Der erste russische Präsident Boris Jelzin verwechselte einiges: Weihnachten und Ostern zum Beispiel. Die Religion spielte lange Zeit keine große Rolle im Leben des Staatsmannes. Sie durfte es nicht. Beerdigt wurde er 2007 aber nach russisch-orthodoxem Brauch. Der Wandel "vom Atheisten zum aufrichtig gläubigen Christen", wie ihn der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche bei Jelzin feststellte, vollzieht sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei vielen Russen. Doch nicht nur Christen stellen eine breite Glaubensgemeinschaft im größten Land der Erde dar. Welche Religionsgruppen gibt es überhaupt in Russland? Und wie stehen sie im Verhältnis zum Staat?
Russe gleich orthodox?
Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die steinerne Mutter-Gotteskirche am Krutizkij-Patricharchenhof aus dem 13. Jahrhundert fast 75 Jahre lang eine Bibliothek mit zwei Etagen. Der Sowjetbürger sollte hier in einer ständigen Ausstellung erfahren, wie die Wohnungen der Zukunft aussehen könnten. Das einst Geistliche war dem Weltlichen gewichen. Nun kommt das Geistliche wieder, es erwacht, es verschafft sich Raum in Gesamt-Russland, nicht nur hier im Südosten des Moskauer Zentrums. Pater Dimitrij kämpft mit der Jugend. "Sie sagen, sie seien orthodox, kennen aber den Glauben nicht. Wie denn auch? Die Kommunisten hatten die Religion ja verboten."
Für viele Russen gilt der Spruch: "Russe gleich orthodox". Nach Angaben des russischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM bekennen sich etwa 75 Prozent der 143 Millionen Einwohner im Land zum russisch-orthodoxen Glauben. Etwa fünf Prozent derer, die sich als solche bezeichnen, sind nicht getauft. Der Anteil aktiver Kirchengänger liegt bei maximal zehn Prozent der Bevölkerung. Bei vielen gilt die Aussage, russisch-orthodox zu sein, allerdings nicht als Bekenntnis zur Religiosität, sondern zur russischen Kultur. Sie verstehen die Religion als nationale Tradition, ohne wirklich gelebte Alltags-Religiosität - auch wenn kaum ein Russe auf eine Ikone im Haus, Auto oder im Portemonnaie verzichtet, und sei sie nur im Spielkartenformat. Verboten ist es längst nicht mehr, wie das in Zeiten des Kommunismus war.
Sowjetstaatsgründer Wladimir Lenin war ein Klerikerfeind, der geschasste Priesterseminarist und einstige Generalissimus Josef Stalin ein Verfechter der Idee, der Sowjetbürger brauche kein Erlösungsversprechen für das Jenseits. Die Orthodoxie galt als Stütze des Zarismus und war nach Kräften zu bekämpfen. Dennoch lebte die Glaubensausübung im sowjetischen Russland fort - im Untergrund. Die Kirchen - zumindest die, die nicht zerstört und abgebrannt waren - wurden in Museen oder Lager umfunktioniert während die Ikonen in Kellern lagerten. In den Küchen der Wohnungen aber lasen Priester die Liturgie auf Altkirchenslawisch, einer Version der alten russischen Sprache, die bis heute die Messen in den Kirchen prägt, sie tauften Kinder, verheirateten Paare.
Auch Pater Dimitrij vom Krutizkij-Patriarchenhof erlebte seinen ersten Gottesdienst im Verborgenen. Seine Großmutter hatte ihn mitgenommen. Nun bringt er jungen Russen den Glauben näher, lernt mit ihnen die Gebete, feiert Feste. Auch wenn viele von ihnen gar nicht lange durchhalten. Denn Sitzbänke gibt es in russischen Gotteshäusern nicht. Frauen kommen in langen Röcken und mit Kopftüchern, Kinder können auch auf dem Boden Platz nehmen. Die Priester verstecken sich längst nicht mehr hinter dicken Klostermauern und Ikonostasen, diesen dreitürigen Ikonenwänden, die in jeder orthodoxen Kirche zwischen dem inneren Kirchenschiff und dem Altarraum stehen.
Die Bilanz der orthodoxen Kirche in Russland für die vergangenen 20 Jahre ist beeindruckend: Fast 20.000 Kirchen wurden unter dem letzten Patriarchen Alexij II neu errichtet oder wieder aufgebaut. 1988 zählte die Russisch-Orthodoxe Kirche weniger als 7.000 Pfarreien und um die 20 Klöster, heute sind es 26.600 Pfarreien und 652 Klöster. In Umfragen sprechen die Russen der orthodoxen Kirche das zweitgrößte Vertrauen zu - nach dem Präsidenten. Selbst der russische Kommunistenchef Gennadij Sjuganow kommt nicht drum herum, die Religion zu lobpreisen. Ein Drittel seiner Parteimitglieder gelten als gläubig.
Der Bruch mit der Westkirche
Die Christianisierung des zuvor heidnischen Russlands begann 988 mit der Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir. Die ersten Metropoliten kamen aus Griechenland und Bulgarien. Bereits im 11. Jahrhundert spalteten sich die östlich-orthodoxe und die römisch-katholischen Kirche. Die beiden hatten sich entfremdet, der sogenannten Ostkirche war der Einfluss des katholischen Papstes zu groß geworden. 1054 exkommunizierte Papst Leo IX. den Patriarchen von Konstantinopel. Ende des 16. Jahrhunderts löste sich die Russisch-Orthodoxe Kirche schließlich vom Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Konstantinopel und gründete ihr eigenes Patriarchat in Moskau.
In der Zarenzeit galten strenge Vorschriften für die russisch-orthodoxen Christen, unter anderem war eine Heirat mit einem "Nicht-Christen" verboten. Als 1917 die Kommunisten an die Macht kamen, galt es, die Religion auszurotten. Etwa 40.000 Geistliche wurden zwischen 1918 und 1939 hingerichtet. Von den knapp 80.000 Gemeinden, die 1917 noch existierten, blieben 1941 blieben nur etwa 3.000 übrig.
Heute zählt die Russisch-Orthodoxe Kirche etwa 100 Millionen Mitglieder. Die Kirchenfeste feiern die russisch-orthodoxen Christen fast immer 13 Tage später als die Christen im Westen. Wie auch die weißrussischen, serbischen, ukrainischen und georgischen orthodoxen Christen richten sie sich damit nach dem Julianischen Kalender, eingeführt vom römischen Kaiser Julius Caesar. Als Papst Gregor XIII 1582 den nach ihm benannten Kalender einführte, behielt die orthodoxe Kirche ihre Zeitrechnung bei. Deshalb wird zum Beispiel Weihnachten in Russland erst vom 6. auf den 7. Januar gefeiert.
Auch katholische und evangelische Kirchen finden sich in Russland. Doch machen diese Glaubensgemeinschaften, wie auch das Judentum und der Buddhismus jeweils nur etwa einen Prozent aller Gläubigen im Land aus.
Religiös geprägte Gebiete: Birobidschan, Kalmückien, Burjatien
Im äußersten Fernosten Russlands wurde 1915 die Siedlung Birobidschan gegründet - als autonomes jüdisches Gebiet. Heute leben dort knapp 80.000 Menschen, die meisten von ihnen praktizieren den jüdischen Glauben.
In der Steppe an der Nordwestküste des Kaspischen Meeres gibt es seit 1992 die autonome Republik Kalmückien. Die Kalmücken sind ein mongolisches Volk und praktizieren den buddhistischen Glauben. Etwa die Hälfte der knapp 300.000 Einwohner Kalmückiens geben in Umfragen an sie seien Buddhisten.
An der Grenze zur Mongolei liegt ebenfalls eine autonome Republik, die buddhistisch geprägt ist - Burjatien. Das Gebiet mit etwa einer Million Einwohnern gilt als Zentrum des tibetisch geprägten Buddhismus in Russland. Integration und Assimilation galt in der Sowjetzeit als der einzig gangbare Weg, eine Gesellschaft der Gleichheit zu formen. Die kommunistische Regierung gewann vor allem in den Anfängen der Sowjetunion unter der jüdischen Bevölkerung schnell Sympathien, indem sie den vorherrschenden Antisemitismus der Zarenzeit bekämpfte. Doch die Sympathien gingen schnell verloren. Jüdische Russen waren mit dem Gesetz zur Abschaffung jedes Privateigentums jeglicher wirtschaftlicher Grundlage beraubt. Viele wanderten nach Polen und Rumänien aus. Im Zweiten Weltkrieg kam es zur systematischen Ermordung der Juden, in der Stalinzeit zu Verfolgungen und Zerstörungen von Synagogen. Wie auch die russisch-orthodoxen Gläubigen durften Juden, Buddhisten und Muslime ihren Glauben nicht ausüben.
Islam in Russland
Zu den traditionellen Religionen in Russland gehört auch der Islam. In manchen Regionen, vor allem im Nordkaukasus ist er seit mehr als 1.300 Jahren beheimatet. Der Fischer Weltalmanach geht von 14 Prozent Muslimen im Land aus, das russische Meinungsforschungsinstitut WZIOM spricht von etwa fünf Prozent aller Einwohner im Land, die den muslimischen Glauben ausüben. Als "islamische Hauptstadt" Russlands gilt die Stadt Kasan in der russischen Republik Tatarstan, etwa zwölf Zugstunden von Moskau entfernt. In der Stadt leben etwa 500.000 Muslime. Dort symbolisieren die Kathedrale der Kremlfestung und die daneben stehende und mit Geldern aus der gesamten islamischen Welt finanzierte Glitzermoschee das friedliche Miteinander der Religionen.
Die meisten Muslime leben aber im Kaukasus, in Dagestan, Inguschetien, Tschetschenien, Kabardino-Balkarien und Nordossetien. In Moskau sind etwa zwei Millionen Muslime zu Hause - ihnen stehen lediglich vier Moscheen zur Verfügung. Zu muslimischen Feiertagen versammeln sich die Gläubigen auf den Straßen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und sorgen damit regelmäßig für erhebliche Verkehrsbehinderungen. Im Nordkaukasus kommt es immer wieder zu islamistischen Terroranschlägen. Seit mehreren Jahren regiert dort eine islamistische Rebellengruppe, die sich "Kaukasus Emirat" nennt. Genau ein solches will sie errichten - vom Kaspischen bis zum Schwarzen Meer. Fast täglich werden in Dagestan und Inguschetien Anschläge verübt. In Tschetschenien regiert der Regionalfürst Ramsan Kadyrow. In seiner Republik wurden bereits mehrere Menschenrechtler umgebracht. Beobachter kritisieren das Gebiet als rechtsfreien Raum. Moskau lässt Kadyrow gewähren und unterstützt Tschetschenien finanziell.
Macht der Kirche, Macht des Staates
Laut russischer Verfassung von 1993 ist Russland ein säkulares Land. Doch die Trennung von Kirche und Staat gerät auf beiden Seiten zuweilen in Vergessenheit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Kirche die einzige gesellschaftliche und geistige Institution die auch Panzer für den Tschetschenienkrieg segnen ließ - ein Garant des Zusammenhalts. Die Russisch-Orthodoxe Kirche biedert sich dem Staat an, die Regierung lässt es sich gefallen. Der Staat nutzt die Kirche vor allem als Herrschaftsinstrument und als Bühne für einen traditionsbewussten Nationalismus.
Die Wahl Wladimir Putins zum Präsidenten des Landes wurde 2000 in einem Gottesdienst gefeiert. Auch sein Nachfolger Dmitrij Medwedew ließ sich vom Patriarchen segnen, wenn auch sein Glaubensbekenntnis weniger feurig ausfiel. Unterdessen ist es Mode geworden, dass der oberste Patriarch - er heißt Kirill - bei allen wichtigen politischen Anlässen neben den Staatsmännern auftritt.
Wenn Geschäftsleute etwas Gutes tun wollen, stiften sie in der Provinz eine Kapelle. Doch der reale Einfluss der Kirche bleibt begrenzt. Der Staat hilft ihr nur, wenn es dem eigenen Vorhaben nutzt. Der jahrelange Wunsch der orthodoxen Priester nach religiösem Pflichtunterricht in der Schule wurde bisher nicht erfüllt. Zu sehr muss die russische Führung auf die Balance zu anderen Konfessionen achten.
Also nutzt die Kirche andere Plattformen. Unlängst hat der Patriarch einen YouTube-Kanal geschaltet. Seit 2005 geht der russisch-orthodoxe Fernsehsender "Spas" (Rettung) auf Sendung, mittlerweile rund um die Uhr. Nun zieht auch der Mufti-Rat nach und will ab Frühling 2011 ebenfalls einen eigenen Fernsehkanal starten.