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Aus dem Klassenzimmer in den Dschihad? Radikalisierung und staatliche Reaktionen | Salafismus als Herausforderung für Demokratie und politische Bildung | bpb.de

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Aus dem Klassenzimmer in den Dschihad? Radikalisierung und staatliche Reaktionen

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Als Spitze salafistischer Radikalisierung wird in jüngster Zeit vor allem die Ausreise nach Syrien zur Beteiligung am dortigen Bürgerkrieg wahrgenommen. Die Rückkehr der teils traumatisierten, teils gewaltbereiten Personen nach Deutschland bereitet den Sicherheitsbehörden Kopfzerbrechen. Wie konnte es so weit kommen? Und wie gehen wir mit der Situation um?

"Aus dem Klassenzimmer in den Dschihad? Radikalisierung und staatliche Reaktionen": Dr. Marwan Abou-Taam, Marfa Heimbach, Ahmet Senyurt und Burkhard Freier, auf dem Podium der Fachtagung Salafismus. (© Tobias Vollmer/bpb)

Seit gut drei Jahren tobt in Syrien der Bürgerkrieg. Gerade für die jihadistische, sprich militante Salafistenszene in Europa und in Deutschland ist der blutige Konflikt zu einer weiteren, wichtigen Legitimationsgrundlage geworden. Er schweißt die Extremisten noch enger zusammen und gibt ihnen das vermeintliche große Ziel vor: das Kalifat, der Gottesstaat, der vor allem aufgrund der Erfolge von ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien) greifbar nahe scheint. Und so bleibt es nicht aus, dass der Zustrom auch aus Deutschland in die Kampfgebiete im Nahen Osten unaufhörlich fließt. "Aus dem Klassenzimmer in den Dschihad? Radikalisierung und staatliche Reaktionen" lautete dementsprechend eine von der Islamwissenschaftlerin und Journalistin Marfa Heimbach geleitete Podiumsdiskussion, an der Dr. Marwan Abou-Taam, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Ahmet Senyurt, freier Journalist aus Köln, und Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen, teilnahmen.

Ahmet Senyurt, freier Journalist, Köln (© Tobias Vollmer/bpb)

Letzterer verdeutlichte, dass "Syrien und der dortige Bürgerkrieg das Zugpferd für die gewaltbereite Salafistenszene ist". Das Land sei schnell erreichbar, und wer dort als Kampfeswilliger hinreise, finde Stellen, wo er schnell ausgebildet werde, um dann allzu oft doch nur als "Kanonenfutter" zu enden. Grund für die Teilnahme am Krieg sei aber nicht nur die salafistische Ideologie, oft sei es auch reine Abenteuerlust. Doch die Rückkehrer seien nicht selten desillusioniert, so Freier. Dann aber gebe es auch die, die als potentielle Attentäter in Deutschland besonders in den Blick genommen werden müssten: "Wir sehen durch sie einen neuen Inlandsextremismus entstehen."

Moderatorin Marfa Heimbach, Islamwissenschaftlerin und Journalistin, Köln (© Tobias Vollmer/bpb)

Sie sind in der Regel zwischen 16 und 25 Jahren alt, zu 90 Prozent männlich, zwischen 70 und 80 Prozent haben den deutschen Pass, die meisten aber einen Migrationshintergrund, beschrieb Freier die deutschen Jihadisten, die nach Syrien ausgereist sind. Doch was lockt diese junge Männer – außer der Abenteuerlust – dazu, in den heiligen Krieg zu reisen?, hakte Heimbach nach. Senyurt erinnerte daran, dass es schon Mitte der 1990er-Jahre Männer gab, die in den Jihad nach Bosnien-Herzegowina zogen, um dort gegen die Serben zu kämpfen. "Mittlerweile gibt es ein richtiges logistisches Netzwerk für Jihadisten." Grund für die Teilnahme sei auch, dass aus deren Sicht der "weiße Mann" im Nahen Osten politisch ein Trümmerfeld hinterlassen habe. "Die jungen Leute wollen dort die Welt besser machen. Sie sehen sich als Freiheitskämpfer." Abou-Taam ergänzte, die Ausreisenden würden auch dadurch motiviert, dass sie in Syrien und im Irak erlebten, wie sich eine "Prophezeiung" erfülle: die des Kalifats. "Die jungen Leute sagen: Ich will ein Teil davon sein."

Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (© Tobias Vollmer/bpb)

Doch wie verhindert man die Ausreise? Freier sagte, man müsse den jungen Leuten hierzulande Hilfe in schwierigen Lebenslagen anbieten und ihnen Alternativen zu einem radikalen Leben aufzeigen. "Es gibt Leute, die haben schon vor ihrer Ausreise mehrere Hilferufe gesendet. Wenn sie dann an die Falschen geraten, entgleiten sie uns." Wichtig sei es, über die Situation in Syrien aufzuklären. "Doch junge Leute aufzuhalten kann niemals nur Aufgabe allein der Sicherheitsbehörden sein. Alle Akteure in den Kommunen, die mit Jugendlichen zu tun haben, müssen mitmachen", sagte Freier und verwies auf das neue Präventionsprojekt Externer Link: Wegweiser.

Häufig griffen Extremisten auf junge Leute zu, wenn diese auf der Suche nach Identität seien, ergänzte Senyurt. Abou-Taam bestärkte diese These: "Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe ist oft entscheidender als eine Ideologie." Das aber mache es umso schwieriger, Leute aus der radikalen Salafistenszene herauszuholen, gab Freier zu bedenken. Er verglich die Situation mit Ausstiegsprogrammen für Rechtsextreme. Diese müssten nicht nur ihre Ideologie ablegen, sondern auch das Gefühl der Zugehörigkeit zur rechtsextremen Szene. "Das aber funktioniert nur, wenn wir ihnen eine neue Existenz anbieten."

Abou-Taam warnte aber auch davor, dass eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft bei jungen Menschen zu früh eingreife: Mit Blick auf das Grundgesetz und die Meinungsfreiheit hätten sie das Recht, radikal zu sein: "Es ist eine Gratwanderung zwischen zu frühem und zu spätem Eingreifen durch die Gesellschaft", so Abou-Taam. Was die Lage erheblich erschwere, sei die Tatsache, dass jungen Muslimen eine Identität oft von außen zugeschrieben werden. "Was der Deutsche über den Islam denkt, ist mittlerweile eben oft geprägt durch das Bild, das die Salafisten liefern."

Marwan Abou-Taam, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Mainz (© Tobias Vollmer/bpb)

Einig war man sich auf dem Podium und auch mit dem Publikum, dass Hilfsprogramme über Jahre kontinuierlich angeboten und dementsprechend finanziert werden müssten: "Das müssen wir politisch einfordern", so Abou-Taam, der soziale Projekte und Familienberatung eher empfahl als solche von Sicherheitsbehörden. Dem stimmte Freier zu: "Wir vom Verfassungsschutz können in Krisenfällen beraten, das ist aber nicht unser eigentlicher Auftrag. Wir brauchen in der Tat auch Sozialberater und Psychologen."

Dennoch müsse der Staat auch lernen, sich noch stärker vor möglichen Anschlägen von Syrienrückkehrern hierzulande zu schützen, empfahl der wissenschaftliche Mitarbeiter des rheinland-pfälzischen Landeskriminalamts, Abou-Taam. Zum Problem würden nämlich nicht nur die Rückkehrer, von denen der Staat wisse, dass sie in Syrien waren. "Auch Einzelne sind ausgereist, wovon wir oft gar nichts mitbekommen haben." Es war dann aber ausgerechnet der Verfassungsschützer Freier, der forderte: "Wenn jemand zurückkehrt, muss er beobachtet, aber auch aufgefangen werden."

Fussnoten