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Ein Moment Bilanz zu ziehen, nicht nur des Feierns | bpb.de

Ein Moment Bilanz zu ziehen, nicht nur des Feierns

Oana Popescu-Zamfir

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Dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer geht es der Demokratie in Mittel- und Osteuropa "schlechter als wir gehofft, aber besser als wir befürchtet haben“, so der Experte für demokratische Transformation Thomas Carothers . Das Jahr 2019 fühlte sich denn auch eher wie eine Zeit des Bilanzziehens an als ein reines Freudenfest. Angesichts des wiederauflebenden Nationalismus, des Illiberalismus, der Verschiebung globaler Bündnisse und der ungewissen regionalen Sicherheitssituation haben wir allen Grund, beim Blick in die Zukunft ein gesundes und konstruktives Maß an Besorgnis an den Tag zu legen. Gleichzeitig sollten wir jedoch auch mit Anerkennung für das, was in nur drei Jahrzehnten aufgebaut, wurde in die Vergangenheit blicken.

Während eine der ältesten Demokratien die Europäische Union verlässt und Teile der Bevölkerung bedeutender europäischer Staaten sich von geschürten Ängsten und Spaltungsversuchen vereinnahmen lassen, ist der Geist der Selbsterneuerung und der Bewahrung liberaler Werte im Osten Europas noch immer stark ausgeprägt. Mehrere Generationen in diesem Teil des Kontinents haben noch lebhafte Erinnerungen an das Hochgefühl der Befreiung aus der Unterdrückung, der Armut, der Unwissenheit und der Isolation. Die Identität dieser Menschen wird für immer den Stempel von 1989 tragen: Allen, die die dramatischen Veränderungen erlebt haben, die zum Ende des Kalten Krieges führten, wird immer bewusst sein, dass eine Überwindung der Tyrannei möglich ist. Viele werden sich daran erinnern, dass auch eine andere Welt möglich und nie sehr weit entfernt ist: eine, in der eine (allzu) schweigende Mehrheit Verbrechen gegen die Menschenwürde ermöglicht, eine, in der es keinen politischen Pluralismus, keine Entscheidungsfreiheit, keine Einheit und Integration innerhalb Europas gibt, eine mit geschlossenen Grenzen und Stacheldraht, eine mit nur einer einzigen "zulässigen" Wahrheit und ohne den Raum für abweichende Meinungen. Sich das Worst-Case-Szenario und dessen Wahrscheinlichkeit bewusst zu machen, kann viel zur Vorbeugung einer Wiederholung der Geschichte beitragen.

Andere werden jedoch umgetrieben sein von der Angst vor einer weiteren dramatischen Wende in ihrem Leben, wie sie 1989 stattgefunden hat. Das emotionale Trauma eines plötzlichen und radikalen Wandels (auch eines positiven!) und den verheerenden Schaden, den dies im Leben der Menschen anrichten kann, sollte man nicht unterschätzen. Europa und der gesamte Westen – nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg lange siegreich und abgehoben – tun sich jetzt schwer mit dem Aufstieg Asiens und dem unerwarteten globalen Wettbewerb, dem sie sich stellen müssen und der unsere etablierten Werte und unsere Lebensweise vor neue Herausforderungen stellt. Heute vollzieht sich der Wandel eher allmählich und mit der Zeit, und doch hat er bereits die Geister von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, wirtschaftlichem Nationalismus, Isolationismus, Populismus usw. geweckt. Im Vergleich dazu war es weitaus schwieriger, wenn man zu Zeiten von Kommunismus und Diktatur schlafen gegangen war, um dann in der freien Welt aufzuwachen. Neben ihren begehrten Vorteilen bringt die freie Welt die Konfrontation zwischen traditionellen Werten und Weltoffenheit mit sich, einen neuen Arbeitsmarkt, neue Formen der Wirtschaft und des Kapitals und neue Anforderungen an Arbeitskräfte, neue Konkurrenz aus dem Ausland, die Verlockung, an Orten zu studieren, zu arbeiten und zu leben, die bessere Bedingungen bieten, aber unter dem Verzicht auf das Sichere, das Vertraute, die Familie und das frühere Selbst ... und so viele andere neue Möglichkeiten, die immer mit der Notwendigkeit einhergehen, die eigene Identität in Frage zu stellen, neu zu definieren und neu zu gestalten. Der natürliche Widerstand gegen Veränderung und die Angst vor dem, was uns erwarten mag (besonders in einer tatsächlich unberechenbaren Welt!), sind hervorragende Manipulationswerkzeuge in den Händen derjenigen, die sie zur Durchsetzung ihrer niederträchtigen Interessen einsetzen wollen.

Vielleicht haben wir die drei Jahrzehnte nach 1989 gebraucht, um wirklich erwachsen zu werden und das Geschehene zu verdauen. Nachdem der EU-Beitritt geschafft, die erste Übergangsphase abgeschlossen ist, sich die Folgen der EU-Erweiterung gezeigt haben und die Begeisterung des Neuanfangs verflogen ist, sind wir nun bereit, auf das Gute, das Schlechte und das Hässliche dieses Riesenschritts nach vorn zurückzublicken. Zwar sind die Zeiten und Umstände gerade nicht die besten und günstigsten und wir können es uns kaum leisten, innezuhalten und nachzudenken, wenn es sich so anfühlt, als werde die Welt mit rasender Geschwindigkeit nach vorne geschleudert. Dennoch sollten wir nicht versäumen, einen Augenblick über die lebensverändernden Ereignisse vor dreißig Jahren und danach nachzudenken. Es sind solche Meilensteine, die die Dinge relativieren und unser Bezugssystem wieder zurechtrücken – und nach den letzten Jahrzehnten brauchen wir das heute in Europa mehr denn je!

Oana Popescu-Zamfir ist Direktorin des Global Focus Center in Bukarest und Chefredakteurin der Zeitschrift "Eastern Focus". Sie studierte u. a. in Bukarest, Harvard und Yale, war Staats­sekretärin für EU-­Angelegenheiten und ist als Medien-­ und PR­-Beraterin tätig. Popescu war Mitherausgeberin der Studie Propaganda Made-To-Measure: How Our Vulnerabilities Facilitate Russian Influence (2018).