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Drei Jahrzehnte – drei Erinnerungen | bpb.de

Drei Jahrzehnte – drei Erinnerungen

Maria Todorova

/ 3 Minuten zu lesen

Eine Generation umspannt üblicherweise drei Jahrzehnte. Nun, da das Jahr 1989 in die mittleren Jahre kommt, ist es vielleicht sinnvoll, noch einmal auf die Positionen und Erinnerungen zurückzublicken, die seine Jugendjahre prägten. Erstaunlich ist, dass diese drei Jahrzehnte keine aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen darstellen, sondern drei separate Zeitabschnitte, die von unterschiedlichen Interpretationen und Erinnerungen bestimmt sind.

Das erste Jahrzehnt nach 1989 wurde von der Frage beherrscht, ob das, was da stattgefunden hatte, tatsächlich eine Revolution war. Bemerkenswerterweise wurde nur in Rumänien sofort der Begriff der Revolution verwendet, da das Jahr 1989 dort von Gewalt gekennzeichnet war, doch selbst das wurde infrage gestellt. Die euphemistische bulgarische Bezeichnung die Veränderungen oder der Deutsche Begriff der Wende legen nahe, dass die unmittelbaren Erwartungen nicht so sehr auf eine drastische Veränderung, sondern auf eine allmähliche Verbesserung, vor allem der Wirtschaft, gerichtet waren. "Refolution" war da das treffende Oxymoron. Tatsächlich war es aber – ob nun samten oder nicht – eine radikale Revolution. Mit dem Ende des Jahrzehnts war der sogenannte "Übergang" offiziell abgeschlossen. In ganz Osteuropa war er eigentlich mit dem Ende des Privatisierungsprozesses und der Legitimation der neuen Eigentumsklasse vorbei. Das Jahrzehnt nach 1989 brachte eine tiefgreifende Umwälzung der früheren Ordnung mit drastischen, ja revolutionären Veränderungen des Güterstands und der sozialen Struktur. Es war das Jahrzehnt des "Endes der Geschichte".

Das zweite Jahrzehnt musste sich mit dem Preis für diese Revolution auseinandersetzen. Man konnte beobachten, wie sich ein Phänomen ausbreitete, das unter dem Oberbegriff der "postkommunistischen Nostalgie" bekannt wurde. Die Nostalgie kam zu einer Zeit, in der Versuche, den Sozialismus aufrechtzuerhalten oder wiederzubeleben, nicht mehr tragfähig waren. Die Nostalgie wurde zum Ventil für Gesellschafts- und Kulturkritik sowie die Sehnsucht nach Stabilität und diente der sogenannten "verlorenen Generation" gleichzeitig dazu, die eigene Würde zu wahren. Auf der anderen Seite ignorierte dieses Konzept nicht nur die Not der Entrechteten, sondern die Kommerzialisierung der Nostalgie trug auch zu einer Etablierung des neoliberalen Kapitalismus bei. In der Wissenschaft fielen die Erwartungen, die man in die Theorie vom Totalitarismus gesetzt hatte, bei empirischer Überprüfung praktisch in sich zusammen, es geht aber viel eher um Aporien, Antinomien und Paradoxien als um die starren Konturen einer Regimestruktur.

Nach dem Finanzcrash 2008 und der globalen Rezession brach im letzten Jahrzehnt der neoliberale Sozialpakt auseinander. Die Debatten über Nostalgie sind inzwischen anachronistisch. Immer weniger Menschen haben unmittelbare Erinnerungen an den Kommunismus, und die Inseln positiver Erinnerungen – unter den Älteren und Ärmeren – werden immer kleiner oder verschwinden ganz. Diese Zeit brachte soziale Unruhen mit sich, die sich gegen die Korruption der politischen Klasse, die Arroganz der Neureichen und die bittere Armut richteten – eigentlich ein globales Phänomen, das sich nicht auf die Region beschränkte. Der Status osteuropäischer Länder als solche zweiter Klasse innerhalb der immer noch begehrten Europäischen Union führte dort zum Aufstieg des Nationalismus und "illiberal-demokratischer" Regime, die von Kritikern unter dem bedeutungslosen Begriff des "Populismus" zusammengefasst wurden. Aber auch hier gilt, dass die Auseinandersetzung mit der Hybris des Neoliberalismus kein osteuropäisches Monopol ist.

Zugegebenermaßen ist das historische Gedächtnis nie universell, und bei einer richtigen Analyse kommt es darauf an zu untersuchen, wer erinnert und was erinnert wird. Es liegt mir fern, mich in die Erinnerungskriege zu stürzen, die hauptsächlich geführt werden, weil man allen eine universelle Zwangserinnerung aufdrängen will. Und falls meine Analyse (und meine Erinnerung) allzu düster erscheint, möchte ich eine positive Errungenschaft von 1989 hinzufügen, von der ich persönlich profitiert habe: die Emanzipation der Intellektuellen. Sie waren befreit von der Angst, von den Unterdrückungsmechanismen eines willkürlichen Regimes; sie hatten die Freiheit zu reisen und ungehindert durch Vorschriften ihre Ambitionen zu verfolgen. Doch Emanzipation ist ein kniffliger Begriff. Die Intellektuellen wurden auch von ihrer erhabenen Rolle als Wächter*innen der Kultur entbunden, sie sind randständig und bedeutungslos geworden. Ich erinnere mich, wie ich erstmals in die USA kam und Kolleg*innen an den Universitäten sagten: "Zumindest hatten Sie eine gewisse Bedeutung, wir sind hier völlig irrelevant." Manchmal gibt einem diese Bedeutungslosigkeit die begehrte Ruhe, und ich habe sie eine Zeit lang genossen, aber sie hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Kultur – Sprache, Literatur, Kunst und Bildung – in Strukturen eingebettet ist, um sie zu Geld zu machen. Es mag immerhin ein Trost sein, dass die Intellektuellen in Osteuropa mit ihrem Lamento nicht mehr auf ihre Region beschränkt sind. Ihr Lamento ist globalisiert.

Fussnoten

Maria Todorova ist bulgarische Historikerin und Philosophin und lehrt als Professorin am Department for History an der University of Illinois. Mit ihrem Buch Imagining the Balkans (1997) erlangte sie eine internationale Anerkennung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Nationalismus, nationale Erinnerungen, Geschichte des Kommunismus und Heldentum. Ihre letzten Publikationen sind The Lost World of Socialists at Europe’s Margins: Imagining Utopia (2020); Scaling the Balkans (2018); Remembering Communism (2014), Postcommunist Nostalgia (2010) u. a.