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Das Problem des Wortinhalts | Sprache und Politik | bpb.de

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Das Problem des Wortinhalts

Thorsten Eitz

/ 6 Minuten zu lesen

Was bezeichnen Wörter wie Elite oder Sozialismus eigentlich genau? Wer sich diese Frage stellt, wird merken: Sprache ist kein Abbild einer objektiven Realität, denn kein Wort haftet naturgegeben einem Gegenstand oder Sachverhalt an.

"Deutsche bewerten 'die Elite' positiv. Noch vor wenigen Jahren war das Wort 'Elite' verpönt. Nach dem Pisa-Schock hat sich der Zeitgeist verändert" (RHEINISCHE POST, 8.1.2004).

"Das böse Wort Elite. Die Grünen sind gegen Elite-Universitäten. Sie haben Probleme mit dem Begriff" (RHEINISCHE POST, 9.1.2004).

Ist Elite nun eine positive oder eine negative Bezeichnung? Lässt sich diese Frage überhaupt entscheiden? Ein und dasselbe Wort kann offenbar – entgegen der landläufigen Annahme, Sprache sei einheitlich und eindeutig – unterschiedlich verstanden und inhaltlich gefüllt werden. Oder umgekehrt kann es unterschiedliche Bezeichnungen für dieselbe Sache oder Konzeption geben. Hier zeigt sich ein Problem, das der Mehrzahl der Sprachteilnehmer zunächst nicht bewusst ist, nämlich dass Sprache kein Abbild einer objektiven Realität ist und ein Wort kein Etikett, das naturgegeben an einem Gegenstand, Sach- oder Problemverhalt haftet.

Wort und Wortinhalt

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Vielmehr ist die Verbindung zwischen einem Wort und dem Gegenstand oder der Vorstellung, den bzw. die es bezeichnet, also zwischen seinem Ausdruck (Zeichen- oder Lautkette) und seiner Bedeutung beliebig – anderenfalls gäbe keine unterschiedlichen Sprachen. Zwischen dem Ausdruck Elite und der damit bezeichneten gedanklichen Konzeption besteht keine natürliche Beziehung, weshalb sich dasselbe Konzept auch genau so treffend als Auslese bezeichnen lässt. Die Beziehung zwischen "Bezeichnung" und "Bezeichnetem" ist willkürlich, aber nicht völlig, denn wenn jeder Sprecher Dinge und Ideen so bezeichnete, wie er wollte, wäre eine Verständigung untereinander unmöglich. Darum sind Wörter immer auch konventionell, d.h. die Sprecher einer Sprachgemeinschaft sind sich darüber einig bzw. einigen sich im- oder explizit darauf, welche Bedeutung oder Bedeutungen sie einem Wort zuordnen. Während diese Beliebigkeit es einem Sprecher ermöglicht, Gegenstände unterschiedlich zu bezeichnen, wobei subjektive Werte und Ziele, eigene Wirklichkeitsdeutungen einfließen, muss er zugleich im Rahmen der sprachlichen Normen einer Gemeinschaft bleiben, um verständlich zu bleiben. Im konkreten Gebrauch im situativen Kontext gibt ein Sprecher einem Wort seine Bedeutung. Der Mensch erfasst und beurteilt seine Welt also durch Sprache, indem die Sprache bzw. der Sprachgebrauch erst gedankliche Inhalte erzeugt und nicht nur außersprachlich vorgegebene bezeichnet. Durch Sprache macht er sie für sich in der Kommunikation mit anderen Menschen sinnvoll, durch Sprache wird so Wirklichkeit erzeugt.

Sprache und Politik

Das gilt um so mehr für den Bereich der Politik, denn Politisches wird in Demokratien im wesentlichen sprachlich konstruiert, verhandelt, begründet, vermittelt, legitimiert, kritisiert und verworfen. Verschiedene Parteien und Interessengruppen ringen im Prozess der politischen Willensbildung und seiner Umsetzung in konkrete politische Handlungen darum, ihre jeweiligen Themen, Vorstellungen, Ziele, Ideologien, Programme und Werte argumentativ durchzusetzen. Den rivalisierenden gesellschaftlichen Gruppierungen ist es daher keineswegs gleichgültig, wie bestimmte Sach- oder Problemverhalte bezeichnet und wie diese Bezeichnungen interpretiert werden. Im konkreten, durch Interessen gelenkten Sprachgebrauch ist es das Ziel jeder Gruppierung, ihre eigene Bezeichnung und damit ihre Sicht der Dinge zur dominanten machen.

Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenz

In diesem Meinungskampf findet eine andauernde "Weltinterpretation" mit und durch Sprache statt. Deshalb wird in der öffentlichen Kommunikation sehr oft darum gestritten, was als "wahre", "objektive", "richtige" bzw. "angemessene" Bezeichnung für eine Sache oder ein Problem bzw. was als die "wahre", "richtige", "objektive" oder "angemessene" Bedeutung eines Ausdrucks zu gelten habe. Derartige Auseinandersetzungen über "richtige" bzw. "angemessene" Bezeichnungen oder Bedeutungen werden oft nur implizit ausgetragen, nämlich dadurch, dass verschiedene Gruppen einer Gesellschaft nebeneinander verschiedene Ausdrücke zur Bezeichnung des betreffenden Sach- oder Problemverhaltes verwenden oder dass sie gleiche Ausdrücke mit verschiedener Bedeutung verwenden. Die Auseinandersetzung kann aber auch in einem expliziten Streit über Sprache ausgetragen werden. Einige Beispiele sollen das anschaulich machen:

  • Einsatz der Bundeswehr: Umstritten war und ist die Frage, ob der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan als Unterstützungs- bzw. Stabilisierungseinsatz (der ehemalige Verteidigungsminister Jung), als kriegsähnliche Zustände (Verteidigungsminister Guttenberg) oder als Krieg mit allen daraus folgenden völkerrechtlichen Konsequenzen zu bezeichnen sei.
     

  • Abtreibung: In der Kontroverse über den § 218, der die rechtlichen Grundlagen eines künstlichen Schwangerschaftsabbruchs regelt (Fristen- vs. Indikationslösung), wurde dieser u.a. als Abtreibung, Schwangerschaftsabbruch und Schwangerschaftsunterbrechung bezeichnet. Gegner einer Fristenlösung kritisierten den Ausdruck Schwangerschaftsunterbrechung als verharmlosende Bezeichnung, da sie suggeriere, die Frau könne die einmal unterbrochene Schwangerschaft anschließend fortsetzen. Diese Wortkritik war so erfolgreich, dass in der Folgezeit der traditionelle juristische Ausdruck Schwangerschaftsunterbrechung (interuptio graviditatis) im öffentlichen Sprachgebrauch durch den neutraleren Neologismus (Neuwort) Schwangerschaftsabbruch abgelöst wurde. Mit Abtreibung – etwa in den Formeln "Abtreibung heißt stets, das Kind im Mutterleib zu töten" oder "Abtreibung ist Mord" – bezeichneten Abtreibungsgegner einen illegalen und damit abzulehnenden Schwangerschaftsabbruch. Daneben beinhalteten diese Formeln in der Gleichsetzung von Abtreibung und Tötung bzw. Mord die Argumentation, dass es sich um strafrechtlich zu verfolgende Delikte handele, abtreibende Frauen mithin bestraft werden müssten. Befürworter forderten hingegen mit Slogans wie "Mein Bauch gehört mir" ein Recht auf Abtreibung und erreichten durch die Verwendung des Ausdrucks Abtreibung in positiven Kontexten eine allmähliche Neutralisierung, so dass Abtreibung und Schwangerschaftsabbruch seitdem synonym verwendet werden.
     

  • Wirtschaftsordnung: In wirtschaftspolitischen Debatten wurde jahrzehntelang um die Frage der "richtigen" Bezeichnung der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung gestritten. Es gelang der CDU in diesen Auseinandersetzungen, ihr zentrales wirtschaftspolitisches Schlagwort soziale Marktwirtschaft durchzusetzen. SPD und Gewerkschaften kritisierten in den fünfziger Jahren den Ausdruck, indem sie sprachkritisch unterstellten, soziale Marktwirtschaft sei nur eine Tarnbezeichnung für Kapitalismus, es handele sich in Wirklichkeit um freie Marktwirtschaft, die Marktwirtschaft sei nicht sozial, und der Ausdruck deshalb eine beschönigende Formulierung. Zugleich forderte die SPD programmatisch zunächst Sozialismus, Sozialisierung und Planwirtschaft, später, nachdem sie von diesen ideologischen Schlagwörtern abrückte, einen demokratischen Sozialismus, eine Wirtschaftdemokratie oder eine gesteuerte Marktwirtschaft. Vonseiten der CDU brachte ihr das wiederum den Vorwurf des planwirtschaftliche Dirigismus ein, der Demontage der freien Wirtschaft und des Versuchs, einen Versorgungsstaat zu installieren.

An den in dieser Auseinandersetzung verwendeten Ausdrücken Kapitalismus, Sozialismus, Sozialisierung, freie Marktwirtschaft, Planwirtschaft zeigt sich, dass zentrale Ausdrücke des 'Ideologievokabulars' der einen Gruppierung oder Partei, d.h. derjenigen Wörter, mit denen eine Gruppe ihre gesellschaftspolitischen Interpretationen, Werte, Handlungsorientierungen und Vorstellungen bezeichnet, im Sprachgebrauch einer anderen eine völlig andere Bedeutung, einen anderen Stellenwert oder einen anderen Bezugspunkt haben können.

Das Beispiel "Sozialismus": Deutungshoheit, Fahnen- und Stigmawörter

Exemplarisch lässt sich das am Ausdruck Sozialismus, einer seit langem von der SPD beanspruchten Programmvokabel, veranschaulichen: In der frühen Nachkriegszeit verwendeten sowohl SPD als auch CDU Sozialismus als positiv bewertete Schlagwörter. Die SPD fasste damit ihre Forderung nach einem demokratischen Sozialstaat zusammen, die CDU konzipierte mit Formulierungen wie christlicher Sozialismus oder Sozialismus aus christlicher Verantwortung in Abgrenzung zum Sprachgebrauch der SPD ihre Synthese von Sozialismus und Christentum [Vgl. z.B. Süddeutsche Zeitung, 16.11.1945, Kölner Leitsätze der CDU vom Juni 1945, NEUE ZEIT, 14.2.1946, FRANKFURTER HEFTE, Oktober 1946 etc.]. Während die SPD noch bis Ende der fünfziger Jahre unverändert an diesem Ausdruck festhielt, gab ihn die CDU schon 1947 wieder auf und verstand unter Sozialismus nun einen Staatssozialismus wie in der SBZ bzw. DDR. Indem sie so Sozialismus mit Unfreiheit assoziierte, gelang es ihr zunehmend, den Sprachgebrauch der SPD zu diskreditieren. Dies veranlasste die SPD, den Ausdruck zunehmend zu vermeiden und durch demokratischer Sozialismus zu ersetzen. Im Bundestagswahlkampf 1976 gelang es der Union mit ihrem Wahlkampfslogan "Freiheit statt Sozialismus" und durch den stereotypen Gebrauch in negativen Kontexten (sozialistische Experimente, sozialistische Gleichmacherei, sozialistische Kaderschmiede usw.), die Bedeutung von Sozialismus und sozialistisch negativ zu besetzen und diese Bedeutung im allgemeinen und speziell im politischen Sprachgebrauch durchzusetzen.

Wie sich an diesen Beispielen zeigt, geht es in der Politik bei Kontroversen um solche politischen Schlagwörter immer auch um Deutungshoheit und die Durchsetzung politischer Programmatiken. Die Kontrahenten in der politischen Arena kämpfen mit Wörtern, aber oft auch um die Wörter, vor allem um Fahnen- und Stigmawörter. Fahnen- und Stigmawörter stehen dabei nicht selten in einem wechselseitigen Zusammenhang: Was der eine als Fahnenwort benutzt, kann für den anderen ein Stigmawort sein und umgekehrt.

Historischer Kontext

Bezeichnungs- und Bedeutungskonkurrenzen können jedoch auch mit den historischen Kontexten zusammenhängen, in denen bestimmte Ausdrücke verwendet wurden. In den verschiedenen Debatten um die Sterbehilfe war Ausdruck Euthanasie problematisch. Während es immer wieder Versuche gab, an die frühere Gebrauchstradition als "Tötung aus Erbarmen" anzuknüpfen, wurde er nicht selten mit dem Hinweis auf seine Verwendung während der NS-Zeit und auf die nationalsozialistische Euthanasiepolitik abgelehnt. Euthanasie wird als "belastete" Vokabel betrachtet und unterliegt wegen der Versuche der Reetablierung der älteren Gebrauchstradition einer Bedeutungskonkurrenz. Einerseits wird sie weiter als Stigmavokabel zur Bezeichnung der nationalsozialistischen Verbrechen, andererseits neutraler als Oberbegriff des gesamten Themenkomplexes gebraucht.

Der öffentliche und damit auch der politische Sprachgebrauch ist alles andere als homogen, Wörter sind nicht, außer vielleicht in Fachsprachen, eindeutig. Elite kann, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, eine positive und eine negative Bezeichnung sein, es kommt nur darauf an, wer den Ausdruck mit welcher Absicht benutzt und welche Vorstellung er mit dieser Bezeichnung verbindet.

Fussnoten

Dr. Thorsten Eitz, geboren 1967, studierte Germanistik, Philiologie und Politik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort arbeitet er als Wissenschaftlicher Angestellter im DFG-Projekt "Politische Sprache der Weimarer Republik". Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. das "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" sowie das "Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache".