Anfang der 1990er Jahre wurde Ruanda von einem Bürgerkrieg erschüttert, der im April 1994 in einen verheerenden Völkermord mündete. Ein explosives Gemisch aus überstürzter Demokratisierung, sozioökonomischen Schocks und der Angst vor der Machtübernahme durch die einmarschierenden Tutsi-Rebellen der Rwandan Patriotic Front (RPF) schufen den Nährboden für den Bürgerkrieg und Genozid. Die RPF wollte mit ihrer Invasion den Anspruch auf Teilhabe an der Neugestaltung des politischen Systems gewaltsam durchsetzen. Seit den 1960er Jahren waren Angehörige der Tutsi-Minderheit aus Angst vor Repression und Massakern immer wieder in die Nachbarländer geflohen. Die regierenden Hutu-Eliten nutzten die angespannte Situation, um durch massive Hetze gegen Tutsi zum Genozid anzustiften, der mehr als hundert Tage andauerte.
Die Folgen des Genozids waren verheerend: Ihm fielen ca. eine Millionen Tutsi und ca. 200.000 moderate Hutu zum Opfer. Die Infrastruktur sowie zentrale Staatskapazitäten wurden völlig zerstört. Nachdem die internationale Gemeinschaft trotz der stationierten UN-Truppen nicht zu einem Eingreifen bereit war, beendete die RPF nach drei Monaten den Genozid militärisch.
Die ethnischen Differenzen zwischen Hutu und Tutsi gehen auf die Kolonialisierung Ruandas durch Deutschland und Belgien zurück. Die Ungleichbehandlung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen hat die ethno-soziale Spaltung zwischen der dominierenden Tutsi-Minderheit und der Hutu-Mehrheit erst gesellschaftlich und politisch virulent werden lassen. Die tiefe Krise des Landes hatte ihre strukturellen Ursachen jedoch hauptsächlich in der ungerechten Sozial- und Herrschaftsstruktur des Landes.
Der Weg zum Frieden
Mehr als 20 Jahre nach dem Völkermord bleiben die Schritte hin zu Stabilität und Veränderung ambivalent. Spürbare Fortschritte sind – nicht zuletzt durch massive internationale Unterstützung – in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, vor allem im Bildungs- und Gesundheitssektor sowie in der Armuts- und Malariabekämpfung, zu verzeichnen. Die RPF hat – mit finanzieller Hilfe aus der Bundesrepublik – eine staatliche Krankenversicherung eingeführt, was für die Region einmalig ist. Zudem wurde Ruanda 2017 von dem World Economic Forum wieder als ökonomisch effizientestes Land auf dem afrikanischen Kontinent eingestuft, noch vor Südafrika, Kenia und Tansania. Und auch für Transparency International belegt Ruanda weiterhin eine Vorreiterrolle in der Korruptionsbekämpfung.
Obgleich das Wirtschaftswachstum konstant bei etwa 6 bis 7% jährlich liegt, leben breite Bevölkerungsschichten weiterhin in Armut. Nichtsdestotrotz verzeichnet der Human Development Index, der u.a. sozio-ökonomische Ungleichheit misst, eine stetige Verbesserung der Situation und stufte Ruanda 2016 als das Land mit der besten Entwicklungstendenz in den letzten 25 Jahren ein, verglichen mit allen Ländern.
Die internationale Gemeinschaft hat ebenfalls riesige Summen in die Friedenskonsolidierung und Vergangenheitsaufarbeitung gesteckt. Die Maßnahmen konzentrierten sich vornehmlich auf die Einführung von Rechtsstaatlichkeit, die politische und gesellschaftliche Transformation sowie auf Versöhnungsprojekte und die Rehabilitierung von Genozidopfern.
Einen wichtigen Bereich des Friedensprozesses bildet die juristische Aufarbeitung des Völkermords von 1994. Im Mittelpunkt stehen dabei der Internationale Strafgerichtshof für Rwanda (ICTR) und die nationalen Gacaca-Gerichte. Bereits 1994 entschied der UN-Sicherheitsrat, den ICTR mit Sitz in Arusha (Tansania) einzurichten, um Straflosigkeit zu bekämpfen sowie zu Frieden und Versöhnung in der Region beizutragen. Dort wurden die Hauptverantwortlichen des Genozids aus Medien, Militär und Politik angeklagt. Am 14. Dezember 2015 sprach das Gericht sein letztes Urteil im "Nyiramasuhuko-Fall". Der Angeklagte war in dem Berufungsverfahren der Anstachelung zum Genozid zu 47 Jahren Haft verurteilt worden. Insgesamt hat der ICTR in seiner 11jährigen Tätigkeit 93 Fälle bearbeitet. Insgesamt wurden 63 Gefängnisstrafen verhängt und 14 Freisprüche veranlasst. Zwei Anklagen wurden zurückgezogen und 10 Fälle an die nationale ruandische Jurisdiktion übergeben. Seit 2015 hat der ICTR offiziell sein Mandat beendet. Im Zuge der "Komplettierungsstrategie" wird seine Arbeit vom "UN International Residual Mechanisms for Criminal Tribunals" weitergeführt, der sich u.a. um den Zeugenschutz, die Verfolgung von flüchtigen Verdächtigen und das Archivieren der Gerichtsunterlagen kümmert.
Die Arbeit des ICTR stand teilweise unter starker Kritik. Moniert wurden u.a. die hohen Kosten angesichts der geringen Zahl von Verurteilungen sowie die Abkoppelung des Gerichtshofs von den lokalen Realitäten in Ruanda. Trotz der Bemühungen, die Bevölkerung über die Arbeit des Gerichts durch lokale Zentren aufzuklären, spielte der ICTR für viele in Ruanda nur eine sehr untergeordnete Rolle in der Vergangenheitsaufarbeitung. Positiv zu bewerten ist gleichwohl, dass der Gerichtshof durch einige Präzedenzfälle richtungsweisend für die internationale Rechtsprechung wurde. So fand z.B im "Akayesu-Fall" erstmalig eine Verurteilung auf Basis der Völkermordskonvention statt. Im selben Fall wurden außerdem erstmalig Vergewaltigung und sexuelle Gewalt als Tatbestand von Völkermord im internationalen Strafrecht definiert.
Um die große Zahl von Tätern in ruandischen Gefängnissen zur Verantwortung ziehen zu können und den Versöhnungsprozess voranzutreiben, wurden im Jahr 2002 traditionelle Dorfgerichte – die sog. Gacaca – wiederbelebt. Die für den Umgang mit Genozidverbrechen angepassten und modernisierten Gerichte wurden von Laienrichtern geleitet. Allerdings waren sie nur für Täter mit geringerer Tatschuld zuständig; dazu gehörten aber auch Verbrechen wie Vergewaltigung und Mord. Laut Angaben der Gacaca-Kommission wurden rund eine Million Fälle vor etwa zwölftausend Gacaca-Gerichten verhandelt. Im Juni 2012 wurden die letzten Verfahren durchgeführt; nun sind nur noch Berufungen zulässig. Auch vor nationalen Gerichten werden weiterhin Völkermord-Strafbestände verhandelt.
Die Bilanz der Gacaca-Gerichte ist gemischt: Einerseits konnten durch die Verfahren Verwandte und Überlebende über den Verbleib der Opfer und die Art und Weise, wie diese umgekommen sind, Gewissheit erlangen. Mit dieser Form der Wahrheitsfindung wurde ein erster kleiner Schritt in Richtung Versöhnung vollzogen. Aufgrund der Geständnisse der Täter wurden auch Massengräber gefunden, und Angehörige konnten die Opfer würdevoll bestatten.
Andererseits waren Verbrechen der heutigen Regierungspartei und früheren Rebellenbewegung RPF, die vor, während und nach dem Genozid begangen wurden, nicht Gegenstand der Verfolgung und Aufarbeitung. Kritisiert wurden zudem mangelnde Rechtsstandards. Schließlich sahen sich die Überlebenden des Genozids vielfach mit Retraumatisierungen konfrontiert, da sie im Zuge der Gacaca-Verhandlungen die erfahrenen Gräueltaten erneut durchlebten.
Beide juristischen Aufarbeitungsverfahren – ICTR und Gacaca – hinterlassen ein bedeutendes Vermächtnis: die Archive. Diese bewahren die kollektive Erinnerung und fungieren als eine fortwährende Mahnung, dass Völkermord nicht ungeahndet bleibt. Die Archivierung der unzähligen Dokumente, einschließlich Videoaufnahmen, Fotos und Zeugenaussagen, bildet auch künftig einen wichtigen Bestandteil der Vergangenheitsaufarbeitung. Während die ICTR-Archive im Besitz der Vereinten Nationen bleiben und in Arusha aufbewahrt werden, ist das Gacaca-Archiv noch im Aufbau begriffen. Mithilfe internationaler Expertise und Gelder werden die Dokumente derzeit digitalisiert und kategorisiert.
Die Fortsetzung des institutionalisierten Verfahrens der Vergangenheitsaufarbeitung und seine langfristige Wirkung auf den Friedens- und Versöhnungsprozess in Ruanda ist ungewiss. Auf jeden Fall verjährt Genozid nicht. Rund 243 Gedenkstätten erinnern an die Gräueltaten. Die jedes Jahr im April abgehaltenen Gedenkfeiern bekräftigen die Mahnung "nie-wieder".