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Die Kommunalwahlen 2019 | Türkei | bpb.de

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Die Kommunalwahlen 2019

Dr. Yaşar Aydın

/ 11 Minuten zu lesen

"Istanbul ist eine Liebesgeschichte für uns". So stand es unter Erdogans Konterfei auf allen AKP-Transparenten in Istanbul. Zweifelsfrei misst der türkische Staatspräsident und Vorsitzende der Regierungspartei AKP der Metropolstadt am Bosporus große Bedeutung zu: "Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei", betonte er immer wieder während der Wahlkampagne.

Mit dem Slogan "Istanbul - eine Liebesgeschichte" hob die AKP bereits im Wahlkampf die Bedeutung Istanbuls deutlich hervor. (© picture-alliance, NurPhoto)

In Istanbul leben knapp 20 Prozent der türkischen Bevölkerung, hier schlägt der Puls der türkischen Industrie und der Finanzwelt, hier ragen die prachtvollsten Moscheen und Wolkenkratzer empor. Istanbul steht wie keine andere Stadt für das Miteinander der Moderne und Tradition, des Säkularismus und Islam. Als Istanbuler Bürgermeister begann Recep Tayyip Erdoğan 1994 seinen Aufstieg an die Spitze der Türkei. All das sind wohl Gründe dafür, dass der türkische Staatspräsident und seine Partei eine Niederlage in Istanbul nicht akzeptieren.

Nach 25 Jahren AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) schienen einige Tage nach der Kommunalwahl vom 31. März 2019 die säkular-linke CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, deutsch: Republikanische Volkspartei) und ihr Spitzenkandidat Ekrem İmamoğlu mit einem knappen Sieg von nur 24.000 Stimmen die Macht in Istanbul zu übernehmen. Die AKP focht das Ergebnis allerdings an. Nachdem der Hohe Wahlausschuss eine komplette Neuauszählung der Stimmen in Istanbul untersagte, hieß es, Erdoğan strebe Neuwahlen an.

Am Abend des 6. Mai wurde dann bekannt, dass sich der Hohe Wahlausschuss dem Druck gebeugt hat und die Wahl in Istanbul tatsächlich wiederholt werden soll. Als offizieller Grund wird angegeben, dass zahlreiche Mitglieder der Wahlräte – also der Gremien, die die Wahl überwachen und anschließend die Stimmen auszählen – keine Beamten gewesen seien, wie es das Wahlgesetz seit dem vergangenen Jahr aber vorschreibt. Auch will die Kommission festgestellt haben, dass zahlreiche Wahlhelfer der Gülen-Gemeinschaft nahestehen, die die Türkei für den gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich macht.

Abkürzungen türkischer Parteien

AKP Adalet ve Kalkınma PartisiPartei für Gerechtigkeit und Entwicklung
BBP Büyük Birlik PartisiPartei der großen Einheit
BTP Bağımsız Türkiye PartisiPartei für eine unabhängige Türkei
CHP Cumhuriyet Halk PartisiRepublikanische Volkspartei
DP Demokrat PartiDemokratische Partei
DSP Demokratik Sol PartiDemokratische Linkspartei
HDP Halkların Demokratik PartisiDemokratische Partei der Völker
Hüda Par Hür Dava PartisiPartei der gerechten Sache
İP İyi PartiGute Partei
MHP Milliyetçi Hareket PartisiPartei der Nationalistischen Bewegung
SP Saadet PartisiPartei der Glückseligkeit
TKP Türkiye Komünist PartisiKommunistische Partei Türkei
VP Vatan PartisiVaterlandspartei


İmamoğlu – der neue Politstar der Opposition

Der neugewählte Bürgermeister von Istanbul Ekrem İmamoğlu (CHP) winkt seinen Anhängern zu, 12.04.2019. (© picture-alliance, AA)

Ekrem İmamoğlu, der Spitzenkandidat der CHP in Istanbul und nun eigentlich gewählter Oberbürgermeister der Metropole stammt aus einer Kleinunternehmerfamilie aus der Provinz Trabzon am Schwarzen Meer. Bevor er 2014 Bürgermeister des Istanbuler Bezirks Beylikdüzü wurde führte er das Bauunternehmen seiner Familie und war zeitweilig im Vorstand des Süper Lig-Fußballclubs Trabzonspor aktiv. Nach einer erfolgreichen Amtszeit nominierte ihn der CHP-Vorsitzende Kılıçdaroğlu zum Kandidaten für den Posten des Großstadtbürgermeisters von Istanbul.

Hoffnungen weckte İmamoğlu unter moderaten Linken, den Anhängern Atatürks und vielen säkular urbanen Milieus. Doch auch religiös-konservativen Wählern begegnete der CHP-Politiker mit Empathie und Respekt. So nahm er während seiner Wahlkampagne an einer religiösen Gedenkzeremonie für die in Neuseeland ermordeten Muslime in der Istanbuler Eyüp-Sultan-Moschee, ein Pilger- und Besuchsort gläubiger Türken, teil. Dort rezitierte er aus dem Koran. Die Botschaft seiner Geste an die religiösen Wähler: "Auch ich stamme wie ihr aus einer religiösen Familie". Diese Art der religiösen Positionierung ist für CHP-Politiker eher ungewöhnlich.

Auch den Zuspruch der Kurden konnte İmamoğlu gewinnen. Insgesamt gelang es ihm, mit einer positiv, nichtausgrenzenden Rhetorik Stimmen auch jenseits linker Milieus für sich zu gewinnen. Als möglicher neuer Bürgermeister der größten Metropolstadt in der türkischen politischen Landschaft steht er nun hoch im Kurs und wird bereits als Herausforderer Erdoğans bei der Präsidentschaftswahl 2023 gehandelt.

AKP verliert auch Ankara

Stimmzettel zur Kommunalwahl in Ankara 2019 (© picture-alliance, AA)

Bei den Kommunalwahlen lag ein besonderes Augenmerk neben Istanbul auch auf Ankara. In der Hauptstadt konnte sich der CHP-Politiker Mansur Yavaş mit knapp 51 Prozent der gültigen Stimmen gegen seinen Widersacher Mehmet Özhaseki von der AKP durchsetzen. Erdoğans politische Zukunft stellen diese Ergebnisse infrage: Mit der Übernahme der Rathäuser in Istanbul und Ankara – mehr als ein Viertel der türkischen Bevölkerung lebt in den beiden Städten – hätte die Opposition mächtige Werkzeuge in die Hände gelegt bekommen, gleichzeitig wäre die wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der AKP stark eingeschränkt. Denn insbesondere über die Stadtverwaltungen der Metropolkommunen schaffte es die regierenden AKP in den vergangenen Jahren ihre Wählerbasis zufriedenzustellen. Kommunen sind in der Türkei von großer Bedeutung, weil dort Entscheidungen getroffen werden, die die Lebensqualität, wirtschaftliche Situation und politische Partizipation der Bürger konkret betreffen.

Mit der lokalen Wirtschaftspolitik hängt auch ein anderer Aspekt zusammen: Seit Jahren bestehen starke Korruptionsvorwürfe gegen AKP-Politiker in den Großstädten. Öffentliche Aufträge sollen unter der Hand vergeben worden sein und nicht durch faire Vergabeverfahren. Nach einem Machtwechsel hätte die bisherige Opposition nun die Gelegenheit, den Korruptionsvorwürfen gegen AKP-Politiker nachzugehen. Die Legitimationserosion und den Machtzerfall des Regierungslagers könnte das beschleunigen.

Die AK Partei bleibt aber stärkste politische Kraft

Trotz der Ergebnisse in Istanbul und Ankara konnte sich die "Volksallianz" – das Bündnis AKP und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, deutsch: Partei der Nationalistischen Bewegung) – mit landesweit knapp 52 Prozent der gültigen Stimmen bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 behaupten. Verglichen mit der letzten landesweiten Wahl, der Parlamentswahl 2018, konnte das oppositionelle Bündnis, die "Allianz der Nation" – säkular-linke CHP und national-konservative İP (İyi Parti, deutsch: Gute Partei) – seinen Stimmenanteil jedoch um über drei Prozentpunkte ausbauen.

Kommunalwahlen in der Türkei 2019 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die CHP konnte nicht nur ihren Stimmenanteil, verglichen mit der Parlamentswahl 2018, um über 7 Prozent ausbauen, zudem konnte die Partei erstmals seit 1978 auch wieder die 30-Prozent-Marke überschreiten. Überraschend ist das aber nicht: Die CHP hat in den vergangenen Wochen eine kluge Kampagne umgesetzt und anstatt mit ausgrenzender vielmehr mit inklusiver Rhetorik geworben. Auch damit ist Wählerwanderung von der pro-kurdisch linken HDP zu CHP zu erklären. Schließlich fanden die Kommunalwahlen – ähnlich wie im Jahr 2009 – in einem aus Sicht der Regierung wirtschaftlich ungünstigen Moment statt.

Wirtschaftlicher Kontext: Inflation, Währungsverfall und Rezession

Seit Spätsommer 2018 befindet sich die türkische Wirtschaft in einer Talfahrt. Das Wachstum ist im vierten Quartal 2018 gegenüber dem Vorjahr um drei Prozent geschrumpft. Die Nachfrage privater Haushalte ging sogar um 8,9 Prozent zurück. Spitzenreiter ist dabei der wachstumsstarke Bausektor, der bisher eine der tragenden Säulen des türkischen Wirtschaftswachstums war: Dort war der Rückgang mit minus 8,7 Prozent am stärksten.

Um das Ausmaß des Niedergangs zu verdeutlichen: Noch im dritten Quartal 2017 betrug die Wachstumsrate 11,5 Prozent. Auch im ersten und zweiten Quartal 2018 waren die Wachstumsraten mit 7,4 beziehungsweise 5,3 Prozent noch beachtlich. Wie ist dieser Niedergang zu erklären?

Den Anstoß gab dafür der Kursverfall, der sich im Sommer 2018 beschleunigte, wofür die Notenbank verantwortlich war: Sie hielt die Zinsen auf Druck von Staatspräsident Erdoğan viel zu lange viel zu niedrig. Der Verzicht auf Zinserhebung in der regulären Sitzung der Zentralbank am 24. Juni 2018 beschleunigte den Kursverfall weiter. Diese Sitzung war aus zwei Gründen sehr wichtig: erstens war sie die erste Sitzung nach der Parlamentswahl im Juni 2018; zweitens erwarteten die türkische und internationale Wirtschaftswelt von ihr eine deutliche Zinserhöhung. Deren Ausbleiben hat Enttäuschung hervorgerufen und Hoffnungen auf eine wirtschaftspolitische Kursänderung der Regierung zunichte gemacht.

Als sich Anfang August 2018 die diplomatischen Spannungen mit den USA zuspitzten und Präsident Trump per Twitter ankündigte, Strafzölle auf türkische Güter erheben zu wollen, stieg die schon lange anhaltende Inflation an und die Entwertung der türkischen Währung, die bereits seit 2013 im Gange war, wurde rasanter.

Staatspräsident Erdoğan hatte bisher auf niedrige Zinsen bestanden, weil sie für hohes Wirtschaftswachstum sorgten. Doch die Strategie hatte auch eine Kehrseite: Unternehmer und Privathaushalte verschuldeten sich immer mehr aufgrund des billigen Geldes. Die massive Entwertung der türkischen Lira im Sommer 2018 brachte die in Fremdwährung verschuldeten privaten Haushalte und Unternehmer in große Schwierigkeiten. In den zurückliegenden Monaten kletterte die Inflation weiter auf bis 25 Prozent, die Arbeitslosigkeit wuchs auf über 13 Prozent, die Binnennachfrage wie auch die Industrieproduktion schrumpften, der Vertrauensindex der Gesamtwirtschaft sackte ab und die Devisenreserven der türkischen Zentralbank schmolzen dahin. Auch wenn die Wachstumszahlen für das erste Quartal 2019 noch nicht vorliegen, deuten die aufgezählten Indizien auf eine tiefe Rezession der türkischen Wirtschaft hin. Dass trotz des wirtschaftlichen Niederganges und schlechten Managements der Staatsführung, die Regierungspartei ihren Stimmenanteil im Vergleich zur Parlamentswahl 2018 ausbauen konnte, zeigt ihre nach wie vor starke Verankerung in der türkischen Bevölkerung.

Polarisierung als Mittel der Wählermobilisierung

Für demokratische Debatten und einen fairen Wahlkampf gab es im Vorfeld der Kommunalwahlen 2019 kaum Raum. Im zurückliegenden Jahr wurde die Regierungsform der Türkei in ein autoritäres Präsidialsystem mit einer Machtkonzentration bei der Exekutive und enormen Machtfülle für den Staatspräsidenten umgebaut. Das internationale Institut Freedom House diagnostizierte eine Aushebelung der Rechtsstaatlichkeit und illegitime Restriktionen für Medien- und Versammlungsfreiheit und stufte so die Türkei von "teilweise frei" auf "unfrei" herab. Ohnehin steht die türkische Medienlandschaft weitgehend unter der Kontrolle regierungsnaher Medienunternehmen, sodass die Oppositionsparteien darin kaum thematisiert werden – wenn doch, dann meistens in Form negativer Berichterstattung.

Aus einem Bericht des türkischen öffentlich-rechtlichen Fernsehkanals TRT vom 11. März 2019 ist zu entnehmen, dass im Februar knapp 50 Stunden Sendezeit für die Regierungspartei AKP zur Verfügung gestellt wurden. Über den Bündnispartner der AKP, die MHP wurde dreieinhalb Stunden berichtet. Deutlich geringer entfiel mit fünf Stunden und 47 Minuten die Sendezeit für die Hauptoppositionspartei CHP. Noch weniger wurde über die "İP" berichtet: 55 Minuten. Die prokurdisch-linke HDP fand überhaupt keine Erwähnung.

Inhaltlich ging es in den politischen Debatten während der zurückliegenden Monate und auch in den Kampagnen von AKP und MHP wenig um kommunalpolitische Themen. Anders als beim Zusammenschluss der Oppositionsparteien, der Allianz der Nation, standen nicht die Bürgermeisterkandidaten, sondern der türkische Staatspräsident Erdoğan im Mittelpunkt der Wahlkampagne. Dieser setzte als Topthema auf Sicherheit und inszenierte die Kommunalwahlen zu einer Frage der Staatssicherheit. Es stehe mehr auf dem Spiel "als Bürgermeisterposten und Provinzparlamente", erklärte Staatspräsident Erdoğan immer wieder in seinen Reden.

Die CHP, die İP und die Partei der Glückseligkeit (Saadet Partisi, kurz: SP) stilisierte der türkische Staatspräsident zum "inländischen Handlanger" "dunkler ausländischer Mächte". Er warf ihnen vor, mit der Terrororganisation PKK und der "Fetö" – so wird die Organisation des Predigers Fethullah Gülen genannt, den die türkische Regierung für den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich macht – im Bündnis zu stehen.

Die Ränder werden schwächer

Drei Entwicklungen sind in Bezug auf die politische Zukunft der Türkei von Bedeutung:

  1. Defragmentierung des Parteiensystems: Die Kommunalwahlen haben drei Verlierer an den Rändern des politischen Systems – die İP, die MHP und HDP. Sie haben an Stimmen – sowohl absolut als auch relativ– eingebüßt. Währenddessen konnten die stärkste und die zweitstärkste Partei des Landes, die AKP und die CHP, ihren Stimmenanteil gemeinsam auf knapp 80 Prozent ausbauen. Dies deutet auf eine Entwicklung zu einem Zwei-Parteien-System hin – ähnlich dem der USA. Bei einer Parlamentswahl wären, wegen der in der Türkei gültigen 10-Prozent-Sperrklausel, bei diesen Stimmenanteilen nur die AKP und die CHP in die Türkische Nationalversammlung gewählt worden.


  2. Überwindung politischer Differenzen: erstmals konnten sich die Oppositionsparteien über ihre politisch-ideologischen Differenzen hinwegsetzen und sich auf gemeinsame Kandidaten einigen. Zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres kam es zu einer lagerübergreifenden Allianzbildung – diesmal unter Einschluss der prokurdisch-linken HDP.


  3. Entkoppelung wirtschaftlicher und politischer Macht: Bei diesen Kommunalwahlen hat sich ein Trend fortgesetzt – strukturstarke Regionen wählten verstärkt Oppositionsparteien. Die AKP-Regierung verdankte ihre bisherigen Wahlerfolge der Wirtschaftsdynamik und wurde von wirtschaftlich aufstrebenden Bevölkerungsschichten sowie strukturstarken Städten und Regionen unterstützt. Jetzt scheint sich das Blatt zu wenden. Die AKP verliert außer wenigen Ausnahmen in fast allen wirtschaftsstarken (Groß-)Städten – Istanbul, Ankara, Adana, die Städte in der ägäischen Küstenregion, in Thrakien und im Großteil der Westtürkei.

Politischer Niedergang des Regierungsblocks?

Ist mit dem Machtwechsel in Istanbul und Ankara der politische Niedergang der AKP besiegelt? Ohne Zweifel hat mit dem starken Stimmenverlust in beiden Metropolstädten die Vormachtstellung der AKP Risse bekommen. Doch eine Gleichsetzung mit der Situation der türkischen Sozialdemokraten in den 1990er-Jahren ist nicht angemessen. 1994 verlor die SHP, die Vorgängerpartei der säkular-linken CHP, Istanbul und Ankara an die islamistische Wohlfahrtpartei, die Vorgängerin der AKP. Damals setzte für die Verlierer der politische Niedergang ein und es begann für die Gewinner der machtpolitische Aufstieg.

Im Gegensatz zu den 1990er-Jahren ist heute die türkische Medienlandschaft fest im Griff der Regierung. Damals befand sich die Parteienlandschaft in einem Prozess der Fragmentierung – etablierte Parteien spalteten sich, neue Parteien entstanden, das linke und das rechte Lager war vertreten durch mehrere miteinander konkurrierende Parteien. Heute ist die von Erdoğan geführte Volksallianz in politischer und kultureller Hinsicht viel kohärenter als das säkular-nationale Lager der 1990er-Jahre und die "Allianz der Nation" aus CHP, HDP, İP und SP. Viel zu unterschiedlich sind deren politischen Grundpositionen.

Gleichwohl haben Erdoğan und seine AKP mit dem Verlust von Ankara und Istanbul den Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Der smarte Politiker İmamoğlu und seine CHP bestärken die Hoffnungen der mit der wirtschaftlichen und politischen Situation des Landes Unzufriedenen – moderate Linke, Kurden, Aleviten und gar Konservative. Ob es jedoch für einen Machtwechsel bei den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausreicht, wird davon abhängen, inwieweit sie gemeinsame, mehrheitsfähige Positionen erarbeiten werden.

Die drängendste Frage ist aber nun, wie es in Istanbul weitergeht: Die Neuwahl soll am 23. Juni stattfinden. Entscheidend wird sein, ob die Anhänger der Opposition sich durch die Entscheidung des Hohen Wahlausschusses verstärkt mobilisieren lassen, oder aber resignieren.

Am Abend der Entscheidung jedenfalls protestierten in vielen Stadtteilen Istanbulerinnen und Istanbuler bis tief in die Nacht gegen die Annullierung der Wahl.

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ist seit April 2013 Mercator-IPC-Fellow an der Stiftung Wissenschaft und Forschung und Mitarbeiter in der Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen. Forschungsgebiete: Migrationsforschung und Zuwanderungspolitik; Türkeiforschung; Nationalismusforschung (Nationalismus, ethnische Konflikte, Fremdheitsproblematik, kollektive Identität); Soziale Philosophie und Politische Theorie (Theorien der Moderne/Modernisierung)