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Die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen

Dr. habil. Jörg Echternkamp

/ 8 Minuten zu lesen

Noch während des Krieges beschlossen die Alliierten, den Nationalsozialismus und den Militarismus in Deutschland zu beseitigen. Die Verbrechen der Deutschen sollten gesühnt und die Täter bestraft werden.

Buchenwald-Prozess: Die Angeklagte Ilse Koch, Ehefrau des Kommandanten des KZ-Buchenwald, Karl Koch, während der Verhandlung, vermutlich 8. Juli 1947. (© picture-alliance/akg)

Die staatlich organisierten Massenverbrechen, die im Zweiten Weltkrieg begangen wurden, bildeten nicht nur einen moralischen "Zivilisationsbruch". Sie verstießen auch gegen geltende Regelungen des Kriegsvölkerrechts, wie sie in der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen fixiert waren. Noch während des Krieges beschlossen die Alliierten daher die "politische Säuberung" Deutschlands nach dem Ende des Krieges. Zum einen wollten sie den Nationalsozialismus und den Militarismus beseitigen. Zum anderen sollten die Verbrechen der Deutschen gesühnt und die Täter in speziellen Kriegsverbrecherprozessen überführt und bestraft werden. Eine Strafe ohne Prozess kam für sie ebenso wenig in Frage wie der Verzicht auf jegliche Sühne. Dass die Täter für die Gräueltaten in den besetzten Gebieten zur Rechenschaft gezogen würden, hatten Roosevelt und Churchill bereits im Oktober 1941 angekündigt. Ein Jahr später hatte die Interalliierte Kommission zur Bestrafung von Kriegsverbrechen ihre Arbeit aufgenommen. Sie sollte ab 1944 gemeinsam mit der United War Crimes Commission die Gerichtsverfahren vorbereiten.

Das Londoner Statut

Nach Kriegsende kam es zu unterschiedlichen Arten von Prozessen, in denen die Siegermächte die Kriegs- und NS-Verbrechen mit strafrechtlichen Mitteln verfolgten. Die Verbrechen wurden zum einen vor deutschen, zum anderen vor alliierten Gerichten verhandelt. Das Kontrollratsgesetz Nr. 4 vom 30. Oktober 1945 hatte deutsche Gerichte in jenen Fällen für nicht zuständig erklärt, die sich gegen Staatsangehörige der alliierten Nationen richteten. Nicht nur die alliierte, auch die deutsche Justiz verfolgte dagegen in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 von Deutschen an politischen Gegnern des NS-Regimes, an Juden, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten und Zwangsarbeitern begangen wurden.

Um die Strafverfolgung zu vereinheitlichen, legte das Londoner Statut vom 8. August 1945 (auch Nürnberger Charta genannt) die Rechtsgrundlagen fest. Es kodifizierte die Tatbestände "Kriegsverbrechen", "Verbrechen gegen den Frieden" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", die nun neben den Vorschriften des Strafgesetzbuchs galten. Als Kriegsverbrechen galten insbesondere Mord, Misshandlung und Verschleppung zur Zwangsarbeit, die Ermordung von Kriegsgefangenen, die Tötung von Geiseln, Raub und die mutwillige Zerstörung von Städten. Als Verbrechen gegen den Frieden galten Planung, Einleitung und Durchführung eines Angriffskriegs oder die Beteiligung an einer Verschwörung dazu. Zu den Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählten die Gerichte alle Verbrechen, die mit den eigentlichen Kampfhandlungen nichts zu tun hatten und sich gegen die Zivilisten richteten: ihre Ermordung, Versklavung und Deportation, die Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen.

Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

Am 8. August 1945 einigten sich die USA, Großbritannien, die Sowjetunion und Frankreich darauf, einen Internationalen Militärgerichtshof (IMT) einzurichten, vor dem jene Taten verhandelt werden sollten, deren Tatort unklar war. Auf der Anklagebank des IMT in Nürnberg saßen vom 20. November 1945 bis zum 30. September 1946 die Spitzenfunktionäre des NS-Regimes (sofern sie noch lebten). Die Anklage richtete sich gegen 22 sogenannte Hauptkriegsverbrecher und sechs als verbrecherisch angeklagte Organisationen. (Vor einem ähnlichen Sondergericht fand in Tokio von Mai 1946 bis November 1948 der Prozess gegen hohe japanische Militärs und Bürokraten statt.) Die Alliierten hatten die Stadt der "Reichsparteitage" und der Nürnberger Rassegesetze von 1935 gezielt als Ort des IMT ausgewählt. Dem Gerichtshof gehörte je ein Vertreter und Stellvertreter der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs an. Das Londoner Statut garantierte den Angeklagten die Grundsätze eines "gerechten Verfahrens" zu; so konnten auch ihre Verteidiger die Zeugen der Anklage ins Kreuzverhör nehmen. Die Urteile reichten von Freispruch in drei Fällen über teils lebenslange Haftsprachen bis zur Todesstrafe in den meisten Fällen.

Freisprüche, Freiheitsstrafen, TodesurteileDie Urteile des Internationalen Gerichtshofs in Nürnberg gegen die Hauptkriegsverbrecher

Am 30. September und 1. Oktober 1946 erging das Urteil. Das Gericht befand drei Angeklagte für "nicht schuldig": den Reichskanzler Franz von Papen, den Reichsbankpräsident und Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht  sowie den Leiter der Presseabteilung im Propangandaministerium, Hans Fritzsche.

Gefängnisstrafen zwischen zehn und zwanzig Jahren erhielten vier Angeklagte: Großadmiral (und letzter Reichskanzler) Karl Dönitz, Außenminister Konstantin von Neurath, Reichsjugendführer Baldur von Schirach und Rüstungsminisiter Albert Speer. Eine lebenslange Haftstrafe erhielten Wirtschaftsminister Walter Funk, Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess und Großadmiral Erich Räder.

Zum "Tode durch den Strang" wurden die übrigen Angeklagten verurteilt: Generalgouverneur Hans Frank, Generaloberst Alfred Jodl, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes und der Sicherheitspolizei Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Innenminister Wilhelm Frick, Hermann Göring (der sich vor der Hinrichtung das Leben nehmen sollte), der Gauleiter Julius Streicher, der Reichsstatthalter in Österreich und Reichskommissar in den besetzten Niederlanden Arthur Seyß-Inquart, der Generalbevollmächtige für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel, der Rassenideologe und Reichsminister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, der Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop sowie – in Abwesenheit – der Reichsleiter der NSDAP Martin Bormann. Noch während des Verfahrens hatte sich Robert Ley, der ehemalige Reichsführer der Deutschen Arbeitsfront, das Leben genommen.

Die Verhandlungen, die Präsentation der Beweismittel, vor allem der Urteilsspruch stießen im In- und Ausland auf großes Interesse. Die Tageszeitungen der Besatzungszonen berichteten laufend und brachten die Verbrechen zur Sprache – schließlich dienten die Prozesse auch der Umerziehung der Deutschen. Die NS-Prozesse wie auch die Bilder der befreiten Konzentrationslager bekräftigten im Ausland die Neigung, die Deutschen zu verteufeln. Im Inland weckten die Urteile des IMT den Eindruck, dass die wahren Täter bestraft worden seien – und sorgte so für die Entlastung der Mehrheit. Bei den meisten Zeitgenossen war der Prozess jedoch schon bald als "Siegerjustiz" verschrien. Warum kamen, fragten sie beispielsweise in Leserbriefen, die Verfehlungen der alliierten Seite wie der sowjetische Angriff auf Polen, die Erschießung polnischer Offiziere in Katyn oder die "Terrorangriffe" aus der Luft auf die deutsche Zivilbevölkerung nicht zur Sprache? Auch musste sich das Gericht den Vorwurf gefallen lassen, gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen, demzufolge eine Tat nur bestraft werden kann, wenn ihre Strafbarkeit vor der Begehung gesetzlich bestimmt war (nulla poene sine lege). Allerdings verstießen die Tatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gegen das Kriegs- und damalige Strafrecht. Der Briand-Kellog-Pakt von 1929, den auch Deutschland unterzeichnet hatte, verbot den Krieg als Instrument zur Lösung internationaler Konflikte. Auch im deutschen Widerstand, vor allem im Kreisauer Kreis, hatte man die Bestrafung von Rechtsverstößen gefordert. Klar ist auch, dass der Nürnberger Prozess eine unumgängliche Aufklärungsfunktion erfüllte, die an den Kriegsplänen, der verbrecherischen Herrschaftspraxis und dem Vernichtungskrieg keinen Zweifel ließ. Durch die Beschaffung des umfangreichen Beweismaterials wurde zudem eine bis heute wertvolle Grundlage für die geschichtswissenschaftliche Erforschung des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs geschaffen. Die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes 2001 in Den Haag folgte dem Vorbild von 1945.

Nürnberger Nachfolgeprozesse

Nach dem alliierten Sondergericht in Nürnberg fanden Prozesse in den einzelnen Besatzungszonen statt. Die Oberbefehlshaber konnten aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 ihrerseits Personen vor Gericht stellen, wie das insbesondere in den zwölf Nürnberger "Nachfolgeprozessen" unter amerikanischer Militärgerichtsbarkeit geschehen ist. Bis in den April 1949, wenige Tage vor Gründung der Bundesrepublik, führten die Amerikaner Prozesse gegen knapp 200 Funktionsträger des Dritten Reiches: gegen prominente Ärzte, Juristen, Industrielle, Diplomaten, Beamte und Generale. Zwölf "Fälle" wurden verhandelt, die im ersten Nürnberger Prozess 1945/46 nur beiläufig zur Sprache gekommen waren. Der sogenannte OKW-Prozess gegen Wilhelm Ritter von Leeb und andere (Fall 12) sowie der Prozess gegen die sogenannten Südost-Generäle (Fall 7) beispielsweise hing damit zusammen, dass das IMT das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) nicht als eine verbrecherische Organisation anerkannt hatte, ausdrücklich um die Beschuldigten individuell anklagen und in Einzelverfahren aburteilen zu können. Am verbrecherischen Charakter ihres Tuns hegte das Gericht dagegen keinen Zweifel – das wurde später immer wieder übersehen. In gesonderten Verfahren ging es nun auch um Friedrich Flick (Fall 5), den IG-Farben-Konzern, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach (Fall 10) sowie die leitenden Funktionsträger, um das SS-Rasse- und Siedlungsamt (Fall 8), das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt (Fall 4), im "Wilhelmstraßen-Prozeß" um das Auswärtige Amt (Fall 11) und schließlich um die Einsatzgruppen (Fall 9). In diesen "Nürnberger Nachfolgeprozessen" fielen die Urteile deutlich milder aus, als das noch vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Fall gewesen war.

QuellentextGeneralstab und Oberkommando der Wehrmacht vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg

"Die Anklagevertretung hat auch verlangt, den Generalstab und Oberkommando der deutschen Wehrmacht zu einer verbrecherischen Organisation zu erklären. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß Generalstab und Oberkommando nicht für verbrecherisch erklärt werden sollten. Ist auch die Anzahl der beschuldigten Personen größer als im Falle der Reichsregierung, so ist sie doch so klein, daß Einzelprozesse gegen diese Offiziere den hier verfolgten Zweck besser erreichen würden, als die verlangte Erklärung. Aber ein noch zwingenderer Grund ist nach der Meinung des Gerichtshofes darin zu ersehen, daß Generalstab und Oberkommando weder eine "Organisation", noch eine "Gruppe" im Sinne der im Artikel 9 des Statuts gebrauchten Bezeichnungen ist.
[…]

Obwohl der Gerichtshof der Meinung ist, daß die im Artikel 9 enthaltene Bezeichnung "Gruppe" mehr enthalten muß, als eine Anhäufung von Offizieren, ist ihm doch viel Beweisstoff über die Teilnahme dieser Offiziere an der Planung und Führung des Angriffskrieges und an der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgelegt worden. Dieses Beweisergebnis ist gegen viele von ihnen klar und überzeugend.

Sie sind in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hitlers und seiner Nazi-Kumpane akademisch und ohne Folgen geblieben. Wenn diese Offiziere auch nicht eine Gruppe nach dem Wortlaut des Statuts bildeten, so waren sie doch sicher eine rücksichtslose militärische Kaste. Der zeitgenössische deutsche Militarismus erlebte mit seinen jüngsten Verbündeten, dem Nationalsozialismus, eine kurze Blütezeit, wie er sie in der Vergangenheit kaum schöner gekannt hat.

Viele dieser Männer haben mit dem Soldateneid des Gehorsams gegenüber militärischen Befehlen ihren Spott getrieben. Wenn es ihrer Verteidigung zweckdienlich ist, so sagen sie, sie hatten zu gehorchen; hält man ihnen Hitlers brutale Verbrechen vor, deren allgemeine Kenntnis ihnen nachgewiesen wurde, so sagen sie, sie hätten den Gehorsam verweigert.

Die Wahrheit ist, daß sie an all diesen Verbrechen rege teilgenommen haben oder in schweigender Zustimmung verharrten, wenn vor ihren Augen größer angelegte und empörendere Verbrechen begangen wurden, als die Welt je zu sehen das Unglück hatte. Dies mußte gesagt werden. Wo es der Sachverhalt rechtfertigt, sollen diese Leute vor Gericht gestellt werden, damit jene unter ihnen, die dieser Verbrechen schuldig sind, ihrer Bestrafung nicht entgehen."

Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg erklärte Generalstab und OKW aus formalen Gründen nicht zu einer "verbrecherischen Organisation". Die Betroffenen, denen Verbrechen nachgewiesen wurden, sollten vielmehr in separaten Gerichtsverfahren angeklagt werden.

Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg, Nürnberg 1947, Bd. 1, S. 311-314.

Schließlich gab es zahlreiche weitere Prozesse auf der Basis der vom Joint Chief of Staff erlassenen Direktive 1023/10, mit der die Vereinigten Stabschefs am 15. Juli 1945 die Besatzungsarmeen in allen vier Zonen zur umfassenden Aufarbeitung der Kriegsverbrechen vor Militärgerichten verpflichtet hatten. In diesen Einzelverfahren stand nicht die NS-Elite, sondern das "einfache Mordpersonal" im Vordergrund. Die Prozesse vor sowjetischen und britischen Militärgerichtshöfen fanden an unterschiedlichen Orten statt, in der französischen Zone urteilte das Tribunal Général in Rastatt, in der amerikanischen Zone wurde in Darmstadt, Ludwigsburg und Dachau verhandelt.

Blick auf die Richterbank im Dachau-Hauptprozess, dem ersten Kriegsverbrecherprozess der U.S. Army in der amerikanischen Besatzungszone am Militärgericht im Internierungslager Dachau vom 15. November bis zum 13. Dezember 1945. (© Public Domain)

Zu den Prozessen – die meisten (489) fanden im Internierungslager Dachau statt – zählten die sechs Hauptverfahren, die nach dem jeweiligen Konzentrationslager benannt wurden: Dachau (15.11.-13.12.1945), Buchenwald (11.4.-14.8.1947), Flossenbürg (12.6.1946-22.1.1947), Mauthausen (29.3.-13.5.1946), Nordhausen/Mittelbau-Dora (-30.12.1947) sowie Mühldorf (1.4.-13.5.1947). Die hier ermittelten Sachverhalte dienten als Beweismittel in den etwa 250 Anschlussverfahren gegen weitere Angehörige der Lagerverwaltung und der Wachmannschaften. Hinzu kamen die "Fliegerprozesse", in denen es um die Misshandlung und Tötung alliierter Piloten ging, die abgeschossen und in deutsche Kriegsgefangenschaft gelangt waren. Eine weitere Gruppe umfasste unterschiedliche Verfahren wie den Hadamar-Prozess gegen Angehörige der Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar bei Wiesbaden, wo im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms etwa 15.000 Menschen ermordet worden waren, sowie den Malmedy-Prozess, in dem es um die Ermordung amerikanischer Kriegsgefangener durch SS-Angehörige ging. Viele der Täter, die wegen schwerer Verbrechen zu Haftstrafen verurteilt worden waren, wurden in den 1950er-Jahren begnadigt und gelangten nach kurzem Arrest wieder auf freien Fuß. Die westdeutsche Öffentlichkeit, nicht zuletzt die Veteranen, setzten sich für die Freilassung ihrer, wie sie meinten, zu Unrecht verurteilten Kameraden ein. Sie sahen in der Amnestie eine Voraussetzung für eine deutsche Wiederbewaffnung.

Die zweite Phase der Verfolgung

Wegen NS-Verbrechen rechtskräftig durch deutsche Gerichte Verurteilte (Interner Link: Hier finden Sie die Grafik als hochauflösende PDF-Datei) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Erst 1958 begann mit dem "Ulmer Einsatzgruppenprozess" eine neue Phase der juristischen Aufarbeitung der Kriegs- und NS-Vergangenheit. Im selben Jahr wurde in Ludwigsburg eine "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" eingerichtet. Die Verfahren zogen sich über Jahrzehnte: darunter die beiden Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main (1963-1966) und der Majdanek-Prozess in Düsseldorf (1975-1981). Ein juristisches Problem lag in den Verjährungsfristen. Totschlagsdelikte waren bereits 1960 verjährt, und auch Mord wäre nach 20 Jahren verjährt, hätte nicht der Bundestag nach einer hitzigen Debatte die Frist zweimal verlängert und 1979 ganz aufgehoben. Zuletzt sorgte 2010/11 der Münchener Prozess gegen den ehemaligen KZ-Aufseher John Demjanjuk weltweit für Aufsehen. – Die Gesamtzahl der Beschuldigten lag mit 106.500 zwar recht hoch; rechtmäßig verurteilt wurden jedoch nur etwa 6.500 Personen. Von Beginn der strafrechtlichen Aufarbeitung an hat die Justiz zur Veränderung des gesellschaftlichen Selbstbildes beigetragen und den Stellenwert des Krieges in den Erinnerungskulturen geprägt.

Weiterführende Literatur:

  • Jörg Echternkamp, Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945-1955, München 2014.

  • Ludwig Eiber, Robert Sigl (Hrsg.), Dachauer Prozesse – NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–1948, Göttingen 2007.

  • Andreas Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 621-642.

  • Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012.

  • Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 3. Aufl., München 2003.

  • Norbert Frei (Hrsg.), Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006.

  • Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Tübingen 2002.

  • Michael Greve, Der justitielle und rechtspolitische Umgang mit den NS-Gewaltverbrechen in den sechziger Jahren, Frankfurt am Main 2001.

  • Kim C. Priemel, Alexa Stiller (Hrsg.), NMT: Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013.

  • Edith Raim, Justiz zwischen Diktatur und Demokratie. Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945-1949, München 2013.

  • Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht. Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, Heidelberg 1982.

  • Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt am Main 1999.

  • Jürgen Weber, Peter Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, München 1984.

  • Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse, München 2006.

  • Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002.

Weitere Inhalte

Dr. habil. Jörg Echternkamp, geboren 1963, ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Projektbereichsleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), vormals Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA), in Potsdam. Er hatte zahlreiche Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland; 2012/13 war er Inhaber der Alfred-Grosser-Gastprofessur am Institut d'Études Politiques (Sciences Po) in Paris. Echternkamp forscht und lehrt zur deutschen und europäischen Geschichte vom 18. zum 21. Jahrhundert; Schwerpunkte bilden derzeit die Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte der Weltkriege, der NS-Zeit und der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zu seinen Publikationen zählen: (Hg.) Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 9/1-2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945 (München 2004/2005; engl. Oxford 2008/2014), Die 101 wichtigsten Fragen: Der Zweite Weltkrieg, München 2010, Militär in Deutschland und Frankreich 1870-2010, Paderborn 2011 (hg. mit S. Martens), München 2012; Experience and Memory. The Second World War in Europe, Oxford 2010/2013 (hg. mit S. Martens); (Hg.), Wege aus dem Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 2012; Die Bundesrepublik Deutschland 1945/49-1969, Paderborn 2013; Gefallenengedenken im globalen Vergleich (hg. mit M. Hettling), München 2013; Soldaten im Nachkrieg 1945-1955, München 2014.