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Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück | Magazin #2019 | bpb.de

Magazin #2019 Vorwort Ein Lied als kleiner Waffenschein Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück Der kurze Brief zum langen Licht 15. März 1989 2018 – Das Jahr, in dem wir erwachsen wurden Zone 1989 war erst der Anfang eines endlosen Kampfes um Demokratie Menschen des Wortes Die friedlichen Revolutionen Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen. Wandtexte Europa Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung Der kleine Trompeter Impressum

Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück

Piotr Buras

/ 3 Minuten zu lesen

1989 steht in Polen nicht nur die gewaltfreie Revolution, die am so genannten Runden Tisch begann und mit der Einberufung der ersten nichtkommunistischen Regierung in Osteuropa im August 1989 ihren Höhepunkt erreichte. Die damals erkämpfte Freiheit hatte zweifellos etwas Einigendes und Erhobenes inne. Sie schuf eine neue, lange ersehnte Grundlage für das Zusammensein der Bürger einer Gesellschaft, die sich für zwei Generationen dem Joch des Kommunismus unterordnen musste. 1989 steht aber nicht nur für Einkunft und Einheit, sondern auch für Konflikt und Zwietracht. So sehr sich die Polen ihrer Rolle als Wegbereiter des Niedergangs des Kommunismus rühmen mögen, in der jüngsten polnischen Geschichte gibt es kaum ein anderes Ereignis, das das kollektive Gedächtnis dermaßen wie 1989 spalten würde. In den letzten 30 Jahren lebten wir im politischen tiefen Schatten von 1989 und erst heute scheint es, als ob sich dieser langsam zurückzuziehen beginne.

Der Kompromiss zwischen zwei verfeindeten Lagern - der Kommunisten, deren Macht bröckelte, sowie der bis dahin illegalen Opposition, die zum Hoffnungsträger der Nation aufstieg - war das Markenzeichen von 1989. Der friedliche, nicht mit Blutzoll bezahlte, Systemübergang: eine Nicht-Revolution mit revolutionären Folgen. Die Eliten der oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc, einer Massenbewegung, die in dieser Form nirgendwo sonst im Ostblock in Erscheinung trat, übten zwar Versöhnung mit den einstigen Feinden, doch die Gesellschaft blieb politisch gespalten. Soziologen sprachen von der "postkommunistischen Trennlinie" die Polen in zwei unterschiedliche Lager teilte. Wer in der ersten (halb)freien Parlamentswahl am 4. Juni 1989 die Kommunisten wählte, würde - so die Faustregel - in den darauffolgenden Jahren für ihre Nachfolgerparteien stimmen. Das Gleiche galt für die Solidarnosc-Wähler. Das Verhältnis zu Kommunismus und 1989 prägte somit nachhaltig die polnische Politik. Nicht links und rechts definiert nach ökonomischen Kriterien, sondern ex-kommunistisch und post-Solidarnosc wurden zu den Erkennungsmerkmalen der politischen Parteien.

Die postkommunistische Trennlinie wich Anfang der Nullerjahre einem neuen politischen Konflikt, bei dem die Erinnerung an 1989 noch mehr im Vordergrund stand. 1989 fungierte nunmehr nicht nur als der zentrale Bezugspunkt, sondern gar der eigentliche Gegenstand der Auseinandersetzung, die das Land bewegte. Es ging um die Deutung der Zäsur von 1989: war dies tatsächlich ein Bruch mit der Vergangenheit und Beginn einer neuen glorreichen Epoche? Oder, ganz im Gegenteil, eine verratene bzw. unvollendete Revolution, die viel mehr Kontinuität mit der kommunistischen Ära erlaubte als die Apologeten der freien Dritten Republik er wahrhaben wollten. Hier standen sich zwei mehr und mehr verfeindete Erblinien der Solidarnosc gegenüber. Zum einen die Liberalen, die nach 1989 das Sagen hatten und die sozial-ökonomische Transformation zu verantworten hatten, mit all ihren Erfolgen, aber auch Schattenseiten. Zum anderen die Konservativen, die das Ausbleiben der scharfen Abrechnung mit den Kommunisten bemängelten, den liberalen Geist verachteten und sich als die wahren Erben der Solidarnosc gerierten. Die persönlichen und milieupolitischen Feindschaften, symbolisiert am stärksten von Donald Tusk und Jaroslaw Kaczynski – zwei Schlüsselfiguren der letzten 20 Jahre der polnischen Geschichte – spielten dabei eine nicht minder wichtige Rolle als die ideologischen Überzeugungen und politischen Programme. Während die einen die Bilanz der post-1989-Ära verteidigen wollten, haben sich die Anderen zum Ziel gesetzt, diese zu überwinden. Die seit 2015 regierende Partei Recht und Gerechtigkeit von Jaroslaw Kaczynski ist die Trägerin der anti-1989 Gegenrevolution.

Ist der Streit um 1989 nach dreißig Jahren heute nicht anachronistisch? Seine wichtigsten Protagonisten nähern sich dem Pensionsalter, oder haben es schon längst erreicht. Bei den Wählern, die in den 90er Jahren geboren sind, sorgen die erbitterten Diskussionen über die Aufarbeitung des Kommunismus, Palastkämpfe aus den frühen 90er und persönliche Feindschaften mit langem Ablaufdatum immer öfter nur für Achselzucken. Laut einer neuen Umfrage sind die zwei größten Parteien – Recht und Gerechtigkeit und Bürgerplattform – die diesen auf 1989 fokussierten Konflikt ausleben, nur bei den älteren Wählern nach wie vor in hohen Gunsten. Die 20-jährigen wollen diejenigen wählen, deren politische Identität wenig mit 1989 zu tun hat: die neue links-liberale Partei "Der Frühling" von Robert Biedron oder die Nationalisten. Es ist ein Zeichen des neuen Zeitgeists - und des Endes der post-1989-Ära. Polen tritt in ein neues Kapitel der Transformation, in dem andere Themen (Ökologie, Generationengerechtigkeit, Gleichheit) die Aufmerksamkeit gewinnen und neue Trennlinien entstehen. 1989 wird in 2019 von vielen gefeiert, von anderen wieder geächtet werden. Seine politische Laufzeit neigt sich aber dem Ende zu.

Fussnoten

Piotr Buras, 1974, Journalist, Autor, Leiter des European Council on Foreign Relations in Warschau. 2008-2012 Korrespondent der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza". Er war u.a. am Institut für Deutschlandstudien der Universität Birmingham tätig.