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Podcast: Netz aus Lügen – Der Ausweg (7/8) | Digitale Desinformation | bpb.de

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Podcast: Netz aus Lügen – Der Ausweg (7/8)

Katharin Tai Lena Puttfarcken

/ 24 Minuten zu lesen

Taiwan wird oft als Musterschülerin in Sachen Desinformationsbekämpfung beschrieben. Doch trägt diese Erzählung? Was macht der Inselstaat in Ostasien anders und woraus können wir hier in Deutschland vielleicht lernen? In der siebten Folge schauen wir uns Taiwans Strategien genauer an.

Netz aus Lügen - Der Ausweg (7/8)

Die globale Macht von Desinformation

Netz aus Lügen - Der Ausweg (7/8)

Taiwan wird oft als Musterschülerin in Sachen Desinformationsbekämpfung beschrieben. Doch trägt diese Erzählung? Was macht der Inselstaat in Ostasien anders und woraus können wir hier in Deutschland vielleicht lernen? In der siebten Folge schauen wir uns Taiwans Strategien genauer an.

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Transkript "Netz aus Lügen – Der Ausweg (7/8)

[00:00]

Zuspieler (ZSP) Atmo von Tsai Ing-wens Rally am Abend vor der Wahl:

Jubelrufe und Sprechgesänge, "2020一定要贏","凍蒜, 凍蒜"

So klingt die letzte große Wahlkampfveranstaltung der taiwanesischen Präsidentin Tsai Ing-wen in Taipei kurz vor den Präsidentschaftswahlen im Januar 2020. Mitten in der Hauptstadt Taiwans jubeln ihr tausende Unterstützerinnen und Unterstützer zu. Der Platz, auf dem die große Bühne steht, ist so überfüllt, dass in den Seitenstraßen große Bildschirme stehen, an denen sich Menschengruppen gesammelt haben. Es ist der Endspurt eines langen und schwierigen Wahlkampfes. Und natürlich gab es in diesem auch Desinformation: die Lüge, dass Tsai eigentlich gar keinen Abschluss von der London School of Economics bekommen hat, dominierte den Wahlkampf. Trotzdem: Am nächsten Tag wird sie mit einem Rekordergebnis in eine zweite Amtszeit gewählt.

ATMO HOCH

Jingle: "Netz aus Lügen - Die globale Macht von Desinformation" - ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung. Folge 7 - Der Ausweg

Mit rund 23 Millionen Bürgerinnen und Bürgern ist der Inselstaat in Ostasien eine relativ kleine Demokratie, aber: Kein Land der Welt ist laut dem schwedischen Forschungsinstitut V-Dem so vielen von ausländischen Regierungen gestreuten Desinformationen ausgesetzt wie Taiwan. Facebook richtete vor den Präsidentschaftswahlen ein eigenes Kommandozentrum in Taipeh ein, um das Problem vor Ort zu bekämpfen, denn die Plattform spielt auch in Taiwan eine große Rolle: In einer Telefonumfrage von 2020 gaben fast 95% der Befragten über alle Altersgruppen hinweg an, Facebook zu nutzen. Als mit Tsai Ing-wen die pro-taiwanesische Kandidatin gewann, konnte man das erleichterte Aufatmen fast hören.

ZSP

"Taiwan gewinnt den Kampf gegen politische Desinformation"

schreibt zum Beispiel Walter Kerr, ein ehemaliger US-Diplomat im Herbst 2020.

Die Harvard Kennedy-School veröffentlicht im Sommer 2020 einen Bericht mit dem Titel:

ZSP

"Chinesische Desinformationen bekämpfen und besiegen - Die Wahlen in Taiwan als Fallbeispiel"

Viele schienen sicher: von Taiwan lernen, heißt siegen lernen. Das Land galt als Musterschülerin im Kampf gegen Desinformation. Doch diese einfache, eingängige Geschichte ist vermutlich selber eine Falschinformation - oder zumindest ein Missverständnis.

[02:39] Hallo, mein Name ist Ann-Kathrin Büüsker. In diesem Podcast geht es um Desinformation, also Lügen, die Gesellschaften polarisieren sollen, sie zweifeln lassen an demokratischen Institutionen, an Parteien und dem politischen System.

Und vielleicht ist jetzt mal ein guter Zeitpunkt ein bisschen zurück zu schauen. Mal kurz zu verschnaufen. In den vergangenen sechs Folgen sind wir einmal quer über den Globus gereist und haben uns Desinformation in verschiedensten Erdteilen angeschaut. Wir waren in Polen, Deutschland, den USA, der Ukraine und in Indien. Und überall… ist es ähnlich, überall haben ähnliche Mechanismen gegriffen - wie Desinformation platziert wird und wie jene Lügen in Lichtgeschwindigkeit über Plattformen weiter verbreitet werden.

Wir sind jetzt auf der Zielgeraden unserer Podcastreihe angekommen. In dieser UND in der nächsten Folge beschäftigen wir uns vor allem mit der Frage: Ja, und jetzt? Wie können wir der Desinformation, die unserer Gesellschaft zusetzt, beikommen? Dazu schauen wir uns verschiedene Strategien an, entwickelt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern - und andere, die direkt in Taiwan ausprobiert werden. Und ein kleiner Spoiler: Weil wir euch nichts Spannendes und Erhellendes vorenthalten wollen, verteilen wir die Lösungsstrategien auf zwei Folgen.

[03:54] Zurück nach Taiwan.

ZSP Lo Ping-Cheng

"Ich würde nicht sagen, dass es Taiwan schon gelungen ist, dieses Problem zu lösen, dieser "Erfolg" ist auch unmöglich zu definieren."

Das sagt Minister Lo Ping-Cheng (羅秉成), ein ehemaliger Anwalt, der die Desinformations-Taskforce der Regierung leitet:

ZSP Lo Ping-Cheng

"Bisher gibt es keinen objektiven Standard um zu sagen, ob ein Land den Kampf gegen Desinformation gewonnen hat. Ich sage auch meinem Team immer: "Desinformationen sind ein bisschen wie ein Virus - es komplett auszulöschen, ist sehr unwahrscheinlich, denn es wird sich immer wieder verändern. Es kann sein, dass es keinen Erfolg geben wird, auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen. Aber Scheitern ist keine Option, denn wenn wir scheitern, dann ist alles vorbei." Zu sagen "wir haben gewonnen, wir haben diesen Feind Desinformation besiegt" - so arrogant, so naiv sind wir nicht."

Lo Ping-Cheng glaubt nicht, dass es schon eine Lösung gibt, die man von irgendeinem Land kopieren könnte - auch Taiwan schaut ins Ausland und versucht, vom Rest der Welt zu lernen.

ZSP Lo Ping-Cheng

"Wenn es darum geht, eine Strategie zu entwickeln, schauen wir uns auch sehr genau an, was viele andere Länder machen, zum Beispiel, wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz in Deutschland, das von Angela Merkels Regierung verabschiedet wurde, wie der europäische Digital Services Act dieses Problem löst. Auch in Asien, in Singapore, Malaysia, gibt es ganz verschiedene Ansätze, das variiert zwischen verschiedenen politischen Systemen, Ländern, Kulturen und wirtschaftlichen Systemen. Aber wenn es um die Bekämpfung des gleichen Feindes, der Desinformation, geht, sehe ich persönlichen noch keinen eindeutigen Goldstandard, diese eine perfekte Strategie, die gibt es noch nicht."

Okay, also wenn selbst ein Politiker diesen Erfolg nicht für sich verbuchen möchte, ist die Realität wohl echt etwas komplizierter.
Wir können zumindest schauen, was in Taiwan bisher funktioniert hat - und was nicht.

[06:14] Um die Situation in Taiwan zu verstehen, müssen wir auch mal kurz darüber reden, in welcher besonderen geopolitischen Lage sich das Land befindet und um welche Art von Desinformation es hier überhaupt geht. Ihr habt vielleicht schon einmal gehört, dass Taiwan Probleme mit seinem großen Nachbarn China hat. Hintergrund ist, dass China den praktisch unabhängigen und selbstregierten Inselstaat als Teil seines Territoriums für sich beansprucht. Kriegshandlungen gibt es zwischen den beiden Seiten schon seit Jahrzehnten nicht mehr, dafür immer wieder Drohgebärden Chinas. Die Frage der Beziehung zu China ist zentral in der taiwanesischen Politik, erklärt uns die Professorin für Politische Ökonomie Wei-ting Yen vom Franklin & Marshall College in den USA:

ZSP Wei-ting Yen

"Die beiden wichtigsten politischen Kräfte in Taiwan sind die Kuomintang, die KMT, und die Democratic Progressive Party, die DPP. Die entscheidende politische Spaltung in Taiwan ist entlang der Frage, welche Position man zu China hat. Die KMT hat traditionell eine enge Beziehung zu China. Sie denken, dass Taiwan eine engere wirtschaftliche Beziehung zu China haben sollte und sich auch politisch annähern sollte. Die DPP wiederum versucht eher, Abstand zu China zu wahren und ist vorsichtiger, wenn es um Annäherungen an China geht, sei es politisch oder wirtschaftlich."

Die chinesische Regierung steht im Verdacht, sich immer wieder in die taiwanesische Politik einzumischen und sie zu ihren Gunsten beeinflussen zu wollen, Zwietracht zu säen, Unruhe zu stiften. Zum Beispiel, indem sie das öffentliche Vertrauen in Taiwans Demokratie und seine Institutionen unterwandert . Ein prominentes Beispiel für diesen Einfluss auf klassische Medien deckte 2019 die britische Tageszeitung Financial Times auf: Sie berichtete, dass die chinafreundliche taiwanesische Zeitung "China Times" per Anruf Anweisungen der chinesischen Regierung erhalte . Die Want Want-Gruppe, zu der die Zeitung gehört, bestreitet die Vorwürfe.

[07:47] Oft ist es allerdings sowohl in klassischen als auch in sozialen Netzwerken schwierig, festzustellen, ob wirklich die chinesische Regierung hinter Falschinformationen in Taiwan steckt. Und das macht auch die Begrifflichkeiten im taiwanesischen Kontext kompliziert. Ihr erinnert euch vielleicht, wie Claire Wardle das in unserer ersten Folge definiert hat: Was falsch ist, aber nicht in böser Absicht erstellt wurde, sind Misinformationen. Desinformationen sind falsch und werden absichtlich verbreitet, um anderen zu schaden. Malinformationen wiederum sind zwar wahr, aber werden mit der Absicht verbreitet, anderen zu schaden. Wenn man nicht weiß, ob hinter einer Falschinformation eine böse Absicht steckt oder nicht, kann man zum Beispiel nicht mehr zwischen Misinformation und Desinformation unterscheiden - was dazu führt, dass das auch die Wissenschaft vor Probleme stellt, Desinformation einzuordnen und ihre Wirkungsmacht zu messen.

[09:40] Ein Beispiel dafür hat uns Puma Shen erklärt. Der Kriminologe leitet das DoubleThink Lab in Taipeh, das sich der Erforschung und Dokumentation von Gefahren für die Demokratie verschrieben hat . Das Problem: manchmal steckt hinter Informationen, die der chinesischen Regierung helfen könnten, einfach Profitgier.

ZSP Puma Shen

"Manche dieser Content Farms werden von chinesischen Geschäftsleuten in Singapur oder Malaysia kontrolliert. Sie funktionieren so, dass sie Webseiten aufsetzen und dann einfach viele Artikel von anderen Zeitungen kopieren und vielleicht einfach den Titel etwas anpassen. Sie bezahlen auch Menschen, um ziemlich schlechte Artikel für sie zu schreiben. Und besonders hier in Taiwan stellen sie dann zum Beispiel Studierende an, oder Leute, die etwas Geld verdienen wollen, und deswegen bei diesen Seiten arbeiten und ihre eigenen Fanpages oder Gruppen verlinken. Sie verbreiten dann diese Artikel, um damit Geld zu verdienen."

Auch der Youtube-Algorithmus kann es profitabel machen, pro-chinesische Inhalte zu verbreiten:

ZSP Puma Shen

"Manche dieser Leute können bis zu 1.000 Dollar pro Monat damit verdienen, diese Artikel online zu verbreiten. (...) Zum Beispiel hatten wir in Taiwan die Präsidentschaftswahl im Januar 2020. Wenn man sich die Zeit davor, 2019, auf YouTube anschaut, dann haben da die Top 10 Youtuberinnen und Youtuber, die online Spenden erhalten, pro-chinesische Botschaften in ihren beliebtesten Videos verbreitet. Aber ich glaube nicht, dass sie offizielle Beziehungen zur chinesischen Regierung haben. Aber wenn jemand diese pro-chinesischen Themen auf Youtube verbreitet, ist es leicht, viele Spenden und viele Views zu kriegen. Also wer auf YouTube berühmt werden möchte, könnte sich dieses Thema aussuchen."

In diesen Fällen könnten Falschinformationen also ohne politische Absichten verbreitet werden - aber trotzdem chinesischen Interessen in Taiwan nutzen.

[15:00] In unseren Interviews in Taiwan haben die meisten Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner übrigens einen chinesischen Begriff verwendet, der nicht unbedingt zwischen den verschiedenen Kategorien unterscheidet (假訊息). Wörtlich übersetzt heißt er Falschinformation (假訊息), manche benutzen aber auch einfach die direkte chinesische Übersetzung von "fake news" (假新聞). Wenn Minister Lo von "Desinformationen" (假訊息) spricht, hat er allerdings eine klare Definition, die hören wir später noch.

Obwohl es in Taiwan oft um Desinformationen aus China oder zu Chinas Gunsten geht, ist das bei weitem nicht der einzige oder unbedingt der sichtbarste Teil des Problems: Als wir mit Leuten vor Ort über Desinformationen geredet haben, kamen politische Themen zwar vor - aber viele Menschen sind über Gesundheitsthemen auf das Problem aufmerksam geworden. Oft waren das Informationen, die ihre älteren Verwandten enthusiastisch untereinander geteilt haben. Auch hinter diesen Falschbehauptungen steckt oft eine Intention - nämlich der Profit der Content Farms, von denen auch Puma Shen, der Kriminologe des DoubleThink Lab in Taipeh, gesprochen hat.

Ein Beispiel hat uns Robin Lee von der FactChecking-Webseite MyGoPen, erzählt. Er erinnert sich an den Anfang der Pandemie, im Frühjahr 2020:

ZSP Robin Lee

"Damals rannten alle Leute zum Supermarkt, um Toilettenpapier zu kaufen, weil sie Nachrichten bekamen, dass das Toilettenpapier aus dem gleichen Material wie Masken bestehe - und deshalb knapp werden könnte. Es war Chaos, kein Supermarkt hatte mehr Toilettenpapier. In Wahrheit ist das Material ein ganz anderes. Deswegen untersuchte die Polizei in Taiwan die ganze Sache, um herauszufinden, wo die Nachricht herkam, und die Spur führte zu einer PR-Firma - und die Firma hatte einen Klienten, der Toilettenpapier herstellt."

An dem Beispiel sieht man sehr gut, dass es für die Konsequenzen egal ist, ob falsche Informationen bewusst oder unbewusst gestreut werden. Menschen nehmen sie ernst - und das Problem der Toilettenpapierknappheit tauchte letztendlich nicht nur in Taiwan oder in den USA auf, sondern auch hier in Deutschland.

Insgesamt wird es also in dieser Folge sowohl um Des- als auch um Misinformationen gehen. Die offizielle Definition von Desinformation von Minister Lo ist ganz hilfreich, um den taiwanesischen Kontext besser zu verstehen und mit was für Problemen sich seine Taskforce beschäftigt: Es geht um falsche Informationen, die aus böswilligen Absichten geteilt und verbreitet werden und irgendeine Art von Schaden verursachen, sei es gesundheitlich, wirtschaftlich, oder indem sie das Vertrauen in die Demokratie untergraben. All das ist universell - aber was von Land zu Land unterschiedlich ist, ist das Umfeld, in dem sich Falschinformationen verbreiten. In Taiwan sind die zwei wichtigsten digitalen Dienste Facebook und Line. Facebook ist - wie hier in Deutschland - ziemlich beliebt und wird von einem Großteil der Menschen in Taiwan genutzt. Und dann ist da Line. Line ist ein japanischer Messenger, der ein bisschen wie WhatsApp funktioniert und 2020 von etwa 88 Prozent der taiwanesischen Bevölkerung unter 64 Jahren genutzt wurde.

Aber gehen wir ein paar Schritte zurück und schauen uns erst einmal an, was Taiwan macht, um Desinformationen zu bekämpfen - und wie das bisher funktioniert. Um uns die offizielle Strategie zu erklären, gibt es wohl niemand besseren als Minister Lo Ping-Cheng, den wir schon gehört haben. Lo ist ein ehemaliger Menschenrechtsanwalt und jetzt für die Desinformations-Task-Force im Exekutiv-Yuan, der taiwanesischen Exekutive, zuständig. Sie koordiniert die verschiedenen Ministerien und Behörden wie das Außenministerium, das Verteidigungsministerium oder die Bildungsagentur bei ihren Maßnahmen gegen Desinformation, entwickelt Strategien und soll die aktuelle Gesetzeslage evaluieren.

ZSP Lo Ping-Cheng

"PengUnserer Strategie im Kampf gegen Desinformation hat aktuell vier Bestandteile: In dem ersten Teil geht es darum "falsche Informationen zu erkennen" (识假") und die Medienkompetenz der Bürgerinnen und Bürger zu stärken. Zum Teil ist das die Aufgabe des Bildungsministeriums - in den Schulen und in der gesamten Gesellschaft. Ein zweiter, weniger bekannter Bereich der Maßnahme ist es, auch die Regierungsangestellten durch Medienkompetenztrainings zu schulen. Sie nehmen an Kursen teil, in denen es um Fragen geht wie: Was sind Desinformationen? Wie verifiziert und bewertet man sie? Wie geht man mit ihnen um und wie stellt man sie richtig?"

Der erste Bestandteil ist sehr langfristig angelegt. Der zweite ist deutlich kurzfristiger:

ZSP Lo Ping-Cheng

"Er heißt "Desinformation widerlegen, 破假." : Wir wissen, dass etwas eine Desinformation ist, aber wie gibt man bekannt, dass es Desinformation ist, und was die Wahrheit ist? Für Regierungsinstitutionen gibt es da drei wichtige Regeln: Die Klarstellung muss schnell, akkurat und effektiv sein. Denn wenn sie schnell und akkurat ist, aber niemand sie liest - das bringt ja nichts. Bei der Effektivität muss man sich auch an die Gegebenheiten und Anforderungen des Internets anpassen. Regierungsabteilungen schreiben zum Beispiel viele Pressemitteilungen, das sind sie so gewohnt - aber diese Gewohnheit muss sich ändern. Wir brauchen nicht unbedingt eine Pressemitteilung, vielleicht braucht es gerade nur zwei gute Sharepics, und das reicht."

Minister Lo ist aber auch klar, dass die Regierung nicht die Instanz ist, die über Wahr und Falsch entscheidet - im Gegenteil, er betont in unserem Gespräch immer wieder, wie wichtig die Zivilgesellschaft ist.

ZSP Lo Ping-Cheng

"Wenn die Regierung etwas widerlegt, wird es immer einige Menschen geben, die das anzweifeln. Deswegen gibt es im besten Fall unabhängige Fact Checking Organisationen. Sie kriegen keine finanzielle Unterstützung von der Regierung, sie sind neutral und objektiv. Wenn sie Richtigstellungen veröffentlichen, können sie den Menschen helfen, den Wahrheitsgehalt einer Information besser zu beurteilen. Der dritte Bestandteil heißt 'Desinformationen eindämmen'. Denn wenn Desinformationen sich erst mal im Netz verbreiten, verbreiten sie sich unheimlich schnell. Und Menschen glauben dann eher die falsche als die richtigen Information."

Lo sieht hier vor allem die Internetplattformen wie Facebook, Line, Youtube oder Twitter in der Verantwortung:
Sie sollen bestimmte Inhalte selbst löschen, aber er macht sich auch Sorgen, dass dabei auch vollkommen legitime Aussagen verschwinden. Immer wieder erwähnt er im Gespräch, wie wichtig der Schutz der Meinungsfreiheit ist.
Momentan ist beispielsweise in Taiwan ein neues Gesetz zu Digitaler Kommunikation in Arbeit , das Plattformen von rechtlicher Verantwortung für Postings, die die Rechte anderer Menschen verletzen, befreien könnte - aber nur unter der Bedingung, dass sie diese Inhalte löschen oder unzugänglich machen.

ZSP Lo Ping-Cheng

"Das ist quasi Selbstregulierung und gesetzliche Regulierung zusammen, um die Verbreitung von Desinformationen einzudämmen. Der vierte Teil der Strategie ist "Desinformation bestrafen", das ist vermutlich nicht die effektivste Methode, aber wir sollten es machen, wenn es geht. (...) Konkret geht es um falsche Informationen, die mit böswilligem Vorsatz verbreitet werden und Schaden verursachen."

Er hat auch direkt ein Beispiel parat, wie Falschinformationen mit böser Absicht aussehen könnten: Während Taiwans erstem großen Covid19-Ausbruch im Mai 2021 hatten die Menschen Angst davor, mit Infizierten in Kontakt zu kommen. Da gab es Menschen, die aus Wut auf ein Geschäft die falsche Information verbreitet haben, dass sich dort jemand infiziert hätte - woraufhin viele nicht mehr hingingen. Das Geschäft hatte einen klaren wirtschaftlichen Schaden erlitten. Eine Straftat ist die Verbreitung solcher Gerüchte aber nicht. Auch gegen solche Desinformationen kämpft die Taskforce des Ministers.

Um solche Probleme zu lösen, passt die taiwanesische Regierung gerade nach und nach Gesetze an. So verbietet eine neue Änderung des "Gesetzes über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen" die Verbreitung von Gerüchten oder Falschinformationen, die den Preis von landwirtschaftlichen Produkten beeinflussen. Andere Änderungen haben es auf die Verbreitung von Falschinformationen zu Katastrophen oder nuklearen Unfällen abgesehen, deren Verbreitung dafür sorgt, dass Menschen Schaden nehmen.

Trotz aller Vorsicht sieht der Minister allerdings doch ein paar Verbesserungen: Bei den Lokal- und Landtagswahlen 2018 waren viele Taiwanesinnen und Taiwanesen von den vielen Desinformationen schockiert und waren bei den Präsidentschaftswahlen zwei Jahre später dann deutlich mehr auf der Hut.

Insgesamt beschreibt Lo seine Arbeit und den Kampf der taiwanesischen Regierung gegen Desinformation als einen Prozess, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Er sagt es mit einer chinesischen Redewendung: "Den Fluss überqueren, indem man nach den Steinen fühlt" - ein vorsichtiger, langsamer Prozess, bei dem man den richtigen Weg noch nicht kennt, aber ihn durch Ausprobieren nach und nach findet. Und hoffentlich letztendlich auf die andere Seite kommt. Dabei sieht er Taiwan in guter Gesellschaft, denn:

ZSP Lo Ping-Cheng

"Alle Länder arbeiten gerade an diesem Problem der Desinformation, aber die eine Lösung, den Goldstandard, gibt es einfach noch nicht."

Auch, wenn es noch keinen klaren Weg vorwärts gibt, hat Lo für sich aus seiner langjährigen Arbeit schon einen wichtigen Schluss gezogen:

ZSP Lo Ping-Cheng

"Letztendlich glaube ich nicht, dass das ein Problem ist, dass Regierungen einfach alleine lösen können."

Er hofft stattdessen, dass die taiwanesische Gesellschaft eine Art Immunität entwickeln kann.

[22:22]

ZSP Lo Ping-Cheng

"Letztlich ist Medienkompetenz unheimlich wichtig, denn nur so können alle gemeinsam die Fähigkeit entwickeln, Desinformation vorzubeugen. Das kann man nicht machen, in dem man Leute durch Strafverfolgung zur Verantwortung zieht oder Desinformationen durch Gesetze bekämpft, denn diese Mittel geraten schnell mit der Meinungsfreiheit in Konflikt, die in unseren beiden Ländern ein sehr hohes Gut ist. Gesetze sind wichtig, aber sie sind nicht die einzige Lösung oder das Allheilmittel."

In der Gesellschaft verankerte Medienkompetenz kann man auch als eine Art Widerstandsfähigkeit gegen Desinformation beschreiben. Oder "Resilienz", wie man in der Wissenschaft gern dazu sagt. Das Wort "Resilienz" gibt es schon länger in der Materialwissenschaft, da sagt es aus, wie widerstandsfähig ein Material ist, und auch in der Psychologie, wie widerstandsfähig eben ein Mensch ist. Dieses Konzept kann man aber auch auf eine Gesellschaft übertragen, das ist dann die "demokratische Resilienz". Und jetzt wechseln wir kurz von Taiwan nach Deutschland. Denn an der Universität Münster sitzt eine Forschungsgruppe, die sich demokratische Resilienz im Internet anschaut . Das Team besteht aus Forschenden der Kommunikationswissenschaft und Wirtschaftsinformatik. Einer von ihnen ist Tim Schatto-Eckrodt.

ZSP Tim Schatto-Eckrodt

"Wir versuchen herauszufinden, wie man es am besten schafft, dass Bürgerinnen und Bürger möglichst gut darauf vorbereitet sind, sich in der Realität des Medienwandels und der aktuellen Medienrealität, sich im öffentlichen Diskurs zu bewegen und möglichst gut darauf vorbereitet zu sein, was möglicherweise mit ihnen passiert."

Zentral für die Widerstandsfähigkeit einer Demokratie sind laut der Forschungsgruppe die Bürgerinnen und Bürger. Medienkompetenz ist der wichtigste Baustein:

ZSP Tim Schatto-Eckrodt

"Weil die Medienkompetenz sozusagen das erste Rüstzeug ist gegen mögliche Manipulationsversuche. Allein, dass das Mediennutzer*innen wissen, wie Journalismus in Deutschland funktioniert, dass Mediennutzer*innen wissen, wer wie sendet, auf welchen Kanälen und auch was sozusagen einer eine Objektivitätspflicht irgendwie unterliegt und was nicht. Und wo der Unterschied ist zwischen einem kleinen, von einer Person geführten privaten Medium und einer großen Tageszeitung."

Für die demokratische Resilienz ist es auch gut, sagt Schatto-Eckrodt, wenn Menschen sich erst mal darüber im Klaren sind, dass Desinformation existiert und zum Problem werden kann. Dass es online Akteure gibt, die Meinungen beeinflussen wollen, oder uns sogar schaden wollen.
Und: dass Menschen dann auch selbst aktiv werden, zum einen sich selbst hinterfragen und zum anderen anderen von Desinformation erzählen.

In dem Forschungsprojekt geht es vor allem um die Situation in Deutschland, und hier sieht es gar nicht so schlecht aus.

ZSP Tim Schatto-Eckrodt

"Grundsätzlich haben wir irgendwie in Deutschland auch ein ganz okayes Level an Diskursräumen. Wir haben jetzt nicht so eine krass polarisierte Öffentlichkeit, wie es zum Beispiel in den USA der Fall ist, wo es so sehr starke Lagerbildung gibt."

Ausbaufähig ist es aber schon noch - gerade, was den wichtigen Faktor Medienkompetenz angeht. Da hat die Stiftung Neue Verantwortung, von der ihr schon in der zweiten Folge im Podcast gehört habt, im März 2021 erst eine Studie dazu veröffentlicht . Für die Studie wurden über 4000 Personen in Online-Interviews befragt, die Stichprobe ist repräsentativ für die deutschsprachige Bevölkerung mit Internetzugang in Deutschland. Teilweise machen die Ergebnisse nicht gerade Mut in Sachen Medienkompetenz. In der Befragung konnte beispielsweise über die Hälfte Werbung nicht von Information unterscheiden, ein Drittel hat Falschinformationen für echte Infos gehalten. Und - zwar gibt es auf einigen Plattformen mittlerweile Versuche, Desinformation zu kennzeichnen, die meisten Befragten haben das aber gar nicht gesehen oder verstanden, worum es bei dieser Kennzeichnung geht.

Prinzipiell helfen solche Kennzeichnungen aber schon, wenn Leute sie erkennen und sich daran gewöhnt haben. Dann haben diese Hinweise zumindest eine gewisse Wirkung. Auch kurze Hinweise können helfen, die zum Beispiel auftauchen, bevor jemand in den sozialen Netzwerken etwas teilt. Studien zeigen: Gibt man Menschen die Chance, noch einmal kurz nachzudenken, etwa durch so einen Hinweis, werden weniger Falschinformationen geglaubt und verbreitet.

Wir haben vorhin schon gehört, dass in Taiwan die Regierung versucht, in Schulen und der Gesamtgesellschaft die Medienkompetenz zu verbessern und Taiwans Demokratie so resilienter zu machen, wie Schatto-Eckrodt es wohl beschreiben würde. Gleichzeitig hat Minister Lo auch Faktenchecks durch Regierungsinstitutionen erwähnt, die auf Pressekonferenzen bekannt gegeben oder im Internet veröffentlicht werden, um Falschinformationen zu widerlegen. Ein besonders prominentes Beispiel stammt aus dem Beginn der Pandemie, als in Taiwan das Toilettenpapier knapp wurde: Premierminister Su Tseng-chang erinnerte die Öffentlichkeit daran, dass wir alle "nur einen Hintern" haben, und Hamsterkäufe von Toilettenpapier daher unnötig seien.

Aber seit einigen Jahren schon gibt es in Taiwan auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich dem gleichen Ziel verschrieben haben wie die Regierung: dem Kampf gegen Desinformation.
[25:49] Eine besonders bekannte Factchecking-Plattform ist MyGoPen, die 2015 ganz klein und persönlich anfing, wie Projektmanager Robin Lee berichtet:

ZSP Robin Lee

"Es ging damit los, dass unser Gründer seinem Schwiegervater mit seinem Telefon half. Er war überrascht, wie viele Falschinformationen er auf seinem Telefon sah, besonders auf Line, eine der beliebtesten Messenger-Apps in Taiwan. Dabei stellte er fest, dass die Informationen von Content Farms kamen, und falsch waren. Er fand auch heraus, dass viele ältere Leute in Taiwan in Onlinegruppen sind, in denen sie sehr viele Falschinformationen von diesen Content Farms geschickt bekommen. Und dann hat er MyGoPen gestartet: Um korrekte Informationen für ältere Menschen zu veröffentlichen, damit sie keinen Schaden durch die Falschinformationen erleiden. Am Anfang hat er nur seinem Schwiegervater und dessen Freundeskreis geholfen, von denen ihn immer mehr Leute als Freund auf Line hinzufügten, um ihm Informationen zu schicken und zu fragen: Ist das jetzt wahr? Dann hat er ihnen quasi geholfen, Ärztinnen und Ärzte oder andere relevante Expertinnen und Experten zu kontaktieren, um die Informationen zu verifizieren."

Die Anfragen wuchsen immer weiter, sodass MyGoPen schon 2016 seine erste Webseite aufbaute, auf der die widerlegten Behauptungen und die Richtigstellungen veröffentlicht wurden. Im Kern bot die Seite aber einen persönlichen Service an: Nutzerinnen und Nutzer konnten fragen, ob die Gruppe eine bestimmte Nachricht verifiziert hatte. Falls ja, schickten sie die Erklärung zurück, falls nicht, forschte jemand der neuen Nachricht hinterher. 2018 kam dann Robin Lee an Board und entwickelte einen Bot, der den Prozess automatisierte und bei bekannten Artikeln direkt die Richtigstellung zurück schickte, die erklärt, was an dem Artikel falsch ist.

Mittlerweile hat MyGoPen nach eigenen Angaben 400.000 Nutzerinnen und Nutzer in der Chat-App Line und erhält pro Tag zwischen 500 und 1000 Links zu Nachrichten, die jemand für falsch hält.
Bis zu 70 Prozent dieser Nachrichten hat MyGoPen meist schon debunkt, also widerlegt. Viele Falschmeldungen werden also wieder und wieder verbreitet. Lee zufolge finanziert die Seite sich vor allem aus den Lizenzgebühren für ihre Factchecks, die unter anderem Yahoo! und Line zahlen, und zu einem kleineren Anteil aus Spenden.

Die sechs Angestellten von MyGoPen, die in ganz Taiwan verteilt arbeiten, sind auch nicht alleine bei ihrer Sisyphos-Arbeit: Neben ihnen gibt es sowohl reine Freiwilligenorganisationen wie das Cofacts-Kollektiv , das aus der Open Data-Szene kommt, als auch das Taiwan Fact Checking Center , das zu den Präsidentschaftswahlen 2020 sogar mit Facebook kooperiert hat, um Desinformationen im Wahlkampf zu bekämpfen. Doch selbst Robin Lee ist nicht besonders optimistisch, was die Rolle von Fact Checking als Lösung des Desinformationsproblems angeht:

ZSP Robin Lee

"Das ist so ein Kampf, der nie endet - auch wenn du etwas schon widerlegt und die harten Fakten hast, auch wenn die gesamte Beweislast zeigt, dass ein Artikel unwahr ist, gibt es immer noch Leute, die das glauben."

Für die Wirkungsmacht von Fact Checks gibt es schon erste Forschung aus Taiwan: Der Politikwissenschaftler Austin Wang hat mit einem Experiment versucht, herauszufinden, wie Taiwanesinnen und Taiwanesen auf Fact Checks reagieren. Dabei hat er festgestellt, dass Nutzerinnen und Nutzer auf einer Messenger-Plattform wie Line vor allem Fact Checks weiterleiten, die ihre eigene politische Einstellung bestätigen. In einem öffentlichen Forum wie Facebook, wo sie sich vielleicht stärker beobachtet fühlen, teilen sie allerdings eher Fact Checks, die ihrer eigenen politischen Einstellung zuwiderlaufen. Fact Checks können also helfen, aber gerade bei politischen Themen geraten sie in Taiwan der Studie nach an ihre Grenzen. Wang hatte als Beispiel einen fiktiven Sexskandal benutzt, der wahlweise der Regierungspartei DPP oder der Oppositionspartei KMT zugeschrieben wurde.

Einen Hoffnungsschimmer hat Robin Lee jedoch, denn ähnlich wie Minister Lo sieht er eine Verbesserung:

ZSP Robin Lee

"Im Vergleich zu vor ein paar Jahren würde ich schon sagen, dass die Situation in Taiwan deutlich besser ist, weil mehr Leute ein Bewusstsein für Desinformation haben. Deswegen denken sie vielleicht etwas länger nach, bevor sie etwas an andere weiterleiten. Aber um ehrlich zu sein haben wir noch einen langen Weg vor uns."

Nicht gut genug, sagt der Fact Checker. Aber wie könnte es besser werden? Hier kommt die Medienkompetenz ins Spiel, von der auch schon Minister Lo und Schatto-Eckrodt gesprochen haben: wir brauchen sie, um die demokratische Resilienz zu stärken und uns gegen Desinformation zu wehren.

Aktuell wird viel in diese Richtung geforscht: Menschen vor Desinformation zu schützen, bevor sie ihnen begegnen. "Inoculation" wird das in der Forschung genannt, das kann man mit "Impfung" übersetzen. Die Idee dahinter ist, Menschen gegen Falschinformationen zu impfen, bevor sie ihnen begegnen. Sodass sie dann sozusagen immun sind, wenn sie online tatsächlich etwas lesen, das falsch ist, und nicht darauf hereinfallen.

[31:55] Aber wie kann man das anstellen? Da gibt es viele Möglichkeiten, Artikel zum Beispiel, oder kurze Postings in den sozialen Netzwerken, die das Wichtigste zusammenfassen. Besonders effektiv ist aber etwas anderes, und zwar interaktive Formate wie Online-Games . Eines der bekanntesten Online-Spiele in diesem Themenfeld heißt "Bad News" , also wörtlich übersetzt "Schlechte Nachrichten".
Entwickelt wurde es vom Social Decision-Making Lab der Universität Cambridge in Großbritannien. Dort beschäftigen sich Psychologinnen und Psychologen damit, wie Menschen kommunizieren, Entscheidungen treffen und Urteile fällen. Ein Fokus der Forschenden: Falschinformationen im Internet. Bei "Bad News" sollen die Spielerinnen und Spieler selbst versuchen, erfolgreich Desinformation zu verbreiten.

ZSP Jon Roozenbeek

"Die Idee dabei ist, dass Sie sich in die Lage der Person versetzen, die Falschinformationen erfindet. Wie würde ich vorgehen, wenn ich ein Produzent von Falschinformationen wäre? Wie könnte ich die meisten Leute überzeugen? Dieser Perspektivenwechsel ist sehr nützlich, denn dann fängt man an, zu verstehen, wie die andere Seite denkt."

Das war Jon Roozenbeek. Er ist Psychologe an der Universität Cambridge, und hat "Bad News" mitentwickelt.

Man kann das Spiel im Browser aufrufen, unter getbadnews.com gibt es eine deutsche Version. Es gibt einen Spielleiter, der nach einer kurzen Begrüßung fragt:

ZSP

"Du willst mit Desinformationen das Internet aufmischen, oder?"

Ich klicke auf "Genau!", und der Spielleiter schlägt mir vor, doch erst mal meinen Frust auf Twitter auszulassen. Ich stimme zu, er schlägt mir ein paar Tweets vor, die ich veröffentlichen kann. Ich entscheide mich für:

ZSP

"Diese Regierung hat komplett versagt! #auflösen Gescheiterte Loser!"

… und tatsächlich bekomme ich ein paar neue Follower. Gleichzeitig blinkt aber ein rotes Licht, meine Glaubwürdigkeit ist im Keller. Das will der Spielleiter als nächstes angehen. Je weiter ich in dem Spiel komme, desto mehr wächst meine Followerzahl, meine Glaubwürdigkeit steigt. Zwischendurch weist mich der Spielleiter quasi nebenbei auf Strategien hin, die echte Desinformations-Accounts nutzen. Wie man’s macht: echte Accounts nachahmen, und den Nutzernamen nur leicht verändern. Wenn man nicht genau hinschaut, könnte man meinen Fake-Account mit dem echten verwechseln.

Jon Roozenbeek hat mit seinem Kollegen Sander van der Linden das Spiel mittlerweile in mehreren Studien getestet. Und festgestellt: Nach dem Spielen erkennen Menschen Falschinformationen deutlich besser.

ZSP Jon Roozenbeek

"Wenn Sie gar nichts tun, wissen wir, dass die Wirkung mindestens eine Woche lang anhält, und höchstens 13 Wochen. In einer anderen Studie haben wir den Teilnehmenden sehr kurze Erinnerungshilfen gegeben, und zwar in verschiedenen Abständen. Und wenn man sie etwa alle zwei Wochen daran erinnert, bleibt der Effekt für 13 Wochen oder länger signifikant."

Wenn ein Effekt in der Psychologie länger als 13 Wochen hält, ist das schon ziemlich lang, sagt Roozenbeek. Noch ein Vorteil: Das Spiel "impft" sozusagen nicht gegen einzelne Verschwörungstheorien oder Falschinformationen. Sondern bringt den Spielenden bei, die Strategien dahinter zu erkennen. Das ist bei der Masse an Falschinformationen, die im Internet herumschwirrt, deutlich effektiver, sagt Roozenbeek.

Das ist auch die Strategie, die John Cook mit seiner Forschung verfolgt. Er ist Kognitionswissenschaftler an der Monash Universität in Melbourne in Australien.

ZSP John Cook

"Eines der stärksten Elemente der logikbasierten "Impfung" ist, dass sie themenübergreifend funktioniert. In meinen Studien habe ich herausgefunden, dass eine "Impfung" in einem Thema, zum Beispiel Falschinformationen über Tabak, auch dann wirkt, wenn die Menschen in einem anderen Thema wie dem Klimawandel auf die gleichen irreführenden Techniken stoßen. Das heißt also, wenn man Menschen für allgemeine Techniken der Irreführung sensibilisieren kann, können sie das bei jedem Thema erkennen, ob es sich nun um Klimawandel oder um Impfungen oder COVID-19 oder einfach um alltägliche Argumente handelt."

[36:46] In seiner Forschung hat John Cook daran gearbeitet, diese Strategien von Desinformation zu sortieren, Kategorien zu finden, ihnen einen Namen zu geben.

ZSP John Cook

"Um die verschiedenen Möglichkeiten zu verstehen, wie Falschinformationen in die Irre führen können, braucht man ein System. Und ein wirklich nützliches System ist der FLICC-Framework - auf Deutsch PLURV. PLURV steht für die fünf Hauptkategorien der Wissenschaftsleugnung. Pseudo-Experten, Logikfehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und Verschwörungsmythen.

Diese PLURV-Kategorien kennen spätestens seit einer Podcast-Episode mit Christian Drosten auch viele Menschen, die sich vorher noch nicht so viel mit Desinformation beschäftigt haben. Denn mit dem Coronavirus gab es plötzlich ein Thema, bei dem man auch als Laie eigentlich gar nicht mehr daran vorbeikam, sich mit Falschinformationen und Verschwörungsmythen zu beschäftigen.

ZSP Corona-Virus Update

"Diese Hauptlinien der Wissenschaftsleugnung sind bekannt, analysiert, schon aus dem Hintergrund der Klimaforschungsleugner heraus. Das ist ein Phänomen, das schon seit langer Zeit besteht und das auch inhaltlich und von den Prinzipien erkannt worden ist. Das ist dieses PLURV-Prinzip, dass wir hier vielleicht mal anhand von öffentlichen Argumenten besprechen sollten."

Cook hat mittlerweile unzählige Unterkategorien erarbeitet, zum Beispiel gibt es eine ganze Reihe von Logikfehlern, die Menschen machen können. Auch dafür gibt es ein Spiel: Es heißt Cranky Uncle , funktioniert auf dem Smartphone oder im Browser. Dort kann man lernen, wie die verschiedenen Strategien der Wissenschaftsleugner genau aussehen.

Bei Cranky Uncle geht es also darum, dass die Spielerinnen und Spieler lernen, wie bei Falschinformationen argumentiert wird. Im besten Fall können sie später auch online oder in persönlichen Diskussionen erkennen: Moment, diese Strategie kenne ich doch schon. Bei Bad News geht es eher darum zu lernen, wie Falschinformationen online verbreitet werden. Wenn man im eigenen Feed, beispielsweise bei Facebook oder Twitter, dann eine Meldung entdeckt, die irgendwie komisch wirkt, kann man nach dem Spiel besser einschätzen, ob sie vielleicht falsch ist.

Letzten Endes geht es immer darum, die Medienkompetenz der Menschen zu steigern. Das ist wirklich ein effektiver Weg gegen Falschinformationen, denn so haben die immer weniger Chance, überhaupt geglaubt und weiterverbreitet zu werden.

Ok. Wir haben es ja am Anfang schon gesagt: Zum Glück gibt es über Desinformationsbekämpfung so viel zu erzählen, dass wir in der nächsten Folge gleich weitermachen. Da geht es dann wirklich ins Finale dieser kleinen Serie. Wir sprechen darüber, wie Taiwan, Deutschland und internationale Organisationen Menschen auf Falschinformationen vorbereiten wollen und nach Lösungen suchen.
[39:47] Und wir werfen einen Blick in die Zukunft - wie könnten soziale Netzwerke aussehen, in denen die Lage besser ist?

ZSP Philipp Lorenz-Spreen

"Man überlegt sich, ob die Newsfeed Architektur, wie sie momentan ist, richtig ist. Ich habe zum Beispiel immer so eine Idee im Kopf, dass man besser nachverfolgen kann, woher ein bestimmter Post Original mal kam und so die Historie besser zu verstehen, so dass mir einfach transparenter und klarer wird, dass vielleicht bestimmte Nachrichten, die so wirken, als würden die von meinen Freunden kommen, doch eher mehr aus dem Rand des Netzwerks kommen, mit dem ich mich gar nicht so sehr identifizieren will."

Aber das erst in der nächsten Folge.

Diese Folge wurde geschrieben von Katharin Tai und Lena Puttfarcken. Redaktion BPB: Marion Bacher. Audio-Produktion: Simone Hundrieser Fact-Checking: Karolin Schwarz.

"Netz aus Lügen - die globale Macht von Desinformation" ist ein Podcast der Bundeszentrale für politische Bildung, produziert von Kugel und Niere. Produktionsjahr 2022. Die Folgen stehen unter der Creative Commons Lizenz und dürfen unter Nennung der Herausgeberin zu nichtkommerziellen Zwecken weiterverbreitet werden. Ich bin Ann-Kathrin Büüsker und wenn ihr Feedback zu dieser Folge habt, schreibt uns gerne unter E-Mail Link: podcast@bpb.de. Und falls ihr noch nicht abonniert habt, tut das doch mal schnell.

Bis zum nächsten Mal!

Fussnoten

Weitere Inhalte

Katharin Tai ist Journalistin und Politikwissenschaftlerin mit einem Fokus auf ostasiatische Politik und Gesellschaft, insbesondere China, Taiwan und Hongkong. Als Journalistin schreibt sie seit 2013 für deutsch- und englischsprachige Publikationen, darunter Die Zeit, Der Spiegel, Republik Magazin und SupChina.

Lena Puttfarcken ist freie Wissenschaftsjournalistin und arbeitet unter anderem für WDR Quarks und SWR2 Wissen. Sie beschäftigt sich vor allem mit dem Klimawandel, Desinformation und Psychologie.