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Das missglückte Wort | Sprache und Politik | bpb.de

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Das missglückte Wort

Thorsten Eitz

/ 7 Minuten zu lesen

Der Ton macht die Musik - auch und gerade in der Politik. Allein die Wortwahl kann hier über Erfolg oder Niederlage entscheiden. Denn wenn der Ton nicht stimmt, wird oft nicht mehr über die Sache selbst diskutiert - sondern nur noch über deren Bezeichnung.

"Irgendwie suboptimal" sei die ganze Sache mit Hartz-IV kommuniziert worden, urteilte die FAS am 29.8.2004. Doch das H-Wort selbst sei nun nicht mehr so leicht aus der Welt schaffen. (© AP)

Wie erfolgreich Politik ist und ob sie allgemein akzeptiert wird, hängt neben ihren Inhalten oft auch davon ab, wie sie bezeichnet wird. Die Benennung einer politischen Maßnahme, eines Programms, einer Idee kann entscheidenden Einfluss darauf haben, wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen und bewertet wird. Neben erfolgreichen und weithin anerkannten Wörtern wie Demokratie, Chancengleichheit oder soziale Marktwirtschaft und der jeweils damit verbundenen politischen Programmatik, gibt es immer wieder Beispiele für Wortprägungen in der Politik, die als "misslungen" oder "unangemessen" betrachtet werden.

Hartz-IV

So wurde zum Beispiel die umgangssprachliche Prägung Ein-Euro-Job für die "Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung" im Rahmen der Hartz-Reformen noch vergleichsweise harmlos als "irreführend" beanstandet. Schlimmer steht es um die Bezeichnung Hartz-IV selbst. Nicht erst seitdem die Verwicklung des Initiators der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Peter Hartz, in den VW-Skandal öffentlich wurde, ist das Wort stark negativ belastet. Die Reform ist, so der Tenor der gegenwärtigen Debatte, "reformbedürftig". Hartz-IV wird von vielen als Schrecksgespenst, als Stigma, Brandmal der Ausgrenzung, technokratisch, kalt, verfluchter Begriff, "der größte Murks seit der deutschen Einheit" (der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer BERLINER MORGENPOST, 10.2.2010) angesehen. Bezieher von Arbeitslosengeld-II werden pauschal als faul und unmotiviert stigmatisiert. Nicht zufällig wurde der Ausdruck Hartzen in der Bedeutung "rumhängen" Jugendwort des Jahres 2009. Auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen erklärte im Februar 2010: "Der Begriff ist objektiv negativ besetzt. Alle verbinden damit: abhängen oder abgehängt" [Stern 25.2.2010]. Wegen dieser negativen Bewertung und weil er eine "differenzierte gesellschaftliche Debatte über die Langzeitarbeitslosigkeit" behindere, ist es ihr Ziel, dass "die Bezeichnung Hartz-IV allmählich aus dem Sprachgebrauch verschwindet".

Heuschrecken

Als nicht minder kritikwürdig erschien 2005 die vom damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering mit dem Satz "Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter" " [WELT AM SONNTAG, 17.4.2005] geprägte Metapher der Heuschrecken für global agierende Kapitalinvestoren, die weltweit Unternehmen aufkaufen, um sie unter hohen eigenen Gewinnen zu sanieren oder zu zerschlagen. Obwohl sich dieses eingängige Bild im öffentlichen Sprachgebrauch fest etabliert hat, wird der Ausdruck immer wieder in die Nähe von NS-Tiervergleichen – also etwa Judensau, Maden, Ungeziefer – gerückt. Eine ausführliche Auseinandersetzung hierzu hat der Sprachforscher Uwe Pörksen für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel verfasst [Externer Link: zum Beitrag auf spiegel.de].

Herdprämie

Seit 2007 ist der "Kampfbegriff" Herdprämie [WELT AM SONNTAG, 3.6.2007] umstritten, der von der SPD in der Diskussion um das sogenannte Betreuungsgeld für Mütter, die ihre Kinder zu Hause erziehen, geprägt wurde. Neben Herdprämie etablierten sich weiterer diffamierende Kritikvokabeln wie Aufzuchtprämie [DIE WELT, 8.11.2007] und Karnickelprämie [ZEITmagazin, 2.8.2007] oder Gluckengehalt [TAZ, 1.11.2007], mit denen nicht nur die SPD, sondern auch Bündnis 90/Die Grünen und die Linkspartei das geplante Betreuungsgeld und das vermeintlich sich darin ausdrückende konservative Familienbild der Union attackierten. Der familienpolitische Sprecher der Unionsfraktion Singhammer sah in dem Ausdruck Herdprämie eine "intolerante Herabwürdigung eines millionenfach gewählten Lebensmodells" [STUTTGARTER NACHRICHTEN, 18.5.2007], Joachim Hermann (CSU) nannte ihn "einen absolut blödsinnigen Begriff" [ddp, 16.5.2007], der Augsburger Bischof Mixa bezeichnete ihn als "eine schlimme Diffamierung und Respektlosigkeit gegenüber Eltern" [ddp, 6.6.2007]. Anfang 2008 wurde der Ausdruck Herdprämie von Sprachwissenschaftlern mit der Begründung, dass das Wort Eltern, besonders aber Frauen herabsetze, zum Unwort des Jahres 2007 gewählt. Die Ausdrücke Herdprämie, Gluckengehalt und Karnickelprämie waren durch ihren bildhaften Charakter besonders geeignet, die familienpolitischen Vorstellungen der Union polemisch anzugreifen. Anders als etwa die allseits abgelehnte Bezeichnung Hartz-IV wurden sie von den Gegnern der Unionsposition nicht als missglückte Wörter betrachtet, sondern dienten durch die schlagwortartige plastische Komprimierung der eigenen Kritik der Mobilisierung der eigenen Anhänger.

Unwörter des Jahres

Unwort des Jahres 2007: Herdprämie. (© AP)

Generell bietet die Liste der Unwörter des Jahres eine Vielzahl derartiger Bezeichnungen, die als "misslungen" gelten und häufig mit "menschenunwürdiger Attitüde" gebraucht werden. So wurde z.B. mit dem "belasteten" Ausdruck Überfremdung in der Asyldebatte Anfang der neunziger Jahre gegen eine liberalere Asylpolitik polemisiert, Umbau des Sozialstaates sollte 1996 einen tatsächlich geplanten Abbau des Sozialstaates sprachlich verdecken, Ich-AG und Humankapital verschleierten nach der Jahrtausendwende die Ökonomisierung des Menschen, mit freiwillige Ausreise wurde die euphemistische Behördenbezeichnung für abgelehnte Asylbewerber kritisiert. Immer wieder beanstandet wurden auch Ausdrücke des wirtschaftspolitischen Diskurses wie schlanke Produktion, Freisetzungen, biologischer Abbau, sozialverträglicher Stellenabbau, Flexibilisierung, Outsourcing, Belegschaftsaltlasten, überkapazitäre Mitarbeiter und Smartsourcing, die verschleiern sollten, dass damit Entlassungen gemeint waren [Externer Link: zur Webseite der Gesellschaft für deutsche Sprache ].

Deutsche Leitkultur

Am ausführlicher dargestellten Beispiel des Ausdrucks (deutsche) Leitkultur lässt sich anschaulich zeigen, wie wichtig die Wortwahl in der politischen Auseinandersetzung ist. Den Ausdruck Leitkultur prägte ursprünglich der Goettinger Politologe Bassam Tibi für seine Vorstellung, dass sich in heterogenen Einwanderungsgesellschaften Migranten den herrschenden kulturellen Normen anzupassen hätten, ohne die eigene Kultur aufgeben zu müssen.

Als im Sommer 1998 in Baden-Württemberg der muslimischen Lehramtsanwärterin Ludin vom zuständigen Stuttgarter Oberschulamt die Einstellung als Lehrerin verweigert wurde, weil sie im Unterricht ein Kopftuch als Ausdruck ihres islamischen Glaubens tragen wollte, entwickelte sich in der Bundesrepublik eine bis heute andauernde kontroverse Debatte um Fragen nach Religionsfreiheit und Integrationspolitik. In einem Beitrag für die Berliner Zeitung [BERLINER ZEITUNG, 22.6.1998] verwendete der damalige Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) in diesem Zusammenhang zum ersten Mal öffentlich den Ausdruck Leitkultur. Das wenig umstrittene Schlagwort wurde brisant, als es der Fraktionsvorsitzende der CDU Friedrich Merz am 16. Oktober 2000 als Programmvokabel zur Integrationspolitik der CDU in seiner Bundestagsrede verwendete. Er forderte, "Zuwanderer, die auf Dauer hier leben wollten, müssten sich einer gewachsenen, freiheitlichen deutschen Leitkultur anpassen".

In der darauf folgenden öffentlichen Diskussion wurde die Frage nach der "eigentlichen Bedeutung" des Ausdrucks deutsche Leitkultur gestellt, der u.a. als fragwürdig [DIE ZEIT, 26.10.2000], vage [TAZ, 21.11.2000], skurril [DIE ZEIT, 9.11.2000], unsinnig [TAZ, 27.10.2000], kriminell [TAZ, 27.10.2000], verschleiernd attribuiert wurde und als Unwort, das "genauso belastet" sei wie "Lebensraum oder Untermensch" [TAZ, 2.11.2000], aufgefasst wurde. Der stellvertretende Vorsitzende der FDP, Rainer Brüderle, erklärte, Leitkultur suggeriere einen "Überlegenheitsanspruch", den es nicht gäbe [Externer Link: spiegel.de]. Die Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, bemängelte, das Wort enthalte eine "falsche Botschaft" [Externer Link: spiegel.de]. Obwohl die Reaktionen auf die Forderung des Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU zumeist negativ waren, avancierte das Schlagwort deutsche Leitkultur in der Folge zu einem Fahnenwort der Union – und einem Stigmawort ihrer Gegner. Dass es auch innerhalb der CDU nicht unumstritten war, zeigte die Ablehnung der Bezeichnung durch den ehemaligen Generalsekretär der CDU, Heiner Geißler, und dessen Versuch, anstelle von deutscher Leitkultur das Wort Verfassungspatriotismus als Alternativvokabel zu etablieren, eine Prägung von Dolf Sternberger. Der damalige Vorsitzende der baden-württembergischen CDU-Fraktion, Günther Oettinger, schlug vor, statt von einer deutschen Leitkultur von einer "Kultur des Abendlandes" [TAZ, 26.10.2000] zu sprechen. Für die Ausländerbeauftragte Barbara John (CDU) war der "Begriff einer deutschen Leitkultur" Ausdruck "einer "primitiven Vorstellung von Integration" [TAZ, 25.10.2000].

Der Bundesvorsitzende der Republikaner, Rolf Schlierer, befürwortete hingegen die Verwendung des Ausdrucks: "Die Anerkennung der deutschen Leitkultur müsse der kleinste gemeinsame Nenner in der gegenwärtigen Zuwanderungsdebatte sein." [Externer Link: rp-online.de] Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hingegen kritisierte die "alberne Diskussion" über den "bürokratischen Begriff deutsche Leitkultur", denn "in einer globalisierten Welt muss Kultur offen sein" [Externer Link: spiegel.de]. Auch Gregor Gysi von der PDS lehnte die Verwendung der Vokabel als "zu verwerfen und gefährlich" ab und stellte dem Konzept einer deutschen Leitkultur das einer "europäischen Kultur" gegenüber [Externer Link: welt.de]. Der damalige Präsident des Zentralrats der Juden, Paul Spiegel, bezweifelte, dass in der Bundesrepublik "die richtigen Lehren aus der Vergangenheit gezogen wurden", und kritisierte den Sprachgebrauch von Unionspolitikern und die Verwendung von Ausdrücken und Slogans wie "deutsche Leitkultur", "nützliche Ausländer" oder "Kinder statt Inder" als "Beispiele von Elite-Fremdenfeindlichkeit, die sich ganz bestimmt nicht zum demokratischen Vorbild eigneten". [Externer Link: spiegel.de]

Trotz aller Kritik hielt die CDU zunächst am Ausdruck deutsche Leitkultur fest. Angela Merkel definierte ihn 2001 unter Verwendung von Hochwertvokabeln wie "Bekenntnis zur Nation, zum Vaterland, zu weltoffenem Patriotismus, zu Toleranz und Zivilcourage". [Externer Link: arte.tv] Dem Fahnenwort der Union deutsche Leitkultur setzten Bündnis90/Die Grünen das in der Einwanderungsdebatte bereits etablierte Schlagwort Multikulturelle Gesellschaft entgegen. In der partei-internen Debatte wurde diese Vokabel jedoch als ebenso "unscharf" wie die deutsche Leitkultur bezeichnet, da sie "zu viele Interpretationsmöglichkeiten" biete und "missverständlich" sei. Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel warnte daraufhin davor, die Zuwanderungsdebatte mit "unglücklichen Formulierungen" zu belasten. "Leitkultur" und "Multikulti" seien Schlagworte, die mit Inhalten gefüllt werden müssten.

Zur Diskussion um die – wohl in Anlehnung an die freiheitlich demokratische Grundordnung nun als freiheitlich attribuierte – deutsche Leitkultur erklärte Friedrich Merz 2001: "Einwanderung und Integration von Ausländern, die wir wollen und die wir fördern müssen, braucht Orientierung an allgemein gültigen Wertmaßstäben" [Externer Link: welt.de]. Nur wenig später stellte die ZEIT [31.5.2001] fest: "Die Idee, die 'deutsche Leitkultur' zum Maßstab für Integration zu erklären, musste scheitern".

Nachdem Merz diese Relativierung der Verwendung von deutsche Leitkultur vorgenommen hatte, verlor die öffentliche Auseinandersetzung deutlich an Brisanz, der Streit um den "unseligen Begriff" galt als ausgestanden. Er blieb jedoch problematisch. 2007 verankerte die CDU den "umstrittenen Begriff" Leitkultur in ihrem Grundsatzprogramm, und noch 2009 lehnte der Kanzlerkandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier die Vokabel ab und schlug vor, statt dessen von einer Nationalkultur zu sprechen. Der Ausdruck deutsche Leitkultur war in der öffentlichen Auseinandersetzung vor allem deshalb so umstritten und wurde als "missglückte" Prägung angesehen, weil er einerseits als euphemistisch und damit die Absichten der Union in der Integrationspolitik verschleiernd galt, und weil er andererseits zum Teil Assoziationen an die nationalsozialistische Ideologie und deren sozialdarwinistischer Überlegenheitsvorstellungen weckte.

Fazit

Systematisch betrachtet werden politische Bezeichnungen und damit nicht selten auch die Politik, für die sie stehen, in der Öffentlichkeit vor allem dann als "misslungen" betrachtet und kritisiert, wenn sie als Euphemismen, also verschleiernd oder beschönigend, angesehen werden, wenn es sich um "belastete" Ausdrücke, NS-Vergleiche oder Herabwürdigungen, Wörter der Amts- oder sonstigen Fachsprachen handelt oder wenn sie als nicht eindeutige, vage und inhaltsleere Slogans oder Modewörter empfunden werden.

Fussnoten

Dr. Thorsten Eitz, geboren 1967, studierte Germanistik, Philiologie und Politik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dort arbeitet er als Wissenschaftlicher Angestellter im DFG-Projekt "Politische Sprache der Weimarer Republik". Zu seinen Veröffentlichungen gehören u.a. das "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" sowie das "Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache".