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Der kleine Trompeter | Magazin #2019 | bpb.de

Magazin #2019 Vorwort Ein Lied als kleiner Waffenschein Pole: Der tiefe Schatten von 1989 geht zurück Der kurze Brief zum langen Licht 15. März 1989 2018 – Das Jahr, in dem wir erwachsen wurden Zone 1989 war erst der Anfang eines endlosen Kampfes um Demokratie Menschen des Wortes Die friedlichen Revolutionen Dreißig Jahre danach. Mit dem Degen. Wandtexte Europa Vor dreißig Jahren – Zeit der Freude und der Hoffnung Der kleine Trompeter Impressum

Der kleine Trompeter

Durs Grünbein

/ 6 Minuten zu lesen

Tatsächlich fängt manche quälende Erinnerung mit den Liedern der Kindheit an. Man bekommt sie nur schwer aus dem Gedächtnis, sie haben sich in den tieferen Schichten des Cortex festgesetzt und spuken als Ohrwurm in den inneren Hallräumen umher. Sie kehren wieder wie die Scham und das schlechte Gewissen über die eigenen falschen Gefühle. In den Revolutionszeiten der Menschheit, im Kampf um die Einheit der Nationen, in der Gründungsphase der Parteien, waren Lieder immer das beste Mittel der Identitätsstiftung. Und erst recht diente in den Diktaturen der Neuzeit das sogenannte "Liedgut" der Formierung der Massen. Es steuert die Indoktrination der Gefühle und bewirkt mehr als tausend Worte, mehr als jedes politische Programm.

Mich hat eines Tages die Erinnerung an ein Lied ereilt, das zu den tränenseligsten meiner Kindheit gehörte. Ich spreche vom "Kleinen Trompeter". Das war das Lied, das ich im Kindergarten sang und in den ersten Schuljahren als Jungpionier wieder, ich sang es sogar recht gern.

"Von allen Kameraden
War keiner so frohgemut
Als unser kleiner Trompeter,
ein lustiges Rotgardistenblut."

Das war die erste Strophe, in die ich gedankenlos immer einfallen konnte wie spätere Generationen beim Karaoke in einen Nirwana- oder Britney-Spears-Song. Da gab es immer die eine Stelle in der dritten Strophe, an der die Stimme brach, die Unterlippe zu zittern begann.

"Da kam eine feindliche Kugel
bei einem so fröhlichen Spiel,
mit einem so seligen Lächeln
unser kleiner Trompeter, er fiel."

Der kleine Trompeter, das war in diesem Moment ich, der Junge mit der glockenhellen Stimme, dem man daraufhin schon eine Karriere als Sängerknabe im Dresdner Kreuzchor vorhersagte. Später, als ich an die Verse geriet, war es vor allem ein Prosagedicht, das meine Phantasien beschäftigte: Rilkes "Cornet" – noch so ein tapferer Trompeter. In dem Lied vom Widerstandskämpfer aber war ein Hallenser Hornist gemeint, einer aus dem Spielmannszug des Roten Frontkämpferbundes, der junge Bürstenbinder Fritz Weineck – allein der traurige Name. Er war bei den Arbeiterunruhen in Halle im März 1925 gefallen, als Polizei in die Menge schoß. Es war die gefundene Kampfhymne der KPD und wie so oft in Deutschland eine Adaption, gesungen auf die Melodie eines älteren Soldatenliedes: Von allen Kameraden.

Erst viel später entdeckte ich ihre erstaunlichen Cover-Versionen. Die Urfassung stammte aus dem Weltkriegsjahr 1915 und ging zurück auf den Tod eines deutschen Signaltrompeters (eines ehemaligen Straßenbahnfahrers aus Plauen) an der französischen Front. Dann aber kamen die Nazis und drehten es einfach um, der neue Text lautete so:

"Von all unsern Kameraden
war keiner so lieb und gut
wie unser Sturmbannführer Horst Wessel
ein lustiges Hakenkreuzlerblut."

Undsoweiter bis zu den Zeilen:

"Berliner SA-Kameraden
die gruben ihm traurig sein Grab."

Zu DDR-Zeiten war es wieder in seiner antifaschistischen Fassung in Umlauf. In den Kindergärten und Grundschulen wurde es einstudiert in Gedenken an die tapferen roten Genossen, die den Nazis getrotzt hatten. Daß es auch in der BRD weiterlebte, gesungen von Hannes Wader, dem linken Liedermacher, wußte ich damals noch nicht. Sollte ausgerechnet ein Lied aus kommunistischen Kampftagen mich zurückführen in den unheimlichsten Teil meiner Kindheit? Sind es die Lieder, die in einem das Heimatgefühl wecken? Und ist Heimat, wenn schon kein abgrenzbares Territorium, keine gesicherte geographische Zone, vielleicht der gefühlsgeladene Innenraum, eine Art Konzertsaal, den der Mensch mit sich herumträgt und von dem es heißt: Wo gesungen wird, da laß dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder? Aber gerade die bösen Menschen haben, wir wissen es, in Deutschland durchaus ihre Lieder, in denen Mord und Totschlag zu einer sentimentalen Brühe geronnen sind, zu der bekannten Melange aus Kitsch und Tod.

Der Heimatkomplex – auf einmal ist er wieder da. Der Begriff Heimat, unfaßbar und allenfalls subjektiv definierbar, geistert durch die Diskussionen, die Zeitungsartikel und die Romane der Saison – und wird zum Politikum, da eine aufgeklärte Republik mit föderaler Struktur, wie im Handstreich am Parlament vorbei, ein Heimatministerium gründet. Der Heimatkomplex: Sein Ferment ist die Auflösungsangst und seine Fermate die willkürliche Haltestelle, die jeder mit seinen privaten Gefühlen besetzt. Etwas soll festgehalten werden, da immer mehr Menschen, in den Wirbel der Globalisierung gerissen, den Boden unter den Füßen verlieren. Plötzlich ist da wieder das Phantasma vom gehegten Raum, von den Grenzen, an denen das Eigene sich vom Fremden scheiden soll. Na wunderbar – als wäre Geschichte, die Gewaltgeschichte von Umsiedlung, Vertreibung und Flucht, umkehrbar.

Von den nationalen Bewegungen ging es zum Nationalstaat, zur Gründung des Deutschen Reiches. Von da war es ein Sprung nur zum Chauvinismus und hinein in den Weltkrieg, das brutale Völkermorden. Und vom Katzenjammer des verlorenen Weltkriegs zur ersten deutschen Republik, der ungeliebten, der Weimarer, in der die Spaltung des Volkes in linke und rechte Bewegungen von allen Seiten vorangetrieben wurde. Den Bürgerkrieg hat der Faschismus kassiert, und der Faschismus mußte, wie die Klügeren von Anfang an wußten, abermals zum Krieg führen – nicht zu irgendeinem, sondern zum Hitlerkrieg, den Geschichtsschreibung bald neutralisierte zum Zweiten Weltkrieg (der eine Mitschuld aller Teilnehmer suggeriert), und in Wahrheit war es ein deutscher Angriffskrieg gegen die Nachbarvölker, aus scheinbarer Not, die schließlich nichts als Eroberungswille war, basierend auf dem Mythos vom Volk ohne Raum, Mißachtung der Völkerrechte, arrogantes Herrenmenschentum, das im europaweiten Massenmord an den Juden gipfelte. Dem folgte die Niederlage, die zur Spaltung Deutschlands führte (noch einmal Bürgerkrieg, aber diesmal ein kalter, zum Glück) und zuletzt, in einem Moment einseitiger Abdankung, zur "Wiedervereinigung" der von den Siegern aufgeteilten Landesteile. Zu den Jahren des Wechsels 1989-1991, da der Rest der Welt sich die Augen rieb und sich fragte: Wie wird es nun weitergehen mit Deutschland?

Reden wir über die Sprache dieses merkwürdigen Stammes (der Deutschen), ist es angebracht, noch etwas Prinzipielles in die Runde zu werfen, einen Verdacht zu äußern, der den Gesundheitszustand dieser Muttersprache betrifft, ihre geistige Integrität nach den Katastrophen der Inhumanität und der mörderischen, selbstmörderischen Ideologien. Es geht um die Frage der Aushöhlung öffentlicher Sprache durch Diktatur und Propaganda, um die verlogene Sprache des Nationalsozialismus und ihr heimliches Fortwirken, Musterfall einer Vergiftung aller Rhetorik, um eine kollektive Sprachlosigkeit, das Verkümmern individueller Ausdrucksformen. Die Leerstelle hat seither die kalte Sprache der Macht besetzt, der bürokratischen Verwaltung jedes Einzellebens, der Jargon der Uneigentlichkeit.

Seltsame Blüten hat das Schweigen der Deutschen nach ihrer Niederlage getrieben. Der Krieg, den sie angezettelt hatten, schien nicht ihr Krieg gewesen zu sein. Sie hatten ihn über die Nachbarvölker gebracht und bis ans Nordkap, an die Wolga und nach Nordafrika getragen, aber als er zu ihnen zurückkehrte und ihre schönen Heimatstädte verwüstete, sind sie vor Schreck verstummt. Seither versuchen sie, mal besser, mal schlechter, herauszufinden aus dem Labyrinth ihrer Unheilsgeschichte. Hierzu ein Zitat von George Steiner, den ich auf diesem Weg grüßen möchte, aus "Sprache und Schweigen" (1969):

"Sprachen besitzen starke Lebensreserven, mit deren Hilfe sie große Mengen von Hysterie, Analphabetentum und Gemeinheit absorbieren können… Aber es gibt auch eine Belastungsgrenze. Benutzt man eine Sprache dazu, um Belsen zu organisieren, zu ersinnen und zu rechtfertigen, benutzt man sie dazu, um den Menschen in zwölfjähriger wohlüberlegter Bestialität zu entmenschen – dann passiert etwas mit ihr. Man mache aus den Worten, was Hitler, Goebbels und hunderttausend Untersturmführer aus ihnen gemacht haben: Übermittler von Unwahrheit und Terror – und mit den Worten passiert etwas. Etwas von der Lüge und dem Sadismus setzt sich im Mark der Sprache fest. Unmerklich zunächst, so wie radioaktive Strahlung sich stillschweigend im Knochenmark festsetzen. Aber das Krebsgeschwür beginnt seine tiefsitzende Zerstörungstätigkeit. Die Sprache gedeiht nicht mehr, sie frischt sich nicht mehr von innen auf, und sie erfüllt nicht mehr so gut wie sonst ihre beiden wesentlichen Funktionen: die Übermittlung von menschlicher Ordnung, die wir Gesetz und Recht nennen, und die Vermittlung des Behenden im Menschengeist, was wir Anmut und Anstand nennen."

Fussnoten

Durs Grünbein, geb. 1962 in Dresden, lebt und arbeitet als Dichter, Übersetzer und Essayist in Berlin und Rom. 1995 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. 2019 erscheint sein Buch "Aus dem Traum (Kartei)", Suhrkamp Verlag.