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Den Mauerfall verschlafen | bpb.de

Den Mauerfall verschlafen

Martin Müller

/ 3 Minuten zu lesen

Ich sollte erst viele Jahre später erfahren, dass die Mauer gefallen war. Denn zum Mauerfall lag ich im Bett und schlief. Ich hatte den Mauerfall verschlafen.

Als die Mauer fiel, war ich nicht so richtig Deutscher. Aber auch das sollte ich erst viel später merken. Ich war zwar in Deutschland geboren, hatte einen deutschen Pass und wohnte auch innerhalb der deutschen Grenzen. Gerade eben. Aber bei uns kamen sonntags Apfelstrudel, Salzburger Nockerl oder Palatschinken auf den Tisch. Statt des freundlichen Herrn von der Tagessschau kündigte Quaxi, der grüne Wetterfrosch des österreichischen Fernsehens, das Wetter an. Und als ich später in das richtige Deutschland kam und den Mund aufmachte, überkam mich oft genug das Gefühl, ich gehöre eigentlich doch auf die andere Seite der Grenze.

Das richtige Deutschland kannte ich nur aus dem Fernsehen. Deshalb glaubte ich auch, München sei die Hauptstadt Deutschlands.

Schuld war die Tagesschau. Ich saß mit meinem Großvater jeden Abend pünktlich zum Gongschlag vor dem Fernsehapparat. Und wenn von der "Landeshauptstadt München" die Rede war, war für mich klar: das also ist die Hauptstadt unseres Landes. Die Stadt, in der die alten Männer in Anzügen ihre gewichtigen Treffen haben. Den allerwichtigsten kannte ich mit Namen: Helmut Kohl. Ich mochte, wie er sprach. So wie das Krümelmonster aus der Sesamstraße. Die lief auch im Fernsehen. Bei "blühenden Landschaften" dachte ich an den Maulwurf Grabowski aus meinem Kinderbuch. Der mochte die auch. Wenn wieder einmal Tiefflieger über unseren Garten flogen, hielt ich mir die Ohren zu, lief voller Verzweiflung zu unseren Eltern und meldete, unser Rasenmäher sei wohl gerade explodiert. Und Mauern waren für mich da, um drüber zu klettern. Zumindest da hatte ich Recht.

Als die Mauer fiel, war das Fernsehen mein Fenster zur Welt. Aber eben zur Welt eines Siebenjährigen. So spann ich meine eigenen Geschichten. Spann all das, was ich nur halb verstand, in eine phantastische Welt für Siebenjährige. "Hauptstadt", "Land", "Wende", "Teilung" – diese Worte überhörte ich einfach. In meiner Bauklötzewelt bedeuteten sie nichts. Ich sehe das heute an meiner Tochter. Ich kann ihr erklären, dass Paris eine große Stadt ist, eine sehr große sogar. Sie versteht das. Sie versteht auch, dass Paris eine schöne Stadt ist. Aber Hauptstadt? "Papa, was ist das‚ ‚Haupt‘?"

Die Mauer gab es für mich, einen Siebenjährigen im äußersten Südosten der Bundesrepublik, nicht. Wir hatten keine Freunde und Verwandte "drüben". Wir hatten keine Päckchen geschnürt. Ich bekam keine neuen Schulkameraden aus dem Osten in die Klasse. Für den Urlaub wechselten wir unser Geld in Schilling und Lire und fuhren nach Süden. Wir wohnten zwar nahe an Tschechien, aber auch nach der Grenzöffnung fuhren wir nicht hinüber.

Vor kurzem habe ich erfahren, dass man uns "Nachwendekinder" nennt. Die, die in einem vereinten Deutschland groß geworden sind. So wie meine Eltern nur ein Deutschland mit Mauer kannten, so kenne ich nur eines ohne. Man setzt große Hoffnungen in uns, die Nachwendekinder: mit uns soll endlich zusammenwachsen, was zusammengehört.

Wir mögen in denselben Grenzen groß geworden sein. Doch unsere Kindheitserinnerungen könnten unterschiedlicher kaum sein. Meine Altersgenossen im Osten aßen plötzlich anderes Essen, lasen andere Bücher, zahlten mit anderem Geld, zogen in andere Orte, lernten andere Dinge in der Schule. Eine neue Welt brach über sie herein.

In meiner eiscremesüßen Palatschinkenwelt änderte sich hingegen ... nichts.

Fussnoten

Martin Müller, geb. 1983, ist Professor am Department of Geography and Sustainability an der University of Lausanne. Zu den Schwerpunkten seiner Forschung gehören die (Nicht-)Nachhaltigkeit von Mega-Events wie Olympische Spiele, Globalisierung großer Kulturprojekte, Geopolitik des geografischen Wissens und Denkens sowie Global East.