Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Ein anderer Blick zurück – 30 Jahre danach | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de

The Years of Change 1989-1991 Dokumentation Kontakt Magazin #2021 Vorwort Ein anderer Blick zurück – 30 Jahre danach Über Grenzen und Gedenken (1921–1941–1991– 2021) Die Sowjetunion ist nicht überall zerfallen schwierige arithmetik Immunität gegen das Unglück Stanislaw Assejew Die Freiheit der Bergarbeiter und Autoren Christian Neef NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen 1991 und 30 Jahre danach Hallo, Mickey!

Ein anderer Blick zurück – 30 Jahre danach

Karl Schlögel

/ 4 Minuten zu lesen

Wir, die wir dabei gewesen sind in diesem „wahnsinnigen Augenblick“, als die Mauer fiel, werden das Gefühl des Glücks nie vergessen. Aber das ist nur eine Erinnerung, und dreißig Jahre danach ist es Zeit, zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass die 89er um die Früchte der glorreichen Umwälzung jener Jahre gebracht worden sind. Wir haben nicht einmal einen Namen für die neue Situation: Mafiastaat, autoritäres Regime, Diktatur, Kleptokratie, Neo-Imperialismus, Großmacht-Chauvinismus. Es ist immer wohltuend, Begriffe zu haben – das suggeriert Sicherheit, Beherrschbarkeit. Aber das ist die Illusion derer, die schon immer alles besser wussten und auf den Begriff gebracht haben, was in Wahrheit unendlich komplex, unübersichtlich, unerklärt ist.

Es ist längst an der Zeit, sich einzugestehen, dass unsere Begriffe, unsere Sprache zur Wirklichkeit so wenig passen wie unser politisches Handeln, das von Ohnmacht, Reflexion, Bequemlichkeit, Resignation, wahrscheinlich auch einer Portion Feigheit gekennzeichnet ist. Es ist unendlich schwer, sich auf eine andere Zeit einzustellen, von der die Friedenszeit gewohnte und von Friedenszeit verwöhnte Generation des Kalten Krieges keine Ahnung hatte, auch nicht haben konnte. Sie wurde überrumpelt und tritt jetzt in einen Erfahrungshorizont ein, auf den sie nicht vorbereitet war; sie wurde überspielt von Kräften, die besser geschult waren im Umgang mit Macht und Gewalt. Ex-KGBler und Fachleute für Staatssicherheit waren und sind darin Profis, es war seit jeher ihr Metier, und sie haben enorm dazugelernt.

Es gibt eine andere Erinnerung an das, was vor dreißig Jahren passiert ist. Während die einen noch auf den Straßen das Ende des Imperiums und des totalitären Staates feierten, dessen Ende sie vielleicht ein Leben lang herbeigesehnt hatten, bereiteten sich andere schon auf die Chance ihres Lebens vor: zuzugreifen, wo immer es möglich war. Die Beschränkungen, die das gerontokratische Sowjetregime auferlegt hatte, abzustreifen, die neuen Möglichkeiten, zu Macht und Reichtum zu kommen, voll auszuschöpfen und die Kommandohöhen der Macht zu besetzen. Es gab diesen harten Kern von Leuten, der über das Wissen und die Kanäle verfügte, sich die Reichtümer des Landes unter den Nagel zu reißen und ins Ausland zu schaffen; es gab das Personal, das zur rechten Zeit am rechten Ort war, wo die alte Macht zerfiel und abgetreten war. Sie nutzten das Chaos, den Tumult, die Erregung, die Unerfahrenheit der Perestrojka-Begeisterten und brachten sich hinter deren Rücken in Form – und in den Besitz der ultimativen Waffen. Eine Analyse, die auf das „Gelingen“ oder „Scheitern von Reformen“ fixiert ist und welche die liberale Ordnung oder deren Verfehlung zum Maßstab der Beurteilung macht, verfehlt den Prozess, der hinter den Kulissen ablief. Die Gesellschaft war vollauf mit der Abwicklung der alten sowjetischen Lebensform beschäftigt und mußte alle Kraft zusammennehmen, sich in den neuen Verhältnissen einzurichten, während der innere Kern der alten Macht, die Geheimdienste und die mit ihnen verbundenen Oligarchen, den zeitweiligen Kontrollverlust rasch wettmachten und sich den neuen Verhältnissen entsprechend reorganisierten. Die neue Elite hat gelernt, wie man sich in der globalisierten Welt bewegt, sie weiß, wie man das Volksvermögen, das man sich skrupellos angeeignet hat, ins Ausland schafft und das Kapital für sich arbeiten läßt. Sie hat keine einzige Erfindung hervorgebracht, aber sie lebt in Saus und Braus wie kaum eine Rentiers- und Ausbeuterklasse vor ihr. Sie weiß alles über die Schlupflöcher des globalen Kapitalismus und über die Schwächen des Gegners, eines Westens der Doppelmoral und der Korrumpierbarkeit. Sie kennt sich aus in der Grauzone zwischen Machtstrukturen und organisierter Kriminalität, sie räumt ihre Gegner aus dem Weg, im Lande wie jenseits der Grenzen, doch sie läßt ihre Pressesprecher und Talkshowmaster erklären, sie habe damit nichts zu tun. Sie demonstriert ganz beiläufig, dass sie mit jedem und jeder tun kann, was sie will. Sie weiß, wie man Kriegsangst schürt und wie man sich auf den Krieg vorbereitet, den zu führen sie bereits ist.

Auch im Westen gibt es eine Art von Ancien Régime, das sich an Voraussetzungen klammert, die sich längst aufgelöst haben. Man hält um jeden Preis an einem Dialog fest, über den die andere Seite nur Hohn lacht. Man hält an einem „Partner“ fest, der längst zum Gegner geworden ist. Man will den Kontakt nicht abreißen lassen, den die andere Seite längst abgebrochen hat. Man leistet sich den Luxus, die Welt retten zu wollen, während am anderen Ende Europas mit dem Feuer des Kriegs gezündelt wird.

Die 89er Generation ist alt geworden. Sie tut sich schwer damit, sich von ihrem mit so vielen Hoffnungen erfüllten Erwartungshorizont zu verabschieden und sich auf die Härten einer radikal veränderten Welt einzustellen – einschließlich der Bereitschaft zur Selbstverteidigung. Sie könnte durch die Aufklärung dessen, was in den letzten dreißig Jahren hinter ihrem Rücken geschah, dazu beitragen, sich ein illusionsloses Bild von der Welt zu machen und der neuen Generation helfen, zu begreifen, womit sie es zu tun hat und noch zu tun bekommen wird. Das wäre weniger als die Rettung der Welt, aber bekanntlich ist weniger manchmal mehr. Die jungen Leute auf den Straßen von Minsk, Moskau, Chabarowsk und anderswo werden dort weitermachen, wo die 89er aufgehört haben. Und niemand wird ihnen dabei helfen außer sie sich selbst.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karl Schlögel, 1948, hat Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er war bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2018 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte der russischen Moderne und des Stalinismus, Dissidentenbewegung sowie Kulturgeschichte osteuropäischer Städte.