Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Stanislaw Assejew | The Years of Change 1989-1991 | bpb.de

The Years of Change 1989-1991 Dokumentation Kontakt Magazin #2021 Vorwort Ein anderer Blick zurück – 30 Jahre danach Über Grenzen und Gedenken (1921–1941–1991– 2021) Die Sowjetunion ist nicht überall zerfallen schwierige arithmetik Immunität gegen das Unglück Stanislaw Assejew Die Freiheit der Bergarbeiter und Autoren Christian Neef NATO-Osterweiterung: Die Legende von gebrochenen westlichen Versprechen 1991 und 30 Jahre danach Hallo, Mickey!

Stanislaw Assejew

Stanislaw Assejew

/ 3 Minuten zu lesen

Heidegger schrieb, nur in der Biografie hole das besinnende Denken das rechnende Denken ein. Letzteres versucht, den Menschen zu vereinheitlichen, sein Wesen auf Zahlen, Nutzen und das Maß des Wohlbefindens zu reduzieren. Einzig in der Betrachtung der eigenen Biografie erschließt sich dem Einzelnen der tatsächliche Sinn der Vergangenheit.

Der Krieg kann in dieser Hinsicht als Biografie eines Landes verstanden werden. Und heute, wo wir sozusagen kurz vor dem Beginn des zweiten Kalten Krieges stehen, kommen wir nicht umhin, uns mit dieser Biografie auseinanderzusetzen, denn letztendlich führt uns die gesamte Evolution des Menschen zu einer einzigen Frage: Wie schaffen wir es, unsere eigene Vernichtung zu verhindern? Die Atomwaffen sind, seit es sie gibt, der Spiegel der westlichen Zivilisation, in den mittlerweile die gesamte Welt schaut. Der Ausgangspunkt für diese Frage liegt hier, in Europa, "wo die Atombombe schon in Parmenides' Poem explodierte", zweieinhalbtausend Jahre, bevor Hiroshima dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Seit dreißig Jahren lebt Osteuropa schon in der postsozialistischen Wirklichkeit. Wie weit sind wir nun seit dem Ende der 1980er Jahre gekommen? Seinerseits sagte Carl Gustav Jung, als er über Verdrängung als psychischen Abwehrmechanismus nachdach­te, er allein reiche nicht aus, um ein Problem zu bewältigen, denn das, was verdrängt worden sei, räche sich irgendwann in der Zukunft, wenn es nicht in der Erfahrung ver­ gegenwärtigt werde. Das können wir nun, nach dreißig Jahren, an unserem Staat beobachten. Eine ausreichende Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit hat nicht stattgefunden, die Geschichte ist vielmehr verdrängt worden, weswegen die 1930er uns heute im Donbass wieder einholen. Dort gibt es in nahezu jeder größeren Stadt, die sich in der Gewalt der sogenannten Republiken befindet, Keller, in denen Folter praktiziert wird. Eingeholt wird allerdings auch das moderne Europa, von den Staffeln des Luftlanderegiments aus Pskow, die Russland in den letzten Monaten auf die Krim geschickt hat.

Die Folterkeller und Fallschirmstaffeln kommen nicht von ungefähr, aus dem Nichts. Sie entstammen nicht der Welt der Postwahrheit, Demokratie und Freiheit Im Gegenteil: Sie verweisen darauf, dass neben der Welt von Elon Musk und Väclav Havel eine mächtige Vergangenheit in Form der russischen, der "roten" Raketen weiterhin lebendig ist. Die demokratischen Prozesse im Europa der ausgehenden 1980er Jahre haben die Welt der Postwahrheit entstehen lassen, in der jetzt, außer den Proble­men mit Ökologie und Terrorismus, auch der Populismus auf der Tagesordnung steht Emotionen und Likes in den sozialen Netzwerken, die kritische Zugänge verdrängen, stellen die tatsächlichen Fragen in Frage. Aber die "roten" Raketen sind anders. Atom­waffen erheben den Anspruch auf die ultimative Wahrheit ohne Wenn und Aber. Die autoritären Regimes kennen alle Antworten, sie sind so eine Art Heilige Kirche, nur steht anstelle des Himmelreichs ein irdischer Staat, der irgendwann, in der Zukunft, für die Gläubigen den Himmel auf Erden schaffen soll. Den Platz Gottes nimmt hier der Souverän ein.

Deswegen ist es in unserer heutigen Zeit so wichtig, die eigene Biografie zu ver­stehen, in der die "samtenen Revolutionen" und die heutigen Kriege nicht einfach his­torische Fakten sind. Es ist ein Schritt zur Freiheit, die ein neues Hiroshima nicht aus­ schließen kann.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Fussnoten

Weitere Inhalte

Stanislaw Assejew, geb. 1989 in Donezk, ist Schriftsteller und Journalist. Von 2015 bis 2017 schrieb er unter Pseudonym für ukrainische Medien aus dem besetzten Osten der Ukraine. Im Juni 2017 verschwand er spurlos. Erst später wurde offiziell bestätigt, dass er von Kämpfern der sogenannten Volksrepublik Donezk verschleppt worden war. 2019 kam Assejew im Zuge eines Gefangenenaustausches frei. Der Autor lebt jetzt in Kyjiw.