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Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen. | Magazin #2019 | bpb.de

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Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen.

Jáchym Topol

/ 4 Minuten zu lesen

Dreißig Jahre nach ihrem Debüt kommen Alexander Dumas’ kampferprobte Helden mit dem gleichen Karacho auf die Bühne wie im Band Eins. Ähnlich wie die strapazierten, aber noch lebenden Musketiere kommen mir auch die Nationen vor, die sich vor drei Dekaden aus der Gewaltherrschaft der Sowjetunion befreit haben: hinkende, arg zugerichtete, aber immer noch flinke Fechter auf dem Turnierplatz der europäischen Nationen. Oder doch eher arme Stümper?

Auf einem Turnierplatz?
Wie komme ich darauf?

Die Europäische Union gleicht doch in ihrer Grundidee einem mächtigen Choral, verwebt Freude und Sicherheit miteinander, ist unsere neue Heimat.

Tatsächlich?
Sieht wohl jeder anders.
Zum Beispiel ich ...

Vor dreißig Jahren habe ich meine herrliche Dumas- Zeit genossen, die gespickt war mit Verschwörungen, geheimen Treffen und romantischen Begeisterungausbrüchen. In einem fort habe ich demonstriert und antikommunistische Flugblätter geschrieben. Und gleichzeitig eine Wahnsinnsangst gehabt, die Fresse poliert zu bekommen oder im Kittchen zu landen, wenn nicht beides.

Daher bin ich als EU-Bürger jetzt so glücklich!

Denn ich habe mich an die Freiheit gewöhnt. Eine solche Gewöhnung kann saugefährlich sein. Aber in meinem heißgeliebten Böhmen ist Freiheit seit fast drei Dekaden eine Selbstverständlichkeit. Wir können tatsächlich sagen, was wir wollen, wir haben keine Zensur und können reisen bis zum Abwinken.

Und frei wählen dürfen wir auch.
Sogar jeden Trottel!

Der pro-russisch, pro-chinesisch und anti-europäisch eingestellte tschechische Präsident Zeman sagte über sein Land: "Ein Drittel der Einwohner ist schwachsinnig. Jeder siebte Bürger ist geisteskrank, dement oder alkoholsüchtig, und die Intelligenz der Hälfte der Population liegt unter dem Durchschnitt."

Und um sich seine Wiederwahl zu sichern, dachte sich Präsident Zeman ganz im Geiste der romantischen Literatur ein fürchterliches Gespenst aus, nämlich eine wunderliche Verschwörung gegen die ganze Tschechische Republik.

Dargestellt von Millionen und Abermillionen exotischer Flüchtlinge, die Einreise in das - laut Präsident Zeman von vorwiegend dementem und alkoholkrankem weißem Pöbel bewohnte - Land begehren. Sie kommen nicht durch!

Allerdings wurde die Tschechische Republik von keinem einzigen Geflüchteten anvisiert, alle begaben sich schnurstracks in das benachbarte, freundlichere und natürlich auch reichere Deutschland. In Tschechien bekam das aber keiner mehr mit.

No pasaran!
Und Präsident Zeman wurde erneut von etwa drei Millionen meiner teuren Mitbürger zum Präsidenten gewählt, die ja bereits an den Infobeschuss der prorussischen Trolle gewöhnt sind und die EU wohl aus alter Gewohnheit einstiger Leibeigener für eine neue fremde Obrigkeit halten.

So läuft das!
Nach dreißig Jahren Freiheit.

Bei aller Achtung vor der außerordentlichen Fabulierkunst von Alexander Dumas: auf eine solche Wendung wäre nicht einmal er gekommen.

Während der dreißig Freiheitsjahre wurden uns Tschechen drei Präsidenten beschert.

Unter Václav Havel, dem Dichter, Dramatiker und romantischen Umstürzler, dem Verschwörer gegen das kommunistische Regime und ehemaligen Kriminellen (Dumas würde wohl Galeerensträfling sagen), hat das Land an der Freiheit geschnuppert und seine Wurzeln in der EU und in der Nato geschlagen.

Havels Nachfolger, die Präsidenten Václav Klaus und Miloš Zeman, von ihren russischen Freunden angefeuert, setzen sich mächtig für eine Spaltung der EU ein.

Warum schlug nun das tschechische Pendel nach der verlogenen Intrigantenseite ewiger Angsthasen aus?

Warum wollen Havels Nachfolger die Europäische Union auf den Knien sehen? Die Erklärung ist mehr als einfach.

Die altgewordenen postkommunistischen und posthavelschen Fechter, sofern Alexander Dumas den Vergleich erlaubt, würden nämlich (mithilfe von russischen und chinesischen Geldern) am liebsten eine eigene schmuddelige, abgeschlagene Provinz regieren.

Menschlich gesehen ist das absolut verständlich.

Es macht doch viel mehr Spaß im vertrauten, vollgerotzten eigenen Hinterhof auf der gemeinen tschechischen Weidenflöte zu pfeifen, als beim Spielen der mächtigen gemeinsamen Europatrompete von wichtigeren, reicheren und hübscheren Staatsfrauen und Staatsmännern übertönt zu werden, die in den paneuropäischen Choral einstimmen.

So einfach ist das.
Darum geht’s.

Ganz auf sich gestellt, ohne jene Mithilfe, würden die posthavelschen Präsidenten allerdings nichts bewerkstelligen.

Was geht also in Wirklichkeit vor?
Was läuft hier nach all den Freiheitsjahren ab?

Klügere Köpfe als ich wissen, dass sich das russische Militär bereits auf dem Vormarsch befindet. Der Wunsch, die Europäische Union zu schwächen, die Aggression gegen die Ukraine, all die grausamen und gleichzeitig grotesken Schurkenstreiche um die Krim ... all das gibt den beleidigten isolationistischen Leberwürsten, die das duckmäuserische Luftschnappen unter der Sowjetherrschaft fortsetzen, einen mächtigen Rückenwind. Deswegen komme ich mir nach den dreißig Jahren wie in einer Zeitschleife vor.

Als stünde ich wieder am Anfang.
Allerdings mit einer riesigen Veränderung!

Vor dreißig Jahren verkörperte Westeuropa für mich, den hasenfüßigen jungen Mann, der ich war, Freiheit, Ruhe und Frieden, sogar auch Eleganz.

Nur vorsichtig, ganz schüchtern klopfte ich auf den Eisernen Vorhang. Von der falschen Seite, aus dem Käfig.

Und fragte mich, wann ich eins auf meine frechen Finger kriegen werde.

Jetzt aber habe ich keine Angst mehr. Alexander Dumas ist meine ewige romantische Inspiration geblieben, die sich diesmal in dem platten Wunsch widerspiegelt, mir endlich einen Degen mit scharfer Klinge zu besorgen. Warum ich keine Angst mehr habe?

Es gibt keine Orte mehr, die ausschließlich gefährlich sind. Wie damals meine Heimat. Und es gibt auch keine Orte mehr, die ausschließlich sicher sind, wie der Rest von Europa damals. Man kann einfach nirgendwohin mehr flüchten.

Die Kulissen ändern sich, das Antlitz des Landes wandelt sich in einem solchen Tempo, dass ich es nicht einmal schaffe, mich vor etwas zu fürchten.

Ich stehe also da, auf meinen Degen gestützt.
Und verfolge ganz aufmerksam die Handlung im dritten Band.
Ich habe nämlich überhaupt keine Angst mehr.
Und alles ist interessant.

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová

Fussnoten

Jachym Topol, 1962, einer der bekanntesten tschechischen Autoren. Bis 1989 arbeitete er in "Dissidentenberufen" wie Heizer und Bauarbeiter. In den 1990er Jahren studierte er Ethnologie und bereiste Osteuropa. 2019 erscheint sein Roman "Ein empfindsamer Mensch".