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Geschichte und theoretische Grundlagen des internationalen Freihandels

Ulrike Herrmann

/ 6 Minuten zu lesen

Teurer französischer Wein brachte zwei britische Ökonomen vor 250 Jahren dazu, über den zollfreien Austausch von Waren nachzudenken. Heute ist der Freihandel vor allem etwas für hochentwickelte Nationen, schreibt die Berliner Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann.

1851 fand im Londoner "Crystal Palace" die erste Weltausstellung statt: Hier wurden Güter und handwerkliche Produkte, Maschinen und Produktionsmethoden aus aller Welt gezeigt. (© Public Domain)

Freihandel ist eine Idee, die die Europäer bereits seit mehr als 250 Jahren beschäftigt. Ursprünglich wurde diese Theorie entwickelt, um den sogenannten "Merkantilismus" zu bekämpfen, den die damals führenden Ökonomen als eine Gängelung durch den Staat betrachteten. Ohne diese Vorgeschichte lässt sich die Idee des Freihandels nicht verstehen, weswegen zunächst ein kurzer historischer Exkurs nötig ist.

Europa ist ein besonderer Kontinent, obwohl es vielen Europäerinnen und Europäern gar nicht auffällt. Nirgendwo sonst auf der Welt ballen sich so viele Staaten auf so engem Raum, was wiederum permanente Auseinandersetzungen auslöste. Seit dem Zerfall des römischen Reiches hat es in Europa fast ununterbrochen Krieg gegeben – und es überlebten nur jene Fürsten, die Söldnerheere finanzieren konnten. Also benötigten die Kriegsherren Silber und Gold, um ihre Soldaten zu entlohnen.

Schon früh befassten sich die Fürsten daher mit der Frage, wie sich die Edelmetalle in ihren Schatzkammern vermehren ließen. Dabei stießen sie auf eine Idee, die sich im modernen Ökonomendeutsch "Leistungsbilanzüberschuss" nennt. Man musste mehr exportieren als importieren, um Gold und Silber ins Land zu spülen.

Die Fürsten machten sich also daran, heimische Firmen und Monopolbetriebe zu fördern, damit diese dann Exportprodukte herstellten. Umgekehrt wurden Importe verboten oder mit hohen Zöllen belegt. Diese Strategie nannte sich "Merkantilismus".

Ulrike Herrmann (© Herby Sachs/WDR)

König Edward III. trug nur englische Wollstoffe

Der erste Merkantilist war vermutlich der englische König Edward III., der von 1327 bis 1377 regierte. Er trug nur noch englische Wollstoffe, um auch seine Untertanen zu animieren, heimische Produkte zu kaufen – und nicht etwa flämische Tuche, die damals europaweit in Mode waren. Gleichzeitig holte Edward flämische Weber ins Land, damit sie die englischen Fabrikanten in die neuesten Techniken einwiesen. Das Prinzip Plagiat war also auch schon im Mittelalter bekannt.

So logisch es für den einzelnen Fürsten war, seine Exportindustrie zu fördern – der Merkantilismus hatte dennoch zwei entscheidende Nachteile, die bereits den Zeitgenossen auffielen. Erstens: Es ist unmöglich, dass alle Staaten nur exportieren wollen und niemand importiert. Dann bricht der Handel zusammen.

Zweitens: Der Merkantilismus nutzte zwar den Fürsten – nicht aber den Konsumenten. Die Bürger fanden die hohen Importzölle lästig, die eine Art Sondersteuer des Königs waren. Zudem nutzten es viele Fabrikanten aus, dass sie gegen die ausländische Konkurrenz geschützt waren. Sie verlangten hohe Preise für minderwertige Waren, kassierten also eine Art Monopolgewinn.

Vor allem gegen diese praktischen Missstände wandten sich die beiden britischen Ökonomen Adam Smith (1723 – 1790) und David Ricardo (1772 – 1823), die nicht nur die Gründungsväter der modernen Volkswirtschaftslehre sind, sondern auch die berühmtesten Verfechter des Freihandels.

Im Rückblick fällt auf, dass die beiden Ökonomen ihre Kritik am Merkantilismus gern mit einem bestimmten Beispiel illustrierten: mit dem Ärgernis, dass französischer Wein extrem teuer war, weil er mit hohen Importzöllen belegt wurde. Es ist nicht völlig übertrieben zu behaupten, dass über den Freihandel auch deswegen so intensiv nachgedacht wurde, weil zwei Ökonomen endlich besseren Alkohol zu niedrigeren Preisen trinken wollten.

Auch vor moralisch-medizinischen Argumenten schreckte Smith nicht zurück.

In seinem berühmten Buch Wohlstand der Nationen von 1776 merkte Smith süffisant an: "Mittels Glasscheiben, Mistbeeten und Schutzwänden können sehr gute Trauben auch in Schottland angebaut werden", aber leider sei dieser Tropfen dann etwa 30 Mal so teuer wie ausländischer Wein. Auch vor moralisch-medizinischen Argumenten schreckte Smith nicht zurück, um den freien Weinimport zu fordern: "Billiger Wein scheint nicht der Grund von Trunkenheit, sondern von Nüchternheit zu sein. Die Einwohner von Weinländern sind im Allgemeinen die nüchternsten Völker in Europa."

Für Smith war der Freihandel eine Variante der Arbeitsteilung. Jedes Land sollte sich auf jene Produkte spezialisieren, die es am besten und billigsten herstellen konnte. Allerdings tauchte bald ein empirisches Problem auf: Es ist ja einleuchtend, dass Frankreich leichter Wein herstellen kann als England – schlicht aus klimatischen Gründen. Aber wie lässt sich erklären, dass Industrieländer dazu neigen, Waren auszutauschen, die beide Regionen herstellen? Welchen Sinn hat es beispielsweise, um ein heutiges Beispiel herauszugreifen, dass die USA chemische Produkte nach Europa liefern – und die Europäer chemische Produkte in die USA?

Mit dieser Frage beschäftigte sich erstmals David Ricardo. 1821 publizierte er seine Theorie der "komparativen Kostenvorteile", die bis heute in keinem Wirtschaftslehrbuch fehlt. Auch Ricardo wählte ein alkoholisches Beispiel, um seine Theorie zu erläutern. Es sei einmal angenommen, dass Portugal und England beide sowohl Portwein wie auch Textilien herstellen können. Darüber hinaus sei vorausgesetzt, dass England Portwein und Textilien billiger produzieren kann als Portugal. Außerdem soll für England gelten, dass die Produktivität seiner Tuchherstellung höher ist als die Effizienz seiner Weinerzeugung. In diesem Fall wäre es für England vorteilhaft, nur Textilien herzustellen und den Portugiesen die Portwein-Produktion zu überlassen, obwohl die Engländer den Portwein eigentlich billiger herstellen könnten als die Portugiesen. Denn der maximale Profit entsteht, wenn man sich auf jene Geschäftszweige konzentriert, wo die eigene Produktivität am allerhöchsten ist.

David Ricardo (1772-1823) (© Public Domain)

Freihandel als Win-Win-Situation für alle beteiligten Länder

Ricardos Theorie der komparativen Kostenvorteile ist charmant, weil sie mathematisch absolut sauber ist. Es galt also als bewiesen, dass der Freihandel eine Win-Win-Situation für alle beteiligten Länder darstellt. Doch trotz dieser höheren Weihen durch die Mathematik schien die Theorie nicht korrekt zu sein: Schon Ricardos Zeitgenossen fiel auf, dass England immer reicher wurde – während die portugiesische Wirtschaft stagnierte.

Wie der britische Ökonom John Maynard Keynes (1883 – 1946) später herausarbeitete, gilt Ricardos Theorie nur, wenn in allen Ländern Vollbeschäftigung herrscht.

Allerdings blieb der Freihandel lange Zeit sowieso nur blanke Theorie. In der Praxis setzten die Europäer und die Amerikaner im 19. Jahrhundert auf den Protektionismus, um sich zu industrialisieren. Besonders hoch waren die Zölle in den USA, die im Durchschnitt zwischen 35 und 50 Prozent verlangten – und zwar von 1820 bis zum Zweiten Weltkrieg. Erst ab 1948 sanken die amerikanischen Zölle kontinuierlich.

Die USA bauten ihre Zölle erst ab, als sie unangefochten die globale ökonomische Supermacht waren. Dieses Muster lässt sich übrigens bei allen Industrieländern beobachten: Sie führten den Freihandel erst ein, als die eigenen Produzenten zu den Weltmarktführern gehörten und die Konkurrenz nicht mehr fürchten mussten.

Der erste internationale Freihandelsvertrag namens "Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen" (GATT) wurde 1947 abgeschlossen. 1995 wurde dieser Vertrag durch die Welthandelsorganisation (WTO) abgelöst, doch die Ziele blieben die gleichen: Zölle und andere Handelshemmnisse sollten sukzessive abgebaut werden. 1995 wurde der Freihandel zudem auch auf Dienstleistungen ausgeweitet, dieses gesonderte GATS-Abkommen wurde ebenfalls Teil der WTO.

Für die Industrieländer ist es richtig, keine Zölle mehr zu erheben. Dieser künstliche Schutz würde nur dazu führen, dass sich Unternehmen dem Wettbewerb entziehen und Monopolgewinne kassieren, die die Konsumentinnen und Konsumenten bezahlen müssen.

Für Entwicklungsländer ist schrankenloser Freihandel schädlich

Doch für die Entwicklungsländer ist es schädlich, wenn sie dem schrankenlosen Freihandel ausgesetzt sind. Denn sie sind heute in einer Situation, die an Deutschland oder Frankreich im 19. Jahrhundert erinnert: Sie müssen versuchen, den technologischen Abstand zu verringern, der sie von den Industrieländern trennt.

Allerdings haben es die Entwicklungsländer heute ungleich schwerer als die Deutschen oder Franzosen vor 200 Jahren. Denn im 19. Jahrhundert betrug der technologische Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern höchstens 4 zu 1, wie der südkoreanische Ökonom Ha-Joon Chang vorrechnet, der derzeit im britischen Cambridge lehrt. Inzwischen aber hat sich die Kluft zwischen reichen Staaten wie den USA und den ärmsten Ländern wie Äthiopien oder Tansania auf etwa 60 zu 1 ausgeweitet. Selbst Schwellenländer wie Brasilien hinken 5 zu 1 hinterher, wenn es um die Produktivität ihrer Wirtschaft geht.

Dies bedeutet: Wenn sich heute ein Land wie Brasilien gegen die Übermacht der Industrieländer wehren will, dann reichen Importzölle von 40 Prozent nicht, wie sie die USA im 19. Jahrhundert erhoben haben – sondern es müssten Zölle von weit über 100 Prozent sein. Doch stattdessen werden die Entwicklungs- und Schwellenländer dazu gedrängt, Freihandelsabkommen und WTO-Verträge zu akzeptieren, die sinkende Zölle vorsehen.

Die heutigen Freihandelsabkommen gehen stets davon aus, dass eine Symmetrie bei den Vereinbarungen herrschen müsse – und alle Länder ihre Zölle möglichst reduzieren sollen. Eine Alternative könnte sein, dass die internationalen Abkommen die unterschiedlichen Entwicklungsstufen berücksichtigen.

Die Entwicklungsländer haben natürlich längst erkannt, dass sie durch die Freihandelsabkommen benachteiligt werden, weswegen die internationalen WTO-Verhandlungen immer wieder stocken. TTIP, das Abkommen zwischen der USA und der EU, kann daher auch als ein willkommener Umweg für Amerikaner und Europäer gedeutet werden, um den weltweiten Freihandel jenseits der WTO durchzusetzen.

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Ulrike Herrmann, Jahrgang 1964, hat eine Lehre als Bankkauffrau absolviert. Sie ist Wirtschaftskorrespondentin der taz. Im September 2016 erschien ihr Buch „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“.