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NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de

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NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen

Ignaz Lozo

/ 3 Minuten zu lesen

Ob es nach dem Mauerfall 1989 zur deutschen Einheit kommen würde, hing davon ab, ob die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs sich über die militärische Bündniszugehörigkeit Gesamtdeutschlands verständigen würden. Nachdem der Westen jahrzehntelang Freiheitsrechte für DDR-Bürger eingefordert hatte und verbal für die Überwindung der deutschen Teilung eingetreten war, kehrte sich diese Haltung zunächst ins Gegenteil um: Skepsis und Bremsen – darunter ausgerechnet seitens der britischen Premierministerin Thatcher, die wie keine andere zuvor immer als Kämpferin für Freiheit und Selbstbestimmung aufgetreten war.

Umgekehrt gab die Sowjetunion zweieinhalb Monate nach dem Mauerfall das Prinzip der deutschen Zweistaatlichkeit auf: Am 26. Januar 1990 fiel in einer Sitzung der sowjetischen Führung die Entscheidung zugunsten eines wiedervereinigten Deutschlands. Gorbatschow sagte, dass in der DDR keine realen Kräfte mehr existierten, stellte aber klar: “Das Wichtigste ist, dass niemand damit rechnen soll, dass ein vereinigtes Deutschland in die NATO kommt.“

In der Bündnisfrage preschten Bundesaußenminister Genscher und sein amerikanischer Kollege Baker zunächst zugunsten Moskaus vor: Am 2. Februar 1990 traten sie in Washington vor die Presse. Genscher sagte: “Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das NATO-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten. Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR […], sondern das gilt ganz generell.“

Eine Woche später fragte Baker Gorbatschow in Moskau, ob er sich die Einbettung Gesamtdeutschlands in die NATO vorstellen könnte mit der Zusicherung, dass der Geltungsbereich der NATO “keinen Zoll“ nach Osten verschoben, also nicht einmal auf die DDR ausgedehnt würde. Gorbatschow erwiderte: “Jegliche Ausdehnung wäre inakzeptabel.“ Baker darauf: “Wir stimmen darin überein.“

Baker musste diese Position aufgeben und räumte in der Retrospektive ein: “Ich hatte das weder mit dem Weißen Haus noch mit dem Nationalen Sicherheitsrat abgestimmt. Ich hatte das mit Genscher erörtert. Wir standen da am Anfang des Verhandlungsprozesses. Innerhalb einiger Tage […] änderten die USA ihre Position, weil das Weiße Haus sagte: Moment mal! Wie soll das funktionieren? – ein Land zu einer Hälfte in einem Bündnis, zur anderen Hälfte draußen?“

Am 10. Februar 1990 empfing Gorbatschow Bundeskanzler Kohl und machte dabei die historische Zusage, dass die Deutschen selbst entscheiden könnten, ob sie in einem Staat leben wollten oder nicht. Bedingungen knüpfte er daran nicht, sondern verwies auf die geplanten Zwei-plus-vier-Verhandlungen.

Bei der Auftaktkonferenz in Bonn, wo sich am 5. Mai 1990 die Vertreter beider deutscher Staaten und der vier Siegermächte versammelten, hätte die Sowjetunion die Gelegenheit gehabt, die früheren Äußerungen von Baker und Genscher zur NATO-Erweiterung auf den Tisch zu legen und die westlichen Verhandlungspartner damit zu konfrontieren. Doch genau das tat Moskau weder am 5. Mai noch bei den folgenden Konferenzen.

Anfang Juni 1990 auf dem Gipfeltreffen zwischen den USA und der Sowjetunion in Washington und Camp David schien dann der Durchbruch in der NATO-Frage geschafft: Gorbatschow widersprach Präsident Bush sen. nicht, dass gemäß der Schlussakte von Helsinki auch das vereinigte Deutschland allein bestimmen dürfe, welchem Bündnis es angehören wolle.

Doch erst bei dem sogenannten Strickjackentreffen mit Bundeskanzler Kohl im Kaukasus sechs Wochen später gab Gorbatschow die eindeutige Zusage, dass Gesamtdeutschland die freie Bündniswahl habe. Rückblickend nennt er den Grund für den Positionswechsel in der NATO-Frage – dieser habe der politischen Logik entsprochen. “Da wir einerseits Deutschlands volle und uneingeschränkte Souveränität anerkannten, bedeutete das andererseits auch, dass Deutschland selbst über seine Bündniszugehörigkeit entscheiden darf.“

Vor allem in Moskau unter Präsident Putin – der übrigens erst seit wenigen Jahren behauptet, der Westen habe 1990 die Nichterweiterung der NATO gen Osten versprochen – wird mit oder ohne Absicht durcheinandergebracht, was westliche Politiker vor Beginn der Deutschlandverhandlungen geäußert haben und was am Verhandlungstisch der Zwei-plus-vier-Staaten tatsächlich besprochen und beschlossen wurde. Es ist ferner eine Legende, dass der Westen nur darauf gewartet hätte, neue Mitglieder gewinnen zu können. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 dauerte es acht Jahre, bis Polen, Tschechien und Ungarn 1999 der NATO beitraten. Es war der Westen, der lange mit einer Aufnahme zögerte.

Dieser Aufsatz basiert auf der Biografie von Ignaz Lozo: “Gorbatschow. Der Weltveränderer“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2021.

Fussnoten

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Ignaz Lozo ist promovierter Osteuropahistoriker, ausgebildeter Journalist und Autor zahlreicher ZDF-Dokumentationen zu Russland. 2014 verfasste er die erste wissenschaftliche Monographie über den Putsch gegen Gorbatschow, die als Standardwerk gilt und als Übersetzung auch in Russland erschien. 2021 erscheint sein Buch „Gorbatschow“.