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Verteilungsdimensionen - Verteilung von was? | Verteilung von Armut + Reichtum | bpb.de

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Verteilungsdimensionen - Verteilung von was?

Gerhard Bäcker Ernst Kistler

/ 11 Minuten zu lesen

Die Verfügung über ein ausreichendes und kontinuierlich fließendes Einkommen, ist eine entscheidende Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben und gesellschaftliche Teilhabe. In der Sozialberichterstattung besteht jedoch Konsens, dass die Betrachtung von Einkommen und Vermögen um den Aspekt der konkreten Lebensbedingungen der Bevölkerung erweitert werden muss.

Seniorenpflege zu Hause: Einkommen und Vermögen sagen nicht automatisch etwas über die Lebenslage des Einzelnen aus, denn selbst ein hohes Einkommen relativiert sich, wenn die Betroffenen behindert oder pflegebedürftig sind und das Einkommen vorrangig für Betreuung und Pflege ausgegeben werden muss. (© picture-alliance/dpa, Themendiens)

Einkommen, Vermögen, Lebenslage

In der Verteilungsforschung sowie in der Sozial- und Armutsberichterstattung wurden in den letzten Jahrzehnten verschiedene konzeptionelle Ansätze entwickelt. Die wohl wichtigsten sind der Ressourcenansatz (mit den monetären Ressourcen Einkommen und Vermögen), der Lebenslagenansatz und − eng verwandt − der Teilhabeansatz. Diese Konzepte sind keine Gegensätze, sondern sie ergänzen sich.

In einer entwickelten, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland müssen die meisten für die persönliche Lebensführung notwendigen Güter und Dienstleistungen gekauft werden. Die Verfügung über Geld, d.h. über ein ausreichendes und kontinuierlich fließendes Einkommen, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Lebensbedingungen der Bevölkerung. Bei Verteilungsanalysen − auch die Messung von Armut oder Reichtum in einer Gesellschaft ist nichts anderes als eine spezielle Form von Verteilungsanalysen − steht deshalb die Untersuchung der Einkommen im Vordergrund.

Um die materielle oder umfassender die soziale Lage von Individuen, Haushalten und sozialen Gruppen in der Bevölkerung zu beschreiben und miteinander zu vergleichen, darf aber nicht allein auf das Einkommen Bezug genommen werden, das den Personen bzw. Haushalten zur Verfügung steht. Einsichtig ist, dass neben den Einkommen auch die Vermögen, also der Bestand an Geld oder geldwertem Besitz (Geldvermögen, Immobilien, Betriebsvermögen) entscheidend zur materiellen und sozialen Lage beitragen. Vermögen ist dabei einerseits − für einen (allerdings sehr kleinen)Teil der Bevölkerung − eine, ja die wichtigste Einkommensquelle in Form von Zinsen und Wertsteigerungen. Andererseits kann zum Lebensunterhalt eventuell Vermögen auch aufgelöst und dadurch Einkommen generiert werden (vgl. "Interner Link: Vermögensverteilung").

Einkommen und Vermögen lassen sich als monetäre Ressourcen bezeichnen. Bestand und Zufluss an Ressourcen sagen jedoch noch nicht automatisch etwas darüber aus, wie diese Ressourcen tatsächlich verwendet werden und wie sie sich in einer bestimmten Lebenslage niederschlagen: Denn es geht nicht allein darum, wie viel Geld einer Person oder einem Haushalt zur Verfügung steht, sondern zu welchem Ergebnis der Einsatz der Ressourcen führt. Zur Erläuterung hier nur kurz drei Beispiele:

  • Selbst ein hohes Einkommen relativiert sich, wenn die Betroffenen behindert oder pflegebedürftig sind und das Einkommen vorrangig für Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen verausgabt werden muss.

  • Auch ist nicht ausgeschlossen, dass in einzelnen Familien das Einkommen unwirtschaftlich eingesetzt oder unausgewogen unter den Haushaltsmitgliedern verteilt wird.

  • Auf der anderen Seite kann bei einem Geldmangel der Lebensstandard durch Kreditaufnahme oder Unterstützung aus dem familiären und sozialen Umfeld gehalten werden.

In der Sozialberichterstattung besteht insofern Konsens, dass die Betrachtung von Einkommen und Vermögen − am besten sogar in kombinierter Form − um den Aspekt der konkreten Lebensbedingungen erweitert werden muss. Konzepte wie der Lebenslagenansatz oder der Teilhabeansatz fragen danach, ob bei der Versorgung der Menschen mit Nahrung, Bekleidung, Wohnraum, Wohnungseinrichtung, Leistungen des Gesundheits- und Sozialwesens Mindeststandards erreicht werden. Solche Ansätze berücksichtigen darüber hinaus, ob die Menschen ausreichend am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben können. Dies betrifft so zentrale Bereiche wie Arbeit, Bildung, Freizeitgestaltung, soziale Beziehungen und Information und gerade hier sind auch internationale Vergleiche wichtig (vgl. "Interner Link: Internationaler Vergleich").

Die Sozialberichterstattung unterscheidet zwischen folgenden Konzepten:

  • Ressourcen-Ansatz,

  • Lebenslagen-Ansatz und

  • Teilhabe-Ansatz

Es ist zu betonen, dass diese konzeptionellen Ansätze keine Gegensätze sind, sondern sich idealerweise ergänzen sollten. Nur bei Betrachtung aller Ebenen lässt sich z. B. die soziale Situation der von Armut betroffenen Menschen in einer Art beschreiben, die die Handlungsfelder einer Armutsbekämpfung zu bestimmen erlaubt.

Ressourcenansatz − Einkommen und Vermögen

Geldscheine, Goldmünzen und Juwelen: Neben der Verteilung von Einkommen beschäftigt sich die volkswirtschaftliche Analyse traditionell auch mit der Verteilung der Vermögen. (© picture-alliance, Markus Scholz)

Klassische Verteilungsanalysen in der Volkswirtschaftslehre beziehen sich auf die monetären bzw. "geldnahen" Ressourcen Einkommen und Vermögen. Das gilt auch für die Untersuchungen zur Verbreitung von Armut und Reichtum in einer wohlhabenden Gesellschaft. Ganz allgemein lässt sich sagen, dass heute eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ohne ausreichendes Einkommen nicht möglich ist (Eine Rückkehr zur Subsistenzwirtschaft ist angesichts der bestehenden Bevölkerungsdichte nicht mehr realistisch).

Einkommen

Wenn von Einkommen geredet wird, sind damit verschiedene Einkommensarten gemeint. An Einkommensarten können folgende unterschieden werden (vgl. Abbildung "Einkommensarten"):

  • Erwerbseinkommen,

  • Sozialeinkommen und

  • private Übertragungen.

Zu den Erwerbseinkommen zählen sowohl die Arbeitnehmereinkommen (Löhne und Gehälter) als auch die Kapitaleinkünfte (Zinsen, Gewinne, Mieten, Pachten). Bei den Sozialeinkommen handelt es sich um sozialstaatliche Transfers (insbesondere Leistungen der Sozialversicherung und der Grundsicherung). Für private Übertragungen schließlich sind Unterhaltszahlungen typisch.

Einkommen in Deutschland (Interner Link: Grafik zum Download) (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die Aufgabe, die Vielzahl der Einkommensarten, die ja nicht nur regelmäßig fließen, sondern auch sporadisch anfallen können (wie Prämien, Nachzahlungen usw.), statistisch präzise zu erfassen, ist durchaus nicht einfach. Zu entscheiden ist auch, wie mit einem selbst genutzten Wohneigentum umzugehen ist. Die Betroffenen ersparen sich die Mietzahlung und dadurch erhöht sich faktisch ihr Einkommen.

Und es kommt auch darauf an, wie die Menschen ihr Einkommen erhalten. Es macht z. B. einen qualitativen Unterschied, ob ein eigenes, kontinuierliches Arbeitseinkommen bezogen wird, über das man selbst verfügen kann, oder ob die Existenzsicherung von familiären Unterhaltsleistungen, z.B. des Ehemannes für seine nichterwerbstätige Frau, abhängig ist. Es ist auch ein Unterschied im Grad der Eigenständigkeit, Verlässlichkeit und Planbarkeit der Lebensführung, ob z.B. ältere Menschen mit einer Rente rechnen können, die den Lebensstandard sichert, auf die ein Rechtsanspruch besteht und die automatisch der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst wird, oder aber ob die Betroffenen auf bedürftigkeitsgeprüfte, womöglich von Ermessensentscheidungen abhängige Fürsorgeleistungen angewiesen sind. Als entwürdigend kann es empfunden werden, von privater Wohltätigkeit oder karitativer Barmherzigkeit abhängig zu sein.

Schließlich stellt sich die Frage nach den mit der Einkommenserzielung verbundenen Arbeitsbelastungen: Man denke etwa an die Entlohnung im Bergbau, die zwar überdurchschnittlich hoch ist, aber mit dem Risiko von gesundheitlichen Schäden und einer niedrigen Lebenserwartung verbunden war. Auch macht es einen Unterschied, ob ein bestimmtes Einkommen nur durch Überstunden oder Nebentätigkeiten erreicht werden kann, oder ob dieses Einkommen durch Zinserträge aus Vermögen erworben wird (so genannte "arbeitslose" Einkommen). Arbeiten in einer Familie beide Elternteile kann der tatsächliche Zuwachs an disponiblem Einkommen recht gering sein, denn die Kosten für Kinderbetreuung, für ein zweites Kfz im Haushalt, für Kantinenernährung usw. müssen gegengerechnet werden.

Vermögen

Neben der Verteilung von Einkommen beschäftigt sich die volkswirtschaftliche Analyse traditionell auch mit der Verteilung der Vermögen (vgl. ausführlich "Interner Link: Vermögensverteilung"), dies aber in weitaus geringerem Maße als mit der Analyse der Einkommensverteilung. Die Datenlage zur Vermögensverteilung ist dabei nochmals erheblich schlechter als diejenige zur Einkommensverteilung. Vermögen ist dabei eine Art "geronnenes" Einkommen, also eine Bestands- und keine Stromgröße. Zwischen beiden besteht ein relativ enger, doppelter Zusammenhang: Wer viel verdient, ist einerseits eher in der Lage zu sparen und so Vermögen zu akkumulieren. Andererseits führt Vermögen normalerweise zu Einkommen. Aus verteilungspolitischer Perspektive kann dieser doppelte Zusammenhang auch als "Teufelskreis" betrachtet werden: Wirkliche Erfolge im Sinne einer relevanten Vermögensbildung auch bei den unteren Einkommensschichten sind jedenfalls bisher weitgehend ausgeblieben. Immer noch verfügen sehr viele Haushalte über kein relevantes und viele über ein negatives Vermögen (Nettoschulden).

An Vermögensarten können folgende unterschieden werden:

  • Geldvermögen,

  • Immobilienvermögen,

  • Gebrauchsvermögen und

  • Betriebsvermögen.

Das Grundproblem aller Untersuchungen und Statistiken zur Vermögensverteilung besteht in der Erfassung und Bewertung der Vermögen. Selbst wenn die Angaben zum Vorhandensein von Vermögen (Erfassungsproblem) in Befragungen ehrlich und vollständig wären, gibt es bei der Bewertung erhebliche Schwierigkeiten: Was ist der Pkw noch wert und was das Gemälde im Wohnzimmer? Wie viel ist für eine Immobilie zu veranschlagen, die nicht gerade erst gekauft wurde (wo also ein aktueller Marktwert nicht bekannt ist)? Was sind der Fuhrpark, die Anlagen, der Kundenstamm usw. eines Handwerksbetriebs wert?

Mit der Begründung, dass solche Probleme nicht lösbar seien, hat sich die Bundesregierung nach einem höchstrichterlichen Urteil zumindest vorübergehend von der Erhebung der Vermögensteuer verabschiedet, obwohl in diesem Urteil eigentlich nur eine bessere Bewertung der Vermögenstitel verlangt war. Ohne Vermögensteuer gibt es aber keine Vermögensteuerstatistik mehr − und damit wird das Erfassungsproblem nochmals größer.

Die wichtigsten Informationen zur Vermögensverteilung in Deutschland bietet die Einkommens- und Verbrauchsstatistik (EVS) des Statistischen Bundesamtes. Angesichts der skizzierten Probleme beschränkt sich die EVS im Kern jedoch auf die Erfassung und Bewertung von Geld- und Immobilienvermögen. Aktienbesitz bleibt weitgehend außen vor, andere Formen von Betriebsvermögen ganz. In den meisten Untersuchungen zur Vermögensverteilung werden auch die Ansprüche an die Sozialversicherung nicht zum Vermögen gezählt. Sie sind − im Gegensatz zu anderen Versicherungen bzw. Vermögensformen − nicht verkauf- und vererbbar und haben in einer nach dem Umlagesystem finanzierten Alterssicherung (Generationenvertrag) auch einen anderen Charakter.

Die Ungleichverteilung der Vermögen ist wesentlich ausgeprägter als diejenige der Einkommen und auch wesentlich größer als es in dem nachfolgenden Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschildert wird (vgl. "Interner Link: Vermögensverteilung"): "Mehr als die Hälfte der Deutschen hat vor allem Schulden, die reichsten zehn Prozent bauen ihren Anteil am Gesamtvermögen aus. Die Vermögen in Deutschland sind offenbar zunehmend ungleich verteilt. Die oberen zehn Prozent der Haushalte verfügen im Jahr 2013 über 51,9 Prozent des Nettovermögens. Im Jahr 1998 waren es noch 45,1 Prozent. Grundlage der Daten ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die alle fünf Jahre durchgeführt wird. Zuletzt war sie im Jahr 2013 erhoben worden. Die unteren 50 Prozent der Haushalte verfügten demnach 2013 über ein Prozent des Nettovermögens in Deutschland, im Jahr 1998 waren es noch 2,9 Prozent gewesen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.01.2016). Im neuesten Bericht von OXFAM (2020) steht: "Auch die Vermögensungleichheit ist in Deutschland weiterhin hoch – EU-weit ist sie nur in Irland und Lettland ähnlich groß. Laut aktuellen Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) verfügte die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung zusammen im Jahr 2017 über nur 1,3 Prozent des Gesamtvermögens. Den reichsten 10 Prozent gehörten gemeinsam 56 Prozent des Vermögens. Innerhalb dieser Gruppe ist das Vermögen nochmals extrem konzentriert: Die fünf reichsten Menschen bzw. Familien verfügten über mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der hiesigen Bevölkerung. Die jährlich aktualisierten Angaben der Credit Suisse für Deutschland geben keinen Hinweis darauf, dass sich die Vermögensverhältnisse seit 2017 wesentlich verändert hätten."

Lebenslagenansatz − Teilhabe, Deprivation

Eine Demonstratin fordert Teilhabe statt Hartz IV: Der Lebenslagenansatz geht über die monetären Ressourcen hinaus. Es werden neben Lebensbedingungen (Gesundheit, Ernährung, Wohnraum etc.) auch die soziale Teilhabe und die Verwirklichungschancen betrachtet. (© dpa)

Der Lebenslagenansatz geht über die monetären Ressourcen hinaus. Es werden Lebensbedingungen wie Gesundheit, Ernährung, Bildungsniveau, Wohnraum und -umfeld, Versorgung mit Dienstleistungen und Umweltbelastungen analysiert. Gefragt wird nach der sozialen Teilhabe, den Verwirklichungschancen (in welchem Ausmaß einzelne Bevölkerungsgruppen einen Zugang zu kulturellen und sozialen Angeboten haben) und wie stark ihre Einbindung in soziale Netze ist.

Wenn davon ausgegangen wird, dass Höhe und Verteilung von Einkommen und Vermögen für die Lebenssituation der Menschen von entscheidender Bedeutung sind, so heißt dies allerdings nicht, die Verfügung über Geld sei der ausschließliche Bestimmungsfaktor für die individuelle Lebenslage und die Höhe des Volkseinkommens sei der treffende Indikator für die Wohlfahrt einer Gesellschaft. Für die Lebenslage einer Person ist der Grad der Versorgung und Teilhabe bzw. Deprivation/Exklusion in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen entscheidend.

Zentrale Lebensbereiche:

  • Ernährung und Bekleidung (Qualität der Versorgung mit Lebensmitteln und Bekleidung)

  • Wohnung (Größe, Ausstattung, Qualität),

  • Wohnumfeld (Erreichbarkeit, Quartier),

  • Mobilität (Fahrzeuge, Verkehrsmittel),

  • Arbeitsmarkt (Erwerbsteilhabe, Qualität der Arbeit, Arbeitslosigkeit),

  • Sicherheit (Kriminalität),

  • Bildung (schulische und berufliche Ausbildung, Weiterbildung),

  • Gesundheit (Erkrankungen, Behinderungen, Pflegebedürftigkeit),

  • Freizeit (Urlaub, Naherholung),

  • Umwelt (Umweltbelastungen wie Lärm, schlechte Luft usw.),

  • Netzwerke (Familie, Nachbarschaft, soziale Kontakte),

  • Engagement (kulturelle, soziale und politische Teilhabe)

Um eine Aussage über die Lebensqualität treffen zu können, müssen die Lebens-, Arbeits-, und Umweltbedingungen, unter denen das Einkommen erzielt wird, in Rechnung gestellt werden. Diese Lebensbereiche lassen sich an dieser Stelle nicht abschließend aufzählen, entscheidend sind aber die folgenden Dimensionen:

  • Von Bedeutung ist, welches Maß an öffentlicher Infrastruktur bzw. öffentlichen Dienstleistungen bereitsteht und ohne direkte bzw. ohne kostendeckende Bezahlung genutzt werden kann − und auch tatsächlich genutzt wird. Das betrifft so wichtige Bereiche wie das Schul- und Hochschulwesen, die Versorgung mit sozialen Diensten und Einrichtungen, Kultur und Freizeitgestaltung sowie das öffentliche Verkehrswesen.

  • Der Grad von Versorgung und Teilhabe kann sich in den genannten Dimensionen unterscheiden. Denn es hängt von den Entscheidungen der Personen ab, welche Schwerpunkte im Einsatz des Einkommens (aber auch des persönlichen Zeitbudgets) gesetzt werden: Die einen legen weniger Wert auf Bekleidung und Wohnung, aber mehr Wert auf einen Urlaub und den Besuch kultureller Veranstaltungen, für die anderen sind die Verfügung über einen PKW und eine hochwertige Wohnungsausstattung wichtig, nicht aber die Qualität der Ernährung. In aller Regel besteht jedoch zwischen den einzelnen Dimensionen eine enge Verbindung: Personen mit einer guten Bildung und einem stabilen Beschäftigungsverhältnis wohnen und ernähren sich besser und sind in der Gesellschaft stärker integriert als Personen, die keine qualifizierte Ausbildung aufweisen und deren Erwerbsteilhabe aufgrund von Arbeitslosigkeit nicht gesichert ist.

  • Auch bei den Belastungen durch Umweltverschmutzungen zeigt sich dieser Zusammenhang: Derartige, die Lebensqualität mindernde Erscheinungen (ebenso wie z. B. belastende Arbeitsbedingungen) treffen nach aller Evidenz insbesondere jene Gruppen am stärksten, die auch schon mit Blick auf andere Lebenslagendimensionen und auf die materiellen Ressourcen Einkommen und Vermögen schlechter gestellt sind. Das ist nicht zuletzt Folge der sozialräumlichen Trennung (Segregation) in und zwischen den Wohnquartieren.

Stark beeinflusst von der Soziale-Indikatoren-Bewegung und in Deutschland vor allem auf den Arbeiten von G. Weisser aufbauend, hat sich seither der so genannte Lebenslagen-Ansatz in der Sozial- bzw. Armuts- und Reichtumsberichterstattung etabliert. Die Arbeiten von A. Sen (2002) haben in neuerer Zeit unabhängig davon das Konzept der "Verwirklichungschancen" hervorgebracht. Das "Lebenslagenkonzept" in der Fassung von Weisser misst individuelle Wohlfahrt an einem multidimensionalen "Handlungsspielraum", den Individuen bei der Entfaltung und Befriedigung wichtiger Interessen haben. Im Ansatz von Sen bilden Verwirklichungschancen ("Capabilities") die Zielgröße von Wohlfahrt. Sen versteht darunter die praktische Freiheit der Menschen, "ein von ihnen als sinnvoll erkanntes Leben zu führen" . Wiederum stark vereinfacht bedeutet das, dass nicht nur zu berücksichtigen ist, ob z. B. in ärmeren Regionen öffentliche Dienstleistungen angeboten werden, sondern auch, ob schwächere soziale Gruppen diese auch nutzen können (Preis, Entfernung, Information usw.).

Wie ersichtlich beruhen die Lebenslage- und Teilhabekonzepte auf äußerst komplexen Analysen. Denn es muss entschieden werden, welche Dimensionen der Lebenslage erfasst werden und welches Gewicht den einzelnen Dimensionen in einer Gesamtbewertung zukommt. Gleichermaßen schwierig ist es, die jeweiligen Dimensionen quantitativ zu messen. Eine empirisch repräsentative Erfassung der Verteilung der Lebenslagen und ihrer Entwicklung über die Zeit ist deshalb kaum möglich. Hier sind exemplarische quantitative und qualitative Untersuchungen erforderlich, die die Lebensbedingungen der jeweils von unterschiedlichen Problemen betroffenen Bevölkerungsgruppen gesondert darstellen. Zu denken ist dann nicht zuletzt an die Lebenslage von körperlich und geistig Behinderten, Wohnungslosen, Nichtsesshaften, Strafentlassenen, Drogen- und Alkoholabhängigen sowie psychisch Kranken.

Im Umfeld der theoretischen und methodischen Entwicklungen über den Ressourcenansatz hinaus haben sich verschiedenste Berichterstattungstraditionen etabliert, die hier nicht näher diskutiert werden sollen (Lebensstandardkonzept, Exklusion etc.). Ein Ansatz sei dennoch erwähnt, weil er trotz aller Schwierigkeiten der methodischen Umsetzung das Anliegen einer Erweiterung von Verteilungsanalysen recht plastisch macht. Gemeint ist die Analyse von sozialer bzw. materieller Deprivation.

Typisch für diesen Ansatz ist die Durchführung von Bevölkerungsumfragen, in denen danach gefragt wird, ob der Haushalt bestimmte Dinge regelmäßig mache bzw. über bestimmte Dinge verfüge, die als Beispiele für ein gesellschaftliches Existenzminimum angesehen werden. Beispiele sind die Verfügung über einen Fernseher, ein Auto etc. oder bezogen auf Kinder ein eigenes Zimmer, warme Winterschuhe etc. oder in Bezug auf Aktivitäten: Ein mindestens einwöchiger Urlaub im Jahr, jeden zweiten Tag eine vollwertige warme Mahlzeit etc. Nachgefragt wird dann bei denjenigen, die hier Defizite signalisieren, ob dies aus finanziellen oder (welchen) anderen Gründen der Fall ist.

Ein ganz anderer, wiederum eher ökonomischer Ansatz ist, zu berücksichtigen wofür das Einkommen verwendet wird bzw. verwendet werden muss. Bei der Analyse von Konsumstrukturen geht es z. B. darum, ob arme Haushalte überproportional viel für das Wohnen ausgeben (müssen), oder für Gesundheit und ihnen dadurch zu wenig Geld für eine vernünftige Ernährung oder die soziale und kulturelle Teilhabe verbleibt.

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Gerhard Bäcker, Prof. Dr., geboren 1947 in Wülfrath ist Senior Professor im Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen. Bis zur Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls "Soziologie des Sozialstaates" in der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Empirie des Wohlfahrtsstaates in Deutschland und im internationalen Vergleich, Ökonomische Grundlagen und Finanzierung des Sozialstaates, Systeme der sozialen Sicherung, insbesondere Alterssicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Lebenslagen- und Armutsforschung.

Ernst Kistler, Prof. Dr., geboren 1952 in Windach/Ammersee ist Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie, INIFES gGmbH in Stadtbergen bei Augsburg. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Arbeitsmarktberichterstattung, Demografie, Sozialpolitik, Armutsforschung.