"Genderwahn?"
Gender, das ist für Populisten ein rotes Tuch. Der Begriff wird als politisch korrekte Ideologie verschrien und entfacht immer wieder breitenwirksame Debatten. Populisten wettern dabei gegen die Zerstörung der – ihrer Meinung nach – natürlichen gesellschaftlichen Ordnung. Die argumentativen Linien und grundlegende Begriffsfragen rund um Gender und Gender Mainstreaming wurden im Workshop vorgestellt und diskutiert.Gender ist zu einem Schlüsselbegriff populistischer Rhetorik geworden. Zwei Behauptungen sind zentral: Als Ideologie einer erzwungenen Vielfalt zerstört Gender angeblich familiäre Werte. Und die Gender Studies indoktrinieren und zersetzen den rationalen Wissenschaftsbetrieb. Dabei wird stets ein scheinbarer Gegensatz von Natur und Kultur gegeneinander ausgespielt. Für Populisten ist klar: Gender ist eine widernatürliche Entgrenzung. Wie Populisten argumentieren und welche Gegenbilder sie zeichnen, das wurde im Workshop erarbeitet.
Queere Übersexualisierung junger Menschen
Matthias Müller eröffnete den Workshop mit zwei Zitaten aus dem Parteiprogramm der Alternative für Deutschland. Darin heißt es, Gender zerstöre die natürliche Grundlage der Familie und Gender Studies seien ein scheinakademisches Fach, das der Wissenschaftlichkeit an den Universitäten Schaden zufüge. Gender, das sei überdies nicht nur ein Feindbild rechter Populisten, sondern auch bei Evangelikalen, Männerrechtlern und in der sogenannten bürgerlichen Mitte anschlussfähig, so Müller.In Arbeitsgruppen lasen und diskutierten die Teilnehmenden ausgewählte Passagen aus Texten von Gabriele Kuby und Akif Pirinçci. In beiden Texten wird das Motiv geteilt, Gender sei eine perfide Ideologie, welche den natürlichen Verlauf geschlechtlicher Entwicklung infrage stelle und zudem die bürgerliche Kleinfamilie als reproduktiven Kern der Gesellschaft diskreditiere. Queer zu sein, das ist aus dieser Perspektive die genderinduzierte Folge einer Übersexualisierung junger Menschen. Gender wird somit zum Inbegriff einer angeblichen identitären Krise, welche die gesellschaftliche Ordnung, die Normalität insgesamt, bedroht.
Gender, Gender Mainstreaming und das Grundgesetz
In ihrem Input rekapitulierte Prof. Ingrid Jungwirth die Geschichte des Begriffes Gender und wies darauf hin, dass die soziale und kulturelle Konstruiertheit des Geschlechts heute in den Sozialwissenschaften common sense sei. Es folgte ein kurzer Abriss emanzipatorischer Frauenbewegungen nach dem zweiten Weltkrieg. Gender, das sei vor allem ein Set an Verhaltensnormen, die jeden Tag auf’s Neue reproduziert und gelebt würden. Jungwirth erläuterte diesen performativen Ansatz des Doing Gender. Der Begriff des "passing" sei hier zentral: Menschen betrieben großen Aufwand, um in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext als natürlich männlich oder weiblich durchzugehen. Außerdem mahnte Jungwirth an die Gender Studies und die biologischen Voraussetzungen von Geschlecht nicht als Gegensätze zu denken.Dr. Gabriele Kämper konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf die politischen Implikationen des Gender Mainstreaming. Dessen Anspruch sei im Artikel 3 des Grundgesetzes fundiert: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", heißt es. 1994 wurde dieser Passus durch den erklärten Willen, auf die "Beseitigung bestehender Nachteile" hinzuarbeiten, ergänzt. Damit wurde ein grundlegender Handlungszwang auch gesetzlich anerkannt. Die Vereinten Nationen verankerten bereits 1995, die Europäische Union dann im Jahr 1999 Gender Mainstreaming als wesentliches Element der Geschlechtergleichstellung. Gender Mainstreaming bedeute auch konkret, das Grundgesetz umzusetzen, machte Kämper klar.
Ein emotionalisiertes Thema
In der Diskussion kam das Gespräch schnell auf den scharfen Ton aktueller wissenschaftlicher Debatten. Zum Beispiel anhand der Diskussion um den renommierten Kasseler Evolutionsbiologen Ulrich Kutschera, der Gender als Ideologie und "Krebsgeschwür" bezeichnet hatte. Im Plenum wurde beklagt, dass die Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Auseinandersetzung und populistischen Rundumschlägen zunehmend aufgeweicht werde.Ein weiterer Diskussionspunkt war der Diskurs rund um die Kölner Silvesternacht 2015/16. Selbst- und Fremdbilder seien durch die Ereignisse erheblich aufgeheizt worden. Der nordafrikanische, muslimische Mann sei zum rassistischen Spiegelbild einer Mehrheitsgesellschaft geworden, für die Gleichberechtigung als angeblich bereits verwirklichtes, hohes Gut zum vermeintlich selbstvergewissernden Eigenlob gerät. Dies habe am Beispiel Köln unter anderem dazu geführt, dass aus Rechten plötzlich Feministen wurden. Wie aber lässt sich eine Haltung zu den Ereignissen entwickeln? Die Herausforderung bestehe darin, Sexismus ernst zu nehmen und gleichzeitig Rassismus zu vermeiden, verdeutlichte Kämper.
Überdies wurde erörtert, wie sich der eklatant hohe Männer- bzw. Frauenanteil in manchen Berufen aufbrechen ließe. Hier stagniere die Entwicklung. Einige Diskutanten erwähnten den "Girls' Day" an Schulen als hilflosen Versuch, junge Frauen an technische Berufe heranzuführen: mit rosafarbenem Projektmaterial. Es gelte, diese Stereotypen verstärkt pädagogisch zu hinterfragen.
Zudem meldeten sich mehrere Teilnehmende zu Wort, die in genderbezogenen Bildungsprojekten tätig sind. Immer wieder werde in konservativen bis reaktionären Medien der Ruf laut, ihre Projektarbeit führe zu einer Früh- und Übersexualisierung junger Menschen. Antidiskriminierungsarbeit werde so mit bestimmten Sexualpraktiken verknüpft und abgewertet. So gerieten immer mehr Projekte in die Defensive: "Wir müssen jetzt sagen, was mir nicht machen und nicht, was wir eigentlich machen", so der von mehreren Teilnehmenden geteilte Eindruck.
Wie aber kann eine good practice im Umgang mit Gender aussehen, auch vor dem Hintergrund einer zunehmenden Torpedierung von rechtspopulistischen Naturalisten? Eine bessere Lehrerfortbildung wurde an dieser Stelle als Vorschlag eingebracht. Ebenfalls wurde der Wunsch nach Vernetzung und strategischen Partnern laut. Es gehe darum, sich nicht dem Diskurs zu entwenden und Anderen das Feld zu überlassen. Die Emotionalisierung des Themas sei allerorten spürbar, besonders im schulischen Kontext. Gerade hier seien feste Strukturen und Räume der Auseinandersetzung dringend nötig.
Referentinnen:
Prof. Dr. Ingrid Jungwirth, Hochschule Rhein-Waal
Dr. Gabriele Kämper, Leiterin der Geschäftsstelle Gleichstellung des Senats von Berlin
Matthias Müller, Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin (Moderation)