Seit dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016, bei dem 249 Zivilisten ums Leben kamen, sind im bis heute andauernden Ausnahmezustand an die 150.000 Staatsbedienstete entlassen oder freigestellt worden. Über 50.000 Personen wurden festgenommen, 370 türkische NGOs und rund 150 Medien geschlossen sowie über 100 Journalisten verhaftet, unter ihnen auch die preisgekrönten Journalisten Ahmet Şık und Ahmet Altan; Altan wurde im Februar 2018 gar zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Verhaftung des Journalisten Ahmet Şık im März 2011 in Istanbul. Wegen seiner Recherchen über die Unterwanderung des Staates durch die Gülen-Gemeinde, wurde Şık damals verhaftet - 2012 wurde er freigelassen. Im Dezember 2016 wurde er erneut verhaftet: Nun wirft ihm die Anklage unter anderem die Mitgliedschaft in der Gülen-Gemeinde vor. (© picture-alliance)
Verhaftung des Journalisten Ahmet Şık im März 2011 in Istanbul. Wegen seiner Recherchen über die Unterwanderung des Staates durch die Gülen-Gemeinde, wurde Şık damals verhaftet - 2012 wurde er freigelassen. Im Dezember 2016 wurde er erneut verhaftet: Nun wirft ihm die Anklage unter anderem die Mitgliedschaft in der Gülen-Gemeinde vor. (© picture-alliance)
Die Justiz ist stark politisiert und scheint nicht mehr unabhängig von der türkischen Regierung zu agieren. Eine freie, unabhängige Urteilsfindung bei den Prozessen gegen verhaftete Regimekritiker ist im türkischen Rechtssystem daher kaum noch vorstellbar.
Der Putschversuch als Katalysator für den Staatsumbau
Der gescheiterte Putsch bietet Staatspräsident Erdoğan seit 2016 die Gelegenheit, Staat und Gesellschaft schneller als bisher nach seinen Vorstellungen zu transformieren und einen neuen Nationalmythos zu manifestieren: Die Propagierung bizarrer Verschwörungstheorien über das Ausland
Bildungspolitik: weniger Wissenschaft, mehr Religion
Dabei spielt die Islamisierung in der Bildung eine wichtige Rolle: So wurde Mitte 2017 die Evolutionstheorie aus den türkischen Lehrplänen entfernt. Im Religionsunterricht wird hingegen zukünftig über die "Scharia" und den "Dschihad" gelehrt und an allen Schulen werden obligatorisch nach Geschlechtern getrennte Gebetsräume eingerichtet.
Wissenschaft: ein Land verliert seine klügsten Köpfe
Dem kritischen Denken und Forschen werden unter der AKP-Regierung Grenzen gesetzt. Über 8.000 Professoren und Akademiker haben ihre Arbeit verloren, darunter viele renommierte Wissenschaftler, die den Friedensaufruf zur Lösung der Kurdenfrage "Academics for Peace" unterstützten. Statt auf Qualifikation zu setzen, ist hier die Loyalität und Unterwürfigkeit gegenüber dem Erdoğan-Regime maßgeblich. Ein Braindrain der klügsten Köpfe der Türkei ist bereits im vollen Gange, das Land blutet akademisch aus.
Allein bei der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung, die weltweit verfolgten Wissenschaftlern in Deutschland Schutz bietet, führen die aktuell 40 nominierten türkischen Stipendiaten (von insgesamt 56) die Spitze der Stipendiatenliste an. Auch der deutsch-türkische akademische Austausch ist mit Blick auf die Sicherheitslage in der Türkei stark rückläufig: Für 2017 erwartet die Türkei nach Schätzungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) rund 50 Prozent weniger Erasmus-Studenten aus Deutschland.
Türkische Wirtschaft auf Messers Schneide
Trotz politischer Instabilitäten wuchs die Wirtschaft in der Türkei nach Angaben des türkischen Statistikamts TÜIK im zweiten Quartal 2017 um 5,1 Prozent.
Zudem bestehen die Strukturprobleme des Landes weiterhin fort: das Leistungsbilanzdefizit ist groß, die Produktivität niedrig und die Wertschöpfung gering und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit mit 20 Prozent plagt das Land.
Kulturleben: die große Party-Sause ist vorbei
Im Bereich der Kunst und Kultur sind die Veränderungen ganz besonders in der Kulturhauptstadt des Jahres 2010 und früheren Partymetropole Istanbul zu spüren
In den Musiker- und Szenevierteln Beyoğlu und Beşiktaş leidet die westlich orientierte Musikszene daran, dass sie z. B. keine Genehmigungen mehr für ihre Veranstaltungen erhält und Konzerthallen schließen muss. An staatlichen Theatern existieren Repressionen und politische Kontrollen weiter, kritische Schauspieler müssen um ihren Job fürchten.
Kinder, Frauen und Homosexuelle: ein trauriges Kapitel
Nach Angaben des türkischen Justizministeriums sitzen 2017 insgesamt 2.578 Minderjährige im Gefängnis (eine Steigerung um 26 Prozent seit der Regierungsübernahme der
In der AKP-regierten Türkei stieg in den letzten fünf Jahren aber auch die Gewalt gegenüber Frauen weiter an; während 210 Frauen im Jahr 2010 durch männliche (Partnerschafts)-Gewalt ermordet wurden, fielen 2016 bereits 328 Frauen zum Opfer dieser Gewalt.
Zunehmend haben Homo-, Bi-, Inter- und Transsexuelle einen schweren Stand in der Türkei. Obwohl die "Gay-Pride" in Istanbul von 2003 bis 2014 stets friedlich verlief, endete sie in den letzten Jahren durch Demonstrationsverbote und Polizeieinsätze immer wieder blutig.
Minderheiten als Gefahr für die türkische Nation
Bis heute gibt es im Nationenverständnis der Türkei keinen Platz für eigenständige Minderheiten. Der Begriff "Minderheit" (im Türkischen "azınlık") ist negativ konnotiert.
Der armenischstämmige Abgeordnete Garo Paylan (
Der armenischstämmige Abgeordnete Garo Paylan (
Diese Minderheiten wie Kurden, Aleviten und Armenier werden auch heute noch als "Spalter" und "Vaterlandsverräter" und als Gefahr für die türkische Nation betrachtet.
Auch die Situation der christlichen Glaubensgemeinschaften hat sich in den vergangenen Jahren nicht verbessert. Unter anderem versuchte der türkische Staat vergeblich bereits konfiszierte Kirchen und Klöster der Aramäer in Südostanatolien in den Besitz der türkischen Religionsbehörde Diyanet zu übertragen.
Bewaffnung der Bevölkerung: ein Land rüstet auf
Besorgniserregend ist zudem die Bewaffnung der Bevölkerung. Nach Angaben der Polizei ist jeder vierte türkische Bürger ein Schusswaffenbesitzer; von den sich im Umlauf befindenden 20 Millionen Schusswaffen sind allerdings nur rund 700.000 genehmigt.
Türkische Außenpolitik: vom aufsteigenden Stern zum Problemverursacher
Nachdem die Türkei sich 2010 von ihrer Außenpolitik der friedlichen Beziehungen zu allen Nachbarstaaten verabschiedet hatte und unmittelbar nach Ausbruch des Arabischen Frühlings zu einer ideologisch ausgerichteten sunnitisch-islamischen Außenpolitik überging, begann auch der internationale Abstieg Ankaras. Mit dem Wechsel von einer dialogorientierten soft power- zu einer militaristischen hard power-Strategie entwickelte sich die Türkei auch von einer aufstrebenden Regionalmacht zu einem unberechenbaren und unzuverlässigen Problemland.
Deutschland hat bereits aufgrund der Provokationen aus der Türkei eine härtere Gangart gegenüber Ankara angekündigt und will seine Türkeipolitik neu ausrichten. Der Wahlboykottaufruf des türkischen Staatschefs an deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft bei der Bundestagswahl nicht die CDU, SPD und Grüne zu wählen, die über die Türkei angeordnete Festnahme des Kölner Schriftstellers Doğan Akhanlı in seinem Urlaub in Spanien und die türkische Reisewarnung gegenüber Deutschland, haben zusätzlich Öl ins Feuer der deutsch-türkischen Beziehungen gegossen.
Mit den USA gibt es bezüglich der türkischen Interventionen in Syrien und den Feindseligkeiten gegenüber den syrischen Kurden ebenso Streit, auch die Übergriffe türkischer Leibwächter Erdoğans gegen Journalisten und Demonstranten in Washington (März 2016/Mai 2017) haben für große Verwerfungen im US-amerikanisch-türkischen Verhältnis gesorgt. Mittlerweile hat die US-Justiz Anklage gegen die an den Prügeleien beteiligten Personenschützer von Erdoğan erhoben. Auch gegen einen ehemaligen Minister von Erdoğan hat die US-Justiz einen Haftbefehl wegen der Verwicklung in einen internationalen Korruptionsskandal ausgesprochen.
Während mit Russland durch den türkischen Kauf eines russischen Raketenabwehrsystems die Beziehungen gestärkt werden sollen, wird die Türkei hingegen im Nahen Osten längst nicht mehr als ein Modelland gesehen und verprellt aufgrund ihrer einseitigen Katar-Politik andere Regionalmächte wie Ägypten und Saudi-Arabien.
Als "outlaw states" hätte der US-amerikanische Philosoph John Rawls in seinem vielzitierten Werk "Das Recht der Völker" solche Länder wie die Türkei bezeichnet, die freundschaftliche Beziehungen zerstören, sich von Feinden umzingelt fühlen, permanent aggressiv in ihrer Außenpolitik auftreten und Menschenrechten keine Bedeutung schenken.
Ein neuer Präsident 2019: gibt es Hoffnung?
Mit 51,4 Prozent Ja-Stimmen zu 48,6 Prozent Nein-Stimmen ist das Verfassungsreferendum 2017 nur knapp für die AKP ausgegangen. Junge Wähler (18-24 Jahre), städtische und gebildete Bevölkerungsteile haben gegen den geplanten Ein-Mann-Staat von Erdoğan gestimmt. Das macht zunächst Hoffnung.