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Dreißig Jahre der Schande | bpb.de

Dreißig Jahre der Schande

Dubravka Stojanović

/ 4 Minuten zu lesen

Ich schämte mich sehr damals, im Jahr 1989.

Die osteuropäischen Bürger*innen gingen 1989 auf die Straßen, sie verlangten die Freiheit. Sie forderten ein normales Leben, freie Wahlen, das Verschwinden der sowjetischen Panzer, Reisefreiheit, Sturz der Berliner Mauer, Vereinigung von Europa … Sie verlangten das Ende vom Krieg

Ich schämte mich, weil die Bürger*innen der Republik Serbien 1989 auch auf die Straßen gingen. Deren Forderungen waren aber ganz andere. Sie verlangten die Freiheit, aber nur für ihre Nation. Sie forderten keinen Pluralismus, sie wollten nationale Homogenität. Das Angebot, sich als Erste an Europa anzuschließen, wurde mit Verachtung zurückgewiesen. Das normale Leben und der Frieden wurden zurückgewiesen, dem neuen Oberhaupt und seinen Versprechen wurde geglaubt, dass unserer Nation große Tage und berauschende Siege bevorstünden. Sie wollten neue Grenzen und neue Mauern zwischen den jugoslawischen Völkern. Der Krieg schien ihnen eine gute Lösung zu sein. Sie beschworen die Panzer herauf.

In dem Jahr 1989 fühlte ich mich schrecklich, weil mein Land zusammenbrach. Ich fühlte mich schrecklich aber auch, weil es so aussah, als ob wir völlig weltfremd gewesen wären. Die Welt forderte eine bessere Zukunft, und wir vergruben uns in die schlechte Vergangenheit. Wir machten uns auf den umgekehrten Weg. Wir sind aus der Geschichte herausgefallen, wie wir damals zu sagen pflegten.

Und da sind wir jetzt, im Jahr 2020. Es ist fast ein Vierteljahrhundert her, seitdem die Kriege in Kroatien, Bosnien und der Herzegowina beendet wurden. Mental sind wir aber immer noch in ihnen stecken geblieben. Die Panzer sind geparkt, wir machen die Kapitel im Prozess der europäischen Integrationen auf und zu. Die Kriege verließen unsere Köpfe aber nicht. Wir sind die verwundeten Gesellschaften geblieben, die keine Kraft für die Vorwärtsbewegung hatten. Eine wesentliche Veränderung fand nicht statt

Das, was mittlerweile aber stattfand, ist die Tatsache, dass in vielen europäischen Gesellschaften, und auch weltweit, diejenigen Kräfte stärker wurden, die diese Gesellschaften zurückwerfen, die nämlich die Rückkehr in das Autoritäre, in den Nationalismus verlangen. Heute, dreißig Jahre nach den großartigen Bildern von freien Bürger*innen Osteuropas auf Plätzen und Straßen, sind diese Bürger*innen den Serben aus dem Jahr 1989 ähnlich. Jetzt halten sie nicht mehr die Werte hoch, wegen denen sie sich damals erhoben, sondern wandten sich den Leitsprüchen zu, die zu jener Zeit auf unseren Straßen zu hören waren – Identität, Souveränität, Nationalstolz. In den letzten Jahren konnte man diese Konzepte auch in Großbritannien, USA, usw. hören.

Was ist geschehen? Waren wir denn die Avantgarde? Können wir denn daraus schlussfolgern, dass wir fortschrittlicher als der Rest der Welt sind? Haben wir die neue Zeit besser gesehen und sind dann gleich auf den richtigen Zug aufgesprungen? War das, was mir damals als die Bewegung rückwärts schien, eigentlich die nach vorwärts in die Zukunft? Soll ich mich deshalb jetzt besser fühlen?

Nein! Ich schäme mich immer noch. Jetzt auch für all diejenigen, die "unseren Weg" einschlugen. Ich schäme mich, weil es sich zeigte, dass die schwer erkämpften Freiheiten leicht zu verlieren sind. Wir wussten, dass für die Demokratie unaufhörlich gekämpft werden muss, aber wir wussten nicht, wie zerbrechlich sie ist. Was wir nicht wussten und nicht erwarteten, ist, dass der auf Souveränität beruhende und identitäre Diskurs auch in den Ländern auftaucht, die die Wiege von Freiheit und Menschenrechten sind. Und wir erwarteten auch nicht, dass ein solcher Diskurs dreißig Jahre nach 1989 in den Ländern die Oberhand gewinnen würde, die sich so sehr zu beweisen bemühten, dass sie zu Mittel- und nicht zu Osteuropa gehören und dass sie mit der undemokratischen politischen Kultur nichts Gemeinsames hätten, dass das alles ihnen also von der widerwärtigen nachbarschaftlichen Großmacht als eine pure Antithese zu deren Werten auferlegt worden sei.

Dreißig Jahre schäme ich mich, weil ich zuerst in meinem eigenen Land 1989, und jetzt auch an vielen Orten weltweit, gesehen und gehört habe, wie bösartig das identitäre Virus funktioniert, wie schwach der Widerstand von Gesellschaften ist, wenn es sich ausbreitet, wie wenig Rebellion es gibt, wenn es um die Verengung der Freiheit im Namen der Nation geht, wie groß die Angst vor Freiheit immer noch ist. Es beängstigt mich wiederzusehen, wie stark das Irrationale in der Politik ist, trotz allen Theorien, die das Gegenteil behaupteten. Es macht mir Sorgen, dass das Irrationale auch entwickelte Gesellschaften berauscht, die keine dramatischen Krisen durchhielten, trotz der Theorien, die das Gegenteil behaupteten.

Es ist wahr, dass die jugoslawische Erfahrung von 1989 die Schattenseite damaliger europäischen Ereignisse war und dass sie für alle wie eine Art Präzedenzfall, wie ein zufällig falsch gewählter Weg aussah. Vielleicht deshalb wollte niemand daraus etwas lernen. Ich glaube, dass es ein Irrtum war. Wir, die wir wissen, wohin die identitäre Sprache führt und wissen, wie das alles endet, können immer noch dieses Know-How anbieten. Um das Wiederholen zu verhindern.

Fussnoten

Dubravka Stojanović, geb. 1963, ist Professorin am Institut für Geschichte der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad. Ihre Forschungsfelder sind Modernisierungs- und Europäisierungsprozesse in Südosteuropa, Urbanisierung, Beziehungsgeschichte und Gedächtnis sowie Historiographie. Für ihre Forschungsarbeiten hat sie nationale und internationale Preise erhalten.