Einleitung
Die türkische Außenpolitik durchlief seit der Ausrufung der Republik 1923
Atatürk legte sich daher auf eine dauernde Neutralität
Westbindung der Türkei
Während die formale Kriegserklärung der Türkei an das Deutsche Reich im Februar 1945 noch als notwendiger symbolischer Akt der internationalen Staatengemeinschaft angesehen werden konnte
Die geopolitische Lage des Landes verschaffte der Türkei eine große Bedeutung innerhalb der Verteidigungsstrategie der NATO. In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich die Türkei im westlichen Verteidigungssystem und der eingeschlagene Weg verfestigte sich 1963 noch weiter mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)
Bis in die 1960er-Jahre hinein war die türkische Außenpolitik ausschließlich an die Interessen der westeuropäischen Staaten gebunden. Die prowestliche Außenpolitik Ankaras isolierte die Türkei jedoch zugleich in der arabischen Welt
Strategie der zweieinhalb Kriege
Die klassische türkische Außenpolitik war bisher geprägt von einer "status-quo-orientierten"
Der vermutlich wichtigste Veränderungsprozess in der türkischen Außenpolitik begann mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Das bisher bipolare globale System veränderte sich und mit ihm verlor die Türkei ihre strategische Bedeutung in der internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere für die europäische Sicherheitspolitik. Dieser Prozess brachte die türkischen Eliten zunächst in eine schwierige Situation, da damit das anatolische Land von Konfliktgebieten umgeben war. Udo Steinbach stellte dazu fest: "Die Türkei ist geographisch, ethnisch oder politisch mit den Problemen des Iraks, Irans, Armeniens, Aserbaidschans, Zyperns, Griechenlands, Bulgariens, Russlands, Syriens und des islamischen Fundamentalismus verbunden. Was den Türken noch fehlt, ist eine Grenze mit Tschetschenien. Die türkische Außenpolitik ist ein Alptraum von 360 Grad."
Die Türkei verfolgte in den 1990er Jahren eine aktivere Außenpolitik auf dem Balkan, im Kaukasus und in Zentralasien als in den 70 Jahren zuvor. Durch den Zerfall der Sowjetunion entstanden in den oben genannten Regionen zahlreiche neue Staaten, die die Türkei von Beginn an als verlässlicher und hilfsbereiter Partner unterstützte. Die türkische Außenpolitik erweckte keinesfalls den Eindruck imperialistische, kolonialistische oder panosmanische Interessen zu hegen, sondern lediglich im Transformationsprozess behilflich zu sein. In der Balkanpolitik wollte sie keine osmanischen Ressentiments schüren und nahm Abstand von unilateralen Initiativen. Durch diese Politik der Zurückhaltung und Bündnistreue erreichte die Türkei einen Vorteil gegenüber der passiven Haltung Griechenlands.
Die außenpolitischen Konstanten jener Zeit waren die angestrebte Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union, die Zugehörigkeit zum Verteidigungsbündnis NATO und die Ablehnung der Gründung eines eigenständigen kurdischen Staates
Im Kaukasus und in Zentralasien verfolgte Ankara eine auf Kooperation und Zusammenarbeit ausgerichtete Außenpolitik. Schnell wurden die neugegründeten Staaten politisch und diplomatisch anerkannt. Ankara gewährte zudem Kredite und andere finanzielle Hilfen.
Die Türkei erreichte somit von Beginn an enge Kontakte zu den nun unabhängigen Turkstaaten. In den Jahren zwischen 1995 und 2000 versuchte die Türkei ihren Einfluss auf die Staaten des Kaukasus und Zentralasiens weiter auszubauen, was zu diplomatischen Verstimmungen mit Russland führte. Es blieb nicht aus, dass die türkische Außenpolitik einige Rückschläge und Enttäuschungen hinnehmen musste, weil die politischen Erfahrungen und Einflussmöglichkeiten ebenso begrenzt waren, wie die wirtschaftlichen Ressourcen nicht ausreichten, um eine bedeutende Regionalmacht zu sein
"zero problem policy"
Mit der Regierungsübernahme der Interner Link: AKP 2002 (Adalet ve Kalkınma Partisi) wurde der außenpolitische Fokus neu justiert. Zu lange dauerte bereits der langersehnte Beitrittsprozess zur Europäischen Union. Die mehrheitlich negative Haltung der Europäer gegenüber einem Beitritt der Türkei hat die anfängliche EU-Euphorie in der türkischen Gesellschaft inzwischen verpuffen lassen. Standen im Frühjahr 2005 noch 70,2 Prozent der Türken einer EU-Mitgliedschaft ihres Landes positiv gegenüber, befürworten 2014 nur noch 38 Prozent einen Beitritt zur Europäischen Union
Die europäische Ablehnung und die starken globalen Veränderungen in Fragen der Sicherheitspolitik nach dem 11. September 2001 veranlassten die AKP-Regierung einen strategischen Ansatz zu entwickeln, der darauf abzielte, die brisante geografische Lage der Türkei als politischen Vorteil in den internationalen Beziehungen zu nutzen. Gülistan Gürbey analysierte, dass "der frühere 'Flankenstaat' […] zum 'Frontstaat' [wurde]"
Der damalige Außenminister und heutige Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu sagte 2009, dass die Türkei zu ihrer "eigenen historischen und geographischen Identität zurückfindet" und empfahl, ein "ausgewogenes Verhältnis zu allen globalen und regionalen Akteuren anzustreben", einschließlich starker wirtschaftlicher Beziehungen mit allen regionalen Nachbarstaaten
Als sich 2006 die Krise zwischen Israel und dem Libanon zuspitzte, bat der damalige libanesische Ministerpräsident Fuad Siniora Erdoğan um Hilfe. Dieser telefonierte in den folgenden zwei Tagen mit US-Präsident George Bush, UN-Generalsekretär Kofi Annan, dem britischen Ministerpräsidenten Tony Blair, dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Nicht viele Regierungen verfügten über diese Kontakte, um in diesem Konflikt hilfreich vermitteln zu können. Davutoğlu sagte anlässlich des Bergedorfer Gesprächskreis: "Die Türkei fühlt den Puls zweier Welten schlagen, der westlichen und der islamischen."
Die bisher traditionell guten Beziehungen zwischen der Türkei und Israel verschlechterten sich seit Erdoğans vielbeachteten Auftritt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Jahr 2009. Öffentlich vertrat der damalige Ministerpräsident vehement die Interessen Palästinas gegenüber dem israelischen Staatspräsidenten Simon Peres. Es folgte der Eklat um die Mavi Marmara, die gemeinsam mit fünf weiteren Hilfsschiffen die israelische Seeblockade nach Palästina durchbrechen wollte, um den Menschen Lebensmittel, Medikamente und andere Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen. Die israelische Armee brachte die Schiffe auf, neun türkische Aktivsten starben. In der Folge zog Ankara den Botschafter aus Tel Aviv ab, verwies den israelischen Botschafter des Landes, Militärabkommen wurden aufgekündigt und die türkische Generalstaatsanwaltschaft erhob Anklage gegen führende israelische Militärs.
Seit dem Arabischen Frühling im Dezember 2010 veränderte sich die gesamte arabische Welt und der Nahe Osten. Diese Veränderungen hatten und haben auch enormen Einfluss auf die zero problem policy der Türkei. In Folge der politischen Proteste in Syrien, die in einem bis heute noch andauernden Bürgerkrieg mündeten, kam es zum Zerwürfnis zwischen Ankara und Damaskus, die in einigen militärischen Scharmützeln ihren bisherigen Höhepunkt fanden. Auch die Beziehungen zu Armenien haben sich nicht nachhaltig verbessert, dafür haben sich die traditionell ausgezeichneten Beziehungen zu Aserbaidschan deutlich abgekühlt, seitdem die Türkei eine Annäherung an Armenien auf Kosten des Bergkarabach-Konfliktes versuchte. Mit dem Irak und den kurdischen Autonomieregionen im Irak und in Syrien kommt es auch immer wieder zu Problemen entlang der Grenze. Insbesondere die Passivität der türkischen Regierung während der Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobane durch Kämpfer des IS machte die kurdische Minderheit in der Türkei wütend. Der Friedensprozess mit der PKK könnte dadurch gefährdet werden
Schlussbetrachtung
Eine dynamische und aktive Diplomatie als Reaktion auf eine sich rapide verändernde globale und regionale Umgebung ist der Ansatz, wie Ankara seine Rolle als Regionalmacht weiter ausbauen möchte. Der damalige außenpolitische Berater Ahmet Davutoğlu vermittelte 2012 zwischen Syrien und Israel sowie zwischen Bosnien und Serbien
Die Türkei nimmt immer mehr die Rolle als Regionalmacht an und füllt diese auch aus. Wenn auch die Konstante der türkischen Außenpolitik (Anstreben einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union) offiziell unverändert bleibt, so sind jedoch ein Paradigmenwechsel und eine sukzessive Verschiebung der Prioritäten in den türkischen Außenbeziehungen feststellbar.
Im April 2014 ertönen allerdings ganz andere Stimmen aus dem Umfeld des Staatspräsidenten Erdoğan. Erdoğans wirtschaftspolitischer Berater Yiğit Bulut schrieb in seiner Kolumne für die Tageszeitung Star: "Wir (die Türkei) haben keinen Bedarf uns Europa anzunähern." Die Türkei sei von Europa über Jahre benutzt, gedemütigt und von oben herab behandelt worden. Der neue Westen seien die USA. "Wir brauchen Europa nicht mehr, und die Verbindungen nach Europa könnten für uns zu einer Last werden", schrieb Bulut. Die Türkei sollte deshalb "die Beziehung zu Europa so schnell wie möglich beenden". Eine solche Haltung könnte eine Reihe von Gefahren für die Türkei bergen, allerdings auch für die Europäische Union und deren Interessen in der islamischen Welt.
Die Türkei ist die derzeit einzige wirkliche Regionalmacht im Nahen Osten, die die wirtschaftliche und militärische Macht zur Führung hat. Die strategischen Partnerschaften in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur werden sich nachhaltig für Ankara auszahlen. Ankara wird in den nächsten Jahren weiter an Einfluss in der arabischen Welt, auf dem Balkan, im Kaukasus, in Zentralasien und in Nordafrika gewinnen. Die Türkei könnte ein sehr wichtiges Element in der europäischen Nahostpolitik sein, die oft zitierte Brücke zwischen der christlichen und der islamischen Welt. Allerdings sollte die Europäische Union sich beeilen, der Türkei die erwartete Wertschätzung entgegenzubringen, ansonsten wird sich die Türkei weiter von der EU emanzipieren oder vielleicht sogar distanzieren. Spannend bleibt, wie der neue Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu mit den Konfliktfeldern seines Ressorts umgehen wird. Bei der aktuellen Türkei-Politik der EU könnte die AKP-Regierung nach Einschätzung einiger Experten über kurz oder lang die Beendigung der Beitrittsverhandlungen bekanntgeben.
Welche Entwicklung die türkische Außenpolitik nehmen wird, hängt aktuell sehr stark davon ab, wie nach der Parlamentswahl im Juni 2015 die Koalitionsgespräche verlaufen und welche Parteien die Regierung der Türkei stellen werden. Die AKP hat zum ersten Mal seit 2002 keine absolute Mehrheit mehr im Parlament und muss einen Koalitionspartner wählen.