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Historische Entwicklungen von Ein- und Auswanderung

Ahmet İçduygu und Deniz Sert

/ 8 Minuten zu lesen

Die Türkische Republik trat die Nachfolge des Osmanischen Reiches an, nachdem dieses nach Ende des Ersten Weltkriegs von den alliierten Siegermächten aufgeteilt worden war.

1923 bis 1960er Jahre: Errichtung des türkischen Nationalstaates

Die Auflösung des Osmanischen Reiches begann mit der jungtürkischen Revolution, durch die die Aufhebung des osmanischen Parlaments durch Sultan Abdul Hamid II. abgewendet wurde und mit der die zweite konstitutionelle Ära einsetzte. Diese Ära endete 1919 mit besagter Teilung, welche die türkische Bewegung für nationale Unabhängigkeit unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk beflügelte. Es folgte der Unabhängigkeitskrieg, der 1923 durch den Vertrag von Lausanne und die Gründung der Republik beendet wurde.

In den ersten Jahren der neuen Republik Türkei zeichneten sich zwei parallel verlaufende internationale Migrationsbewegungen ab: einerseits massenhafte Abwanderungen von nicht-muslimischen Bevölkerungsteilen (z. B. griechisch-orthodoxer Christen nach Griechenland), andererseits der Zustrom von türkisch-muslimischer Bevölkerung aus Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reiches, die durch die neuen Grenzen außerhalb der Republik lagen (insbesondere der Balkan). Nicht nur in der Türkei haben Strategien zur Formierung eines Nationalbewusstseins internationale Wanderungsbewegungen ausgelöst; die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nachhaltig geprägt durch die Formierung von Staaten und Nationen und damit einhergehend von beträchtlichen Wellen erzwungener Migration und Deportationen. Somit stellen diese ersten Bevölkerungstransfers das Resultat von Unabhängigkeitsbewegungen und Anstrengungen zur Förderung eines Nationalbewusstseins dar, welches von den neuen Staaten ausging, die aus dem Osmanischen Reich hervorgingen. Diese Entwicklung setzte mit den Balkan-Kriegen von 1912/13 ein, die in Massenabwanderungen muslimischer Bevölkerung vom Balkan nach Anatolien und dem Exodus von Christen in umgekehrter Richtung endeten. In diesem Kontext ist auf zwei Bewegungen besonders hinzuweisen: die Deportation von Armeniern 1915/16, die zahlreiche Armenier in Anatolien das Leben kostete, sowie der Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland 1922/23, durch den große Teile der christlichen Bevölkerung Anatoliens gegen Muslime aus dem westlichen Thrakien ausgetauscht wurden.

Muslimische und nicht-muslimische Bevölkerung in der Türkei, 1914 - 2005 (in Tsd.)

Jahr191419271945196519902005
Muslime12.94113.29018.51131.13956.86071.997
Griechisch-Orthodoxe15491101047683
Armenier12047760646750
Juden 1288277382927
Andere 1767138745045
Gesamt 15.997 13.630 18.790 31.391 57.005 72.120
Anteil der Nicht-Muslime in % 19,1 2,5 1,5 0,8 0,3 0,2

Quellen: Von 1914 bis 1965 Auszüge aus osmanischen und türkischen Volkszählungen und Statistiken; von 1990 bis 2005 Einschätzungen der Vorgesetzten dieser Gemeinden auf Anfrage des Autors

In den letzten Tagen des Osmanischen Reiches und in den ersten 20 Jahren nach Gründung der Türkischen Republik wurden die nicht-muslimischen Bevölkerungsminderheiten aus dem Land vertrieben, eine Vielzahl wanderte in verschiedene Länder der Welt aus. Zur Veranschaulichung: die Zahl der orthodoxen Christen, die in der Türkei lebten, sank von 1914 bis 1945 von 1,5 Millionen auf 104.000, wobei der Großteil der orthodoxen Christen vermutlich nach Griechenland zog (siehe Tabelle). Ebenso nahm der Anteil der armenischen Bevölkerungsgruppe von 1,2 Millionen Menschen im Jahr 1914 bis auf 60.000 Menschen im Jahr 1945 ab (siehe ebenfalls Tabelle). Nach und nach erreichte eine Vielzahl von Muslimen verschiedener ethnischer Zugehörigkeit aus dem Balkan die Türkei. So wanderten zwischen 1923 und 1939 etwa 400.000 Muslime aus Griechenland aus und in die Türkei ein. In Folge dieses ethnischen Homogenisierungsprozesses veränderte sich die demografische Bevölkerungsstruktur der Republik wesentlich: Der prozentuale Bevölkerungsanteil der Nicht-Muslime fiel von 19 % vor Beginn des Ersten Weltkrieges bis auf 2,5 % nach Ende des Ersten Weltkrieges. Machten in den 1920er Jahren Nicht-Muslime noch etwa 3 % der Gesamtbevölkerung der Türkei aus, so sank ihre Zahl bis 2005 auf unter 0,2 % (siehe Tabelle).

Zur gleichen Zeit wurden der Zuwanderung und Integration von türkisch sprechenden muslimischen Zuwanderern Priorität eingeräumt, ebenso wie Angehörigen ethnischer Gruppen, welche sich mutmaßlich ohne Schwierigkeit der türkischen Identität anpassen würden – wie beispielsweise Bosnier, Tscherkessen, Pomaken und Tartaren. Seit Gründung der Republik im Jahr 1923 kamen bis 1997 über 1,6 Millionen solcher Zuwanderer in die Türkei, ließen sich dort nieder und wurden bereitwillig von der Gesellschaft angenommen.

Die frühen Jahre der Türkischen Republik waren eine Zeit der Homogenisierung der Bevölkerung innerhalb ihrer eigenen Grenzen hin zu einer türkisch-muslimischen Identität. Dieser Prozess wurde durch die Gesetzgebung in den frühen 1930er Jahren gefestigt. Das Gesetz zur Ansiedlung (Law on Settlement) aus dem Jahr 1934 ist das Herzstück dieser Gesetzgebung, welches die konservative Staatsphilosophie selbst bis zum heutigen Tage erhält. Das Gesetz definiert, wer einwandern, sich ansiedeln und einen Flüchtlingsstatus erlangen kann, wobei die Präferenz für Zuwanderer und Flüchtlinge 'türkischer Abstammung und Kultur' klar erkennbar ist.

1950-1970: Arbeitsmigration nach Westeuropa

Die türkische Abwanderung nach Westeuropa begann mit dem Wirtschaftsboom in den 1950er Jahren und der daraus resultierenden hohen Nachfrage nach Arbeitern in Westeuropa. Entsendeländer wie die Türkei sahen in der Unterzeichnung von Verträgen über Arbeitskräftemigration eine Möglichkeit, die Arbeitslosenquote zu senken und die Wirtschaft durch die Geldsendungen der Auswanderer auszubauen. Die türkischen Migranten schlossen sich dem Arbeiterstrom nach Ende des Zweiten Weltkrieges allerdings erst spät an. Für diese Verzögerung gab es vornehmlich drei Gründe: Erstens mangelte es der Türkei im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen Arbeitskräfte zur Verfügung standen, an kolonialen Bindungen (wie etwa zwischen Marokko und Frankreich). Zweitens lagen andere Länder, die Arbeitskräfte anboten, geografisch näher an den Aufnahmeländern. Drittens hatte die Türkei keine etablierte Auswanderungstradition wie andere Länder mit einem Arbeitskräfteangebot, wie etwa Italien oder Spanien. Dennoch machen Menschen aus der Türkei heute die größte Zuwanderergemeinschaft in Westeuropa aus.

Das erste bilaterale Abkommen, das es der Türkei ermöglichte, Arbeiter in westeuropäische Länder zu entsenden, wurde 1961 mit Deutschland unterzeichnet. Es folgten Abkommen mit Österreich, den Niederlanden und Belgien im Jahr 1964, Frankreich im Jahr 1965 und Schweden und Australien im Jahr 1967. Vergleichbare Abkommen wurden auch mit dem Vereinigten Königreich (1961), der Schweiz (1971), Dänemark (1973) und Norwegen (1981) geschlossen. Damit war die Hoffnung verbunden, dass diese 'Gastarbeiter' mit neuen Qualifikationen in die Türkei zurückkehren und mithelfen würden, die agrarisch geprägte Wirtschaft stärker zu industrialisieren. Jedoch beschlossen viele der Gastarbeiter, in ihren Gastländern zu bleiben, sich dort anzusiedeln und auch ihre Familien nachzuholen, um dort gemeinsam mit ihnen zu leben. Darüber hinaus wanderten eher fachlich qualifizierte Arbeiter aus als unqualifizierte, wenn auch Erstere oft von Migrantinnen ohne Ausbildung begleitet wurden.

Die türkische Arbeitsmigration nach Westeuropa fand ihren Höhepunkt in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren und verlor an Schwungkraft durch den Konjunktur-Rückgang im Anschluss an die Ölkrise 1973 und insbesondere durch die Entscheidung Deutschlands, das Gastarbeiterprogramm zu beenden. In der darauf folgenden Zeit lagen die Beweggründe für die Auswanderung aus der Türkei nach Westeuropa in Familienzusammenführungen und Eheschließungen, später auch in der Asylsuche.

1960er bis 1990er Jahre: Die Diversifizierung der Arbeitsmigration und türkische Asylbewerber

Während die Ölkrise von 1973 in Westeuropa einen Wirtschaftsabschwung herbeiführte, der zu einer rückläufigen Aufnahme von Arbeitsmigranten führte, wurden die ölreichen arabischen Länder zu einem Ziel für türkische Arbeiter auf ihrer Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten im Ausland. Die Migration zwischen der Türkei und den arabischen Ländern lässt sich in drei Phasen einteilen: zwischen 1967 und 1980 nahm der Zustrom türkischer Migranten nach Libyen und Saudi-Arabien zu; von 1981 bis 1992 erweiterte sich die Bandbreite der Zielländer und schloss auch den Irak, Kuwait, den Jemen und Jordanien mit ein; seit 1993 nimmt die Zahl der türkischen Migranten, die sich in diese Region aufmachen, beständig ab.

Diese Migrationsströme entstanden größtenteils als Folge der weltweiten politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Die Golfkrise im Jahr 1991 verursachte eine vergleichbare Abnahme an Migrationsbewegungen in die arabische Welt wie die Ölkrise von 1973 in Europa. Mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zerfall der Sowjetunion und der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ergaben sich zur gleichen Zeit neue Zielorte für türkische Migranten. Zunächst gab es eine vertraglich geregelte Migration nach Russland, in die Ukraine und die Turk-Republiken, da türkische Baufirmen in diesen Ländern Verträge für die Erneuerung der Infrastruktur zugesprochen bekommen hatten. Später wurden auch Rumänien und Polen Zielländer für türkische Arbeitsmigranten. Im Jahr 1995 lag die Zahl der türkischen Migranten, die von den GUS-Ländern anerkannt waren, beinahe doppelt so hoch wie die Zahl der in den arabischen Ländern aufgenommenen Auswanderer.

Die nationale wirtschaftliche Situation und die Richtlinien des türkischen Staates in den 1960er Jahren führten zur Entstehung eines neuen Migrationsmusters. Durch die wachsende Arbeitslosigkeit unter Zugzwang gesetzt, hatte die Türkei mit der Suche nach neuen Märkten zur Fortsetzung des Arbeitskräfteexports begonnen. De facto war der Abschluss des bilateralen Arbeiter-Rekrutierungs-Abkommens mit Australien im Jahre 1967 Teil der türkischen Auswanderungs-Strategie, die darauf ausgerichet war, "auf ein weiteres Land zurückgreifen zu können, falls ein anderes Land Zeichen von verminderter Aufnahmekapazität und Sättigung aufweisen sollte". Bis Ende des Jahrhunderts sind die Zuwanderergemeinden in Einwanderungsländern wie Australien, Kanada und den USA deutlich gewachsen.

Die Auswanderung aus der Türkei wurde jedoch nicht immer ausschließlich durch die Arbeitsmarktsituation bedingt. Seit den frühen 1980er Jahren haben Eingriffe des türkischen Militärs in die Zivilpolitik und Eskalationen von Gewalt im Kampf gegen die PKK – eine kurdische Separatistenbewegung im Südosten der Türkei – zahlreiche türkische Bürger zur Asylsuche in Westeuropa bewegt. Migration im Kontext von Flucht und Asyl ist ein wichtiger Aspekt türkischer Migrationsbewegungen und wird in einem eigenen Abschnitt detailliert behandelt (siehe Interner Link: Flucht und Asyl).

Seit 1979: Der Wandel zu einem Transit- und Zielland

Nach dem Zustrom an muslimischen Bevölkerungsgruppen in den frühen Jahren der Republik erreichte 1979 eine erste Welle iranischer Migranten in Folge des Regimewechsels im Iran die Türkei. Die Türkei war für die meisten Iraner, die sich nach und nach Richtung Europa, insbesondere Nordeuropa aufmachten, nur eine Zwischenstation. Dieser ersten Welle folgte die Ankunft irakischer und bulgarischer Bürger, die ebenfalls Zuflucht in der Türkei suchten (siehe Interner Link: Flucht und Asyl).

Obwohl viele Migranten in die Türkei kamen, um Schutz vor politischer Verfolgung und Gewalt zu suchen, kamen insbesondere aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion auch Migranten aufgrund wirtschaftlicher Beweggründe. In jüngster Zeit zieht es zudem auch mehr und mehr Zuwanderer aus Westeuropa in die Türkei. Dieser Wandel hat mehrere Gründe: Erstens – auf einer Makroebene – hat sich die Türkei nach dem Militärputsch von 1980 im letzten Jahrzehnt durch den Wandel zur Demokratie, durch die Liberalisierung der Wirtschaft und den allgemeinen Einfluss von Globalisierungsprozessen zu einem interessanten Ort für Migranten entwickelt. Zweitens ist die Türkei seit Mitte der 1980er Jahre zu einem attraktiven Reiseziel für Touristen aus Westeuropa geworden, die sich später dazu entschlossen, zurückzukehren. Drittens hat der Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei dazu beigetragen, dass die Türkei auch für EU-Bürger als Langzeitresidenz akzeptabel geworden ist. Alles in allem ist die Türkei nicht nur Herkunfts- oder Transitland, sondern entwickelt sich zunehmend zu einem Zielland für eine nicht geringe Anzahl an ausländischen Bürgern, sowohl auf regulärem als auch auf irregulärem Wege.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe Marcus (1985) und Zolberg (1983).

  2. Siehe Kirişci (1996, 2000).

  3. Seit Ende des Kalten Krieges gab es auch Migrationsströme in Form von Gepäckhandel in die Tu¨rkei. Fu¨r mehr Informationen zu dieser Art von Migration siehe Yu¨kseker (2003).

  4. Bahadır (1979).

  5. 'Partiya Karkerên Kurdistan' (Kurdische Arbeiterpartei).

  6. Kaiser (2007).

  7. Ibid.

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