1.220 Euro für den Quadratmeter in den Innenstadtlagen der Großstädte bis zu 2.000 Euro. Das können die Polen nur etwas ausgleichen, indem sie sich mit weniger Wohnfläche begnügen.
Kowalskis haben eine knapp 80 Quadratmeter große Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad sowie einem Minibalkon, der gerade groß genug ist, den Inhalt einer Waschmaschine zum Trocknen aufzuhängen. Die Kowalskis entsprechen damit ziemlich genau dem Durchschnitt, denn jedem Polen kommen statistisch 21 Quadratmeter Wohnfläche zu, gegenüber etwa 43 Quadratmetern, auf denen eine Deutscher sich ausbreiten kann.
Auch Kowalskis reicht ihr Platz aus, sie richteten sich ein, wie immer noch viele Polen: Die Eltern verzichten auf ein Schlafzimmer und nächtigen im Wohnzimmer auf der modernen Version eines typisch polnischen Möbels, dem Tapczan, einem Schlafsofa. Vor allem aber können sie jedem ihrer heranwachsenden Kindern ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen, in dem längst der Computer genauso Einzug gehalten hat, wie das Handy. Der Siegeszug des Handys war phänomenal in Polen, da hier der Nachholbedarf der Telekommunikation besonders groß war, denn es gab vor der Wende nur wenige Wohnungen mit Telefon. Heute benutzen bereits rund 96 von hundert Polen Handys.
Längst ist die Wohnung der Kowalskis aufwendig modernisiert, ein Laminatfußboden eingezogen und das Bad komplett erneuert, mit Waschmaschine, Trockner, Kacheln und Duschecke, danach die Küche mit Gefrierkühlkombi, neuem Herd und einer Mikrowelle ausgestattet. Das fehlende Geld für die Wohnungsmodernisierung hatten sie sich innerhalb der Familie geliehen, denn einen Kredit zu zweistelligen Zinsraten konnten sie sich nicht leisten.
Inzwischen ist alles bezahlt, und die Kowalskis haben sich vor zwei Jahren ein koreanisches Mittelklasseauto gekauft. Mittlerweile ist übrigens die Autodichte in Polen auf 420 Pkws pro 1.000 Einwohner gestiegen, gegenüber 486 im EU-Durchschnitt. Generell halten Kowalskis nicht viel von Krediten. Sie gehören nicht zu der im letzten Jahr um rund 70 Prozent gestiegenen Zahl der 1,5 bis 2 Millionen überschuldeten Polen. Die wieder auf 10,7 Prozent gestiegene Arbeitslosigkeit ist der eine Grund, der zweite der anhaltende Złoty-Hochstand. Viele Polen nahmen in den vergangenen Jahren für ihre Wohnung Kredite in Schweizer Franken auf, die erheblich zinsgünstiger waren, und das Ganze meist auch noch zu einer Zeit, als ein Schweizer Franken 3,5 Złoty kostete gegenüber 4,23 Złoty heute und können diese Differenz nun nicht mehr tragen.
Jan Kowalski verdient monatlich 830 Euro das entspricht genau dem Durchschnittseinkommen, seine Frau bringt dazu noch einmal 370 Euro mit nach Hause. Damit gehören sie in Polen zum Mittelstand. Das entspricht derzeit etwa 1.200 Euro, also einem nach deutschen Maßstäben nicht eben berauschenden Monatseinkommen. Der polnische Lebensstandard entspricht heute dem von Spanien, in den Zentren wie Warschau gar dem der Neuen Bundesländer. Es gibt durchaus Produkte des täglichen Bedarfs, die teurer sind als in Deutschland wie beispielsweise Kaffee, aber auch einige Elektrogeräte wie Mixer und Kaffeemaschinen. Generell kosten Lebensmittel wie Fleisch und Fisch weniger als in Deutschland. Jan Kowalski und seiner Familie geht es nicht schlecht, man kommt über die Runden und kann sich sogar das eine oder andere Extra leisten – solange nicht doch womöglich Anna Kowalski ihre Arbeit verliert. Dann würde es knapp werden, denn das polnische Arbeitslosengeld beträgt nur rund 135 Euro.
In den letzten Jahren sind die Kowalskis mehrfach ins Ausland gereist– man hat sich die Welt angesehen. Das ist heute anders, mal fahren sie nach Masuren mal an die polnische Ostseeküste, mal in die Berge das ist billiger und liegt ganz im Trend, 51 Prozent der Polen die in Urlaub fahren machen das so. Die Familienbande sind noch stark in Polen, so verbrachten auch Kowalskis den Sommerurlaub zusammen mit Jan Kowalskis Bruder an der Ostsee in zwei benachbarten Ferienhäuschen.
Die Eltern von Jan Kowalski wohnen in einer kleinen Zweizimmerwohnung in derselben Stadt. Diese ältere Generation ist noch stärker an die Kirche gebunden als Jan Kowalski und seine Familie. Sie halten den Kirchbesuch zwar auch noch für eine wichtige Glaubenspflicht, aber wie die Elterngeneration jeden Sonntag in die Kirche zu gehen, käme Jan Kowalski nicht in den Sinn. Die alten Kowalskis versuchen mit ihren Renten zu überleben, Herr Kowalski senior bekommt kaum mehr als die Durchschnittsrente in Höhe von umgerechnet 315 Euro, seine Frau nur die Mindestrente von 156 Euro. Damit können anspruchslose Senioren in ihrer kleinen Eigentumswohnung zwar überleben, größere Präsente an die Enkel sind aber kaum drin.
Der Alltag beginnt früh in Polen, das ist noch ein Relikt aus sozialistischen Zeiten, als allgemein der Arbeitstag um sieben Uhr früh anfing, in vielen Firmen und Büros ist es aus Gewohnheit dabei geblieben. Lebensmittelläden öffnen vielfach schon um sechs Uhr und manche kleinen Läden aber auch fast alle großen Supermärkte haben rund um die Uhr geöffnet. Auch Jan Kowalskis Tag beginnt um sieben Uhr, seine Frau Anna fängt später an, das Bekleidungsgeschäft, in dem sie arbeitet, öffnet erst um zehn Uhr. Mittagspausen sind in Polen relativ unüblich, wer um sieben anfängt, hat gegen drei Uhr nachmittags Feierabend und erst dann gibt es das warme Mittagessen.
Hala Mirowska in Warschau. Foto: cc_jaime.silva_nc_nd/flicker.com
Hala Mirowska in Warschau. Foto: cc_jaime.silva_nc_nd/flicker.com
Danach ist Zeit für die Hausarbeit und diverse Erledigungen und Einkäufe. Die Kowalskis kaufen Obst und Gemüse grundsätzlich auf dem Markt, wo die Bauern aus der Umgebung ihre frische Waren anbieten. Aber auch die modernen, rund um die Uhr geöffneten Supermärkte sind für die Kowalskis längst Selbstverständlichkeit. Nur die schicken, glitzernden Konsumtempel und Shoppingmalls besuchen sie wegen der Preise eher zum Schauen.
Vieles in Polen ist technisch auf dem allerneuesten Stand, weil schlicht alles neu installiert wird, manche Entwicklungsstufen wurden dabei einfach übersprungen. Geldgeschäfte sind ein Beispiel dafür. Selbst wiederkehrende Zahlungen wie Energiekosten oder die Telefonrechnung wurden bis vor kurzem noch so erledigt: Jan Kowalski geht mit jeder Rechnung extra zur Bank und zahlt den Betrag dort bar ein, was viel Zeit und Wege kostet. Inzwischen ist Onlinebanking und Plastikgeld längst eine Selbstverständlichkeit, Kreditkarten werden in jedem größeren Supermarkt, bei jeder neueren Tankstelle akzeptiert. Und das Bargeld holen die Kowalskis auch nicht mehr vom Schalter ab, sondern im Vorbeigehen draußen am Bankomat.
Manchmal tun die Kowalskis ihren Kindern den Gefallen und beschließen den Einkaufsbummel beim örtlichen McDonalds, dem Treffpunkt der städtischen Jugend. Einer mittlerweile wieder entdeckten polnischen Leidenschaft wird sogar in diesem Tempel westlicher Lebensart ganz selbstverständlich Tribut gezollt: Der Tee erlebt eine Renaissance. War Tee vor der Wende das polnische Getränk, ging die Tendenz nach 1989 stark zum Kaffee, denn Kaffee war westlich, war modern. Nun besinnt man sich wieder auf liebe alten Gewohnheiten, überhaupt achten nicht nur die Kowalskis vermehrt auf polnische Produkte, die wieder gern gekauft werden.
Den Abend beschließt Jan Kowalski ähnlich wie Otto Normalverbraucher im Familienkreise meist vor dem Fernseher. Selbst die Programme sind den deutschen nicht so unähnlich, Kabelfernsehen oder die Satellitenschüssel gehören längst zum Standard. Die Familie isst meist am Couchtisch vor dem Fernseher, abends durchwegs kalt, und dazu gibt es – richtig, Tee.