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"Als Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung sollte man sensibel und einfühlsam sein." | Frauen in der Migration | bpb.de

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"Als Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung sollte man sensibel und einfühlsam sein."

Vera Hanewinkel

/ 13 Minuten zu lesen

Was sind "Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung"? Welche Qualifikationen sollten sie für ihre Arbeit mitbringen und wie gelingt es ihnen, ihre Emotionen vom Sachverhalt zu trennen? Ein Gespräch.

Eine Frau aus Pakistan hinter der Trennscheibe im Asylbereich des Frankfurter Flughafens. (© picture alliance/JOKER)

Das Kernelement eines jeden Interner Link: Asylverfahrens ist die persönliche Anhörung des Asylantragstellers beim Interner Link: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Frauen und Männern, die einen Asylantrag gestellt haben, wird so die Möglichkeit gegeben, ihre Fluchtgründe vorzutragen. Ob das BAMF einen Schutzstatus gewährt, hängt wesentlich von diesem Interview ab. Dieses wird von sogenannten Interner Link: Entscheiderinnen und Entscheidern durchgeführt, die in der Regel auch die darauffolgende Entscheidung über den Asylantrag treffen. Für Anhörungen mit Personen, die in ihren Herkunftsländern aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit oder ihrer sexuellen Orientierung Gewalt erfahren haben, gibt es beim BAMF Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. Als solche arbeiten Claudia Nachtwey und Magdalena Overbeck im Ankunftszentrum Bramsche in Niedersachsen. Ein Gespräch.

Frau Nachtwey, Frau Overbeck, was ist geschlechtsspezifische Verfolgung?

Overbeck: In der Externer Link: Qualifikationsrichtlinie (sowohl in Richtlinie 2011/95/EU als auch in ihrer Vorgängerrichtlinie 2004/83/EG) sind in Artikel 9 (2) f) "Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen" ausdrücklich als Verfolgungshandlungen genannt. Beispiele für geschlechtsspezifische Verfolgung sind Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Vergewaltigung oder Ehrenmorde. In Deutschland kann der Flüchtlingsstatus gewährt werden, wenn die Betroffenen in ihrem Herkunftsland eine "bestimmte soziale Gruppe bilden" (siehe Externer Link: § 3 b AsylG). Es muss sich also um Personen handeln, die z.B. wegen bestimmter angeborener Merkmale, eines gemeinsamen, unveränderbaren Hintergrundes oder einer deutlich abgegrenzten Identität verfolgt werden. Der Flüchtlingsstatus kann in solchen Fällen allerdings auch nur dann gewährt werden, wenn der Herkunftsstaat den Betroffenen keinen Schutz vor solchen Menschenrechtsverletzungen bietet. Lassen sich die betroffenen Personen keiner sozialen Gruppe zuordnen, besteht ggf. die Möglichkeit einer Interner Link: subsidiären Schutzgewährung gemäß § 4 AsylG.

Nachtwey: Vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 konnten im Prinzip nur Personen Schutz erhalten, die durch einen Staat und seine Organisationen verfolgt wurden. Das hat sich seither geändert und ist auch wichtig, weil geschlechtsspezifi-sche Verfolgung oft im Privaten stattfindet. Im Asylverfahren lässt sich staatliche Verfolgung allerdings besser überprüfen als nicht-staatliche Verfolgung.

Seit wann gibt es beim BAMF Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung und warum wurden diese Posten eingerichtet?

Nachtwey: In den Organisationseinheiten des Bundesamtes, die Asylanträge bearbeiten, befinden sich Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifisch Verfolgte seit 1996 im Einsatz. Hintergrund ist die Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene. In diesem Prozess verpflichteten sich die Mitgliedstaaten dazu, ihr Asylrecht bezüglich der Aufnahmebedingungen, des Verfahrens und der Anerkennungsvoraussetzungen in ausdrücklicher Übereinstimmung mit der Interner Link: Genfer Flüchtlingskonvention anzugleichen. Aus diesem Grund nahm der Interner Link: Rat der Europäischen Union am 20. Juni 1995 die Entschließung über die Mindestgarantien für Asylverfahren an. Diese geht explizit auf die besondere Situation von Frauen als Flüchtlinge ein. Gemäß dieser Entschließung streben die Mitgliedstaaten an, in Interner Link: Asylverfahren qualifizierte weibliche Mitarbeiterinnen und weibliche Dolmetscher einzusetzen. Zur Umsetzung dieser Anforderung wurde dann die Rolle der Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung geschaffen. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass der Aufbau von länderspezifischem Fachwissen erforderlich ist, um der besonderen Situation von Frauen und Männern bei einer möglichen geschlechtsspezifischen Verfolgung im Asylverfahren gerecht zu werden, ist die Installierung von Sonderbeauftragte für die geschlechtsspezifische Verfolgung notwendig.

Schon bevor es ausgebildete Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung gab, versuchte das Bundesamt allerdings sicherzustellen, dass eine Asylbewerberin von einer Entscheiderin angehört wurde und die Übersetzung durch eine Dolmetscherin erfolgte, wenn die Antragstellerin signalisierte, ein geschlechtsspezifisches Verfolgungsschicksal vorzutragen.

Seit wann haben Sie die Tätigkeit einer Sonderbeauftragten inne und wie erhält man einen solchen Posten?

Nachtwey: Seit dem 1. August 2016 bin ich Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. Ich bin Diplom- Verwaltungs- und Betriebswirtin, habe mich dann aber aus Eigeninitiative auf den Posten eines Entscheiders beworben und eine entsprechende Schulung erhalten. Darüber hinaus habe ich Sonderschulungen im Umgang mit vulnerablen Personen sowie Schulungen zur geschlechtsspezifischen Verfolgung absolviert.

Overbeck: Meine Benennung zur Sonderbeauftragten erfolgte am 1. Juni 2017. Ich habe International Business Administration studiert und mich nach dem Studium beim BAMF beworben. Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung wird man durch eine eigeninitiative Bewerbung und Interessensbekundung. Schulungen bereiten auf diese Aufgabe vor.

Nachtwey: Als Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung arbeiten wir im Regelfall als normale Entscheiderinnen und gezielt als Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. Wir entscheiden also nicht nur über Asylverfahren, in denen geschlechtsspezifische Verfolgung eine Rolle spielt, sondern führen auch "normale" Anhörungen durch. Das ist insofern auch wichtig, um nicht ausschließlich Verfolgungsschicksale aus dem Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung zu bearbeiten. Damit wird sichergestellt, dass es nicht zu einer Überlastung und mentaler Erschöpfung kommt.

Welche besonderen Qualifikationen muss man für diese Arbeit mitbringen?

Overbeck: Als Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung sollte man sensibel und einfühlsam sein, dazu neutral und vorurteilsfrei. Die Anhörung ist dazu da, die Fluchtgründe und die Glaubwürdigkeit der Schutzsuchenden festzustellen. Es ist nachvollziehbar, dass es Frauen leichter fällt, mit einer Entscheiderin zu sprechen als mit einem Entscheider, wenn sie in ihrer Vergangenheit sexuelle Gewalt erfahren haben. Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass in den verschiedenen Kulturen und Traditionen, aus denen die schutzsuchenden Frauen stammen, frauenspezifische Themen meist tabuisiert werden. Frauen sprechen, wenn überhaupt, nur mit anderen Frauen darüber. Deshalb ist es vorteilhaft, dass die Entscheiderin selbst eine Frau ist und der Antragstellerin signalisiert, Kenntnis über die landesspezifischen Bedingungen zu haben. Die Frauen sollen die Möglichkeit haben, in einem geschützten Raum frei von ihrer Verfolgungsgeschichte und ihren Traumata erzählen zu können. Eine gute und schnelle Auffassungsgabe ist darüber hinaus ebenfalls von Vorteil. In der Weiterbildung zur Sonderbeauftragten haben wir deshalb verschiedene Fragetechniken gelernt. Einerseits dürfen wir die Antragstellerinnen nicht überfordern, andererseits müssen wir den jeweiligen Sachverhalt auch tatsächlich aufklären.

Nachtwey: Sonderbeauftrage sind letztlich speziell geschulte Entscheiderinnen und Entscheider, die für Anhörungsverfahren bei besonders schutzbedürftigen Personengruppen eingesetzt werden. Die Sonderbeauftragten stehen über ihre eigenen Aufgaben in der Verfahrensbearbeitung hinaus ihren Vorgesetzten sowie Kolleginnen und Kollegen als Ansprechpersonen zur Verfügung. Wir sind die Multiplikatoren in den einzelnen Außenstellen.

Unterscheidet sich die Arbeit einer "normalen" Entscheiderin von der einer Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung? Wenn ja, inwiefern?

Nachtwey: Die Arbeit unterscheidet sich, weil uns häufig vulnerable, besonders schutzbedürftige Personen gegenübersitzen, die mit einer besonderen Sensibilität und mit genügend Zeit für ihre Situation angehört werden müssen. Selbstverständlich erhält jeder Antragsteller und jede Antragstellerin die Zeit, die sie oder er braucht, um die Fluchtgründe zu schildern. Von geschlechtsspezifischer Verfolgung Betroffene benötigen jedoch häufiger eine Pause und das Sprechtempo und das Antwortverhalten sind verzögerter.

Nach der Anhörung treffen wir durch die Erstellung des Bescheids eine Entscheidung zum Asylantrag. Hier ist der Rechercheaufwand zur objektiven Prüfung des Sachvor-trags sehr zeitintensiv, insbesondere wenn, aktuelle sachliche Informationen zur Vor-gehensweise und Praxis der geschlechtsspezifischen Verfolgung, wie zum Beispiel der Genitalverstümmelung, im jeweiligen Herkunftsland recherchiert werden müssen.

Gibt es auch Unterschiede bei der Interviewführung? Existieren zum Beispiel beson-dere Gesprächstechniken oder andere Besonderheiten, auf die Sie beim Interview achten?

Overbeck: Häufig handelt es sich bei Antragstellerinnen und Antragstellern, die geschlechtsspezifische Verfolgung geltend machen, um Menschen, die eine besondere Schutzbedürftigkeit haben. Das sind Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen und psychischen Situation besonderer Aufmerksamkeit und Hilfe bedürfen. Die persönlichen Umstände verlangen besondere Berücksichtigung im Rahmen der Anhörung.

Nachtwey: Zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählen Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. Es kann sich auch um Personen mit körperlichen Einschränkungen, ältere Menschen (> 65 Jahre/Rentenalter), alleinerziehende Eltern mit Kindern und Interner Link: unbegleitete Minderjährige handeln. Die Schutzbedürftigkeit kann sich durch das Erlebte ergeben haben, durch die gesundheitliche Situation oder durch Eigenschaften, die in der Person des Antragstellers bzw. der Antragstellerin liegen, wie Alter oder Geschlecht.

Oft sind diese Antragstellerinnen und Antragsteller verschlossen, verängstigt, nervös oder unsicher. Ebenso kann ihr körperliches Empfinden, wie z.B. das Kälteempfinden, beeinflusst sein. Der physischen und psychischen Situation der Antragstellerin müssen wir daher besondere Aufmerksamkeit widmen.

Overbeck: Viele Betroffene haben Angst vor öffentlichen Stellen. Oft haben sie in ihren Herkunftsländern schlechte Erfahrungen mit korrupten Behörden und Menschen in Uniformen, die Gewalt anwenden, gemacht.

Auch den Bildungsgrad, also das Bildungsniveau der antragstellenden Person muss berücksichtigt werden. Gerade, wenn es sich um Antragstellerinnen handelt, die Analphabetinnen sind, müssen wir uns bemühen, einfach strukturierte Fragen zu stellen oder z.B. mit Bildern und Zeichnungen arbeiten.

Nachtwey: Gerade hier im Externer Link: Ankunftszentrum, wo wir den Prozess von der Asylantragstellung bis zum Bescheid zeitlich optimieren, kann es vorkommen, dass nur wenige Tage nach der Antragstellung bereits die persönliche Anhörung erfolgt. Die Antragstellerin ist aufgrund des noch kurzen Aufenthalts in Deutschland vielleicht noch nicht in der Lage, die kulturelle Freiheit und Freizügigkeit zu begreifen. In der Anhörung kann sich das in zurückhaltendem Verhalten äußern. Hier ist es dann besonders wichtig, dass wir der Antragstellerin durch einen vertrauensbildenden Umgang deutlich machen, dass ihre persönlichen Informationen, die sie preisgibt, ausschließlich für ihr Asylverfahren berücksichtigt werden und nicht nach außen dringen.

Aufgrund ihrer sozio-kulturellen Prägung oder, weil die Intimsphäre betroffen ist, fällt es vielen Antragstellerinnen und Antragstellern schwer, von sich aus über geschlechtsspezifische Verfolgungen zu sprechen. In Fällen, in denen Anhaltspunkte für eine (drohende) geschlechtsspezifische Verfolgung vorliegen, fragen wir daher mit der gebotenen Sensibilität nach, auch ohne dass der Antragsteller oder die Antragstellerin von selbst darauf zu sprechen kommt.

Auch sprachliche Sensibilität ist in der Anhörung gefragt. So versuchen wir, durch entsprechende Wortwahl gegenüber betroffenen Frauen z.B. von "Beschneidung" anstatt von "Verstümmelung" zu sprechen. Letztlich sehen Frauen sich nicht "als verstümmelt" und könnten die Wortwahl als verletzend empfinden.

Wenn sie mögen, dürfen Antragstellerinnen und Antragsteller auch eine Begleitperson mit in die Anhörung bringen, als psychische Stütze sozusagen. Dabei handelt es sich um Vertrauenspersonen wie z.B. Sozialbetreuer oder Ehrenamtliche aus Gemeinden. Aber natürlich darf auch ein Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin bei der Anhörung dabei sein, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin dies wünscht.

Overbeck: Die Antragstellerinnen und Antragsteller müssen schon bei ihrer ersten Anhörung alle Tatsachen vortragen, die ihre Flucht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihnen drohenden ernsthaften Schadens begründen. Damit ihr Vorbringen glaubhaft ist, müssen sie ihre persönlichen Erlebnisse und die in ihre Sphäre fallenden Er-eignisse lückenlos und ohne wesentliche Widersprüche so schildern, dass der behauptete Schutzanspruch glaubhaft erscheint. Ihre Schilderung muss konkret, anschaulich und detailreich sein.

Uns ist bewusst, dass Antragstellerinnen und Antragsteller mit geringerer Bildung womöglich mehr Schwierigkeiten haben, ihre Fluchtgründe detailreich und kohärent zu schildern, als Menschen, die eine hohe Bildung genossen haben und sich sehr gut ausdrücken können. Wir erwarten von ihnen daher keinen Fachvortrag und versuchen, unsere Fragen so einfach wie möglich zu halten.

Dabei beachten wir selbstverständlich, dass die detaillierte Befragung zu sexuellen Praktiken sowie das Einbeziehen von intimen Fotos unzulässig sind. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat zum Beispiel im Interner Link: Januar 2018 erklärt, dass Homosexualitätstests im Asylverfahren nicht erlaubt sind.

Sind Sie nur für die Anhörung von Frauen zuständig oder auch für Interviews mit LGTB-Menschen (lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlechtlichen Personen), die aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität schwerwiegende Diskriminierung erfahren (können)?

Nachtwey: Grundsätzlich sind wir für die Anhörung von Frauen und Männern zuständig, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität in ihrem Heimatland Verfolgung erlitten haben. Wir haben im Ankunftszentrum Bramsche die Themen-Bereiche innerhalb der geschlechtsspezifischen Verfolgung aufgeteilt, so dass wir für LGTB-Menschen konkrete Sonderbeauftragte einplanen und einbeziehen.

LGTB-Schutzsuchenden fällt es aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen oftmals sehr schwer, über ihre sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität und ihre Verfolgung zu sprechen. Es ist daher unsere Aufgabe, einen Zugang zum Antragsteller oder zur Antragstellerin zu schaffen, der es ihm bzw. ihr ermöglicht, die erlittene Verfolgung ganzheitlich zu schildern. So sollen auch negative Auswirkungen für das Asylverfahren vermieden werden, die dadurch entstehen können, dass der gesamte Umfang an erlittener Diskriminierung und Gewalt nicht oder nur unvollständig thematisiert wird.

Wie wird entschieden, ob (weibliche) Asylantragsteller von einem "normalen" Entscheider oder einer Sonderbeauftragten angehört werden?

Overbeck: Manchmal bitten Antragstellerinnen bzw. Antragsteller selbst darum, von einer Person desselben Geschlechts angehört zu werden. Es gibt aber auch Fälle, wo erst während der Anhörung Umstände erkennbar werden, nach denen es angezeigt erscheint, z.B. eine Asylbewerberin wegen der Besonderheit ihres Verfolgungsschicksals von einer Entscheiderin anhören zu lassen, etwa wegen Schilderung einer Vergewaltigung. Ebenso sollte in solchen Fällen eine Dolmetscherin eingesetzt werden. Dasselbe gilt natürlich auch für männliche Antragsteller.

Ist aus dem Sachvortrag des Asylbewerbers bzw. der Asylbewerberin oder wird während der Anhörung ersichtlich, dass die Person zum Personenkreis geschlechtsspezifisch Verfolgter gehört, muss der Entscheider einen entsprechenden Sonderbeauftragten hinzuziehen. Beide besprechen die weitere Vorgehensweise und fertigen einen Aktenvermerk darüber an, wer den Fall weiter bearbeitet.

Welches sind häufig vorgetragene Fluchtgründe von Frauen?

Nachtwey: Die detaillierten Fluchtgründe werden nicht statistisch erfasst. Aus unserer Erfahrung als Entscheiderin mit Sonderbeauftragten-Funktion können wir jedoch sagen, dass Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, häusliche Gewalt, Vergewaltigung und Ehrenmorde zu den häufig vorgetragenen Fluchtgründen zählen.

Overbeck: Statistisch erfasst und öffentlich einsehbar ist die Anzahl der Flüchtlinge, die geschlechtsspezifische Verfolgung vorgetragen haben und die Anzahl der Anerkennungen. Der konkrete Hintergrund wird nicht dokumentiert. So kann eine Antragstellerin zum Beispiel mehrere Fluchtgründe vortragen.

Welche Schutzform wird bei Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung am häufigsten gewährt?

Overbeck: Das Bundesamt muss im Einzelfall prüfen, ob z.B. bei geltend gemachter Gefahr von Genitalverstümmelung, Ehrenmorden, Zwangsverheiratung, häuslicher Gewalt oder Mitgiftmorden eine Flüchtlingsanerkennung oder eine andere Schutzform zu gewähren ist. Die Entscheidung über den Schutzstatus hängt vom individuellen Einzelschicksal eines Geflüchteten bzw. einer Geflüchteten ab. Dieses muss rechtlich gewürdigt werden. Dementsprechend kann nicht eine bestimmte Schutzform "als die am häufigsten gewährte Schutzform" eruiert werden.

Nachtwey: Hinsichtlich der Schutzform muss zudem berücksichtigt werden, dass es unterschiedliche Formen des Abschlusses eines Asylverfahrens gibt und zwischen Sachent-scheidungen und Externer Link: formellen Entscheidungen differenziert wird. Allein die Sachentscheidungen im Rahmen geschlechtsspezifischer Verfolgung werden von vielen ver-schiedenen Faktoren beeinflusst. So können gesellschaftspolitische Änderungen in den Herkunftsstaaten, dessen Staatsangehörigkeit die Antragsstellenden besitzen, aber auch Erkenntnisse von anderen Institutionen wie dem Auswärtigen Amt oder dem UN-Flüchtlingshilfswerk Interner Link: UNHCR darauf Einfluss haben, ob ein Schutzstatus gewährt wird oder nicht. Im Jahr 2017 wurden bundesweit 18.402 Personen aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung als Flüchtling anerkannt, das entspricht 15,4 Prozent aller Fälle, in denen 2017 die Flüchtlingseigenschaft gewährt wurde.

Gibt es Fälle, die Ihnen besonders nahe gegangen sind?

Nachtwey: Das ist abhängig vom individuellen Einzelschicksal. Natürlich ist es durchaus möglich, dass es Einzelschicksale gibt, die einem näher gehen. Wichtig ist, dass in solchen Situationen das Gleichgewicht zwischen Engagement bzw. Mitgefühl und professioneller Distanz gewahrt wird, um die Asylgründe des Antragstellers oder der Antragstellerin in vollem Umfang würdigen zu können. Durch die Tätigkeit als Sonderbeauftragte lernt man, sich gut abzugrenzen.

Overbeck: Wenn wir erkennen, dass die Frauen weitere Hilfestellungen benötigen, informieren wir in Abstimmung mit der Antragstellerin auch die entsprechende Sozialbetreuung. Zudem informieren wir über Hilfsangebote in Deutschland, z.B. verweisen wir an das "Hilfetelefon – Gewalt gegen Frauen".

Nehmen Sie die Schicksale der Frauen mit nach Hause?

Overbeck: Um eine professionelle Distanz zu den individuellen Verfolgungsschicksalen wahren zu können, ist es wichtig, dass man "das Gehörte" nicht mit nach Hause nimmt, sondern im Büro lässt. Wir wenden dazu das Konzept der Intervision an, in dem wir uns nach den Anhörungen mit Kollegen intensiv austauschen und beraten. Außerdem haben wir als Sonderbeauftragte die Möglichkeit, an einer Supervision teilzunehmen. Dort stehen wir in Kontakt mit Sonderbeauftragten aus anderen Außenstellen und können uns mit diesen austauschen.

Wie gelingt es Ihnen, Ihre Emotionen vom Sachverhalt zu trennen?

Nachtwey: Gezeigte Emotionen haben für die Aufnahme des Sachverhalts keine Relevanz. Emotionen können und sollen nicht ausgeschlossen werden, im Rahmen von Empathie sind diese auch erforderlich. Die Routine führt dazu, die notwendige Distanz schnell herzustellen.

In sehr schwierigen und emotionalen Gesprächen ist es wichtig, immer wieder Pausen zu machen, um die Anhörung für alle Beteiligten so angenehm wie möglich zu gestalten. Diese Pausen ermöglichen es mir, die professionelle Distanz zu wahren und die richtigen Gesprächsführungstechniken anzuwenden.

Wie gehen Sie damit um, dass Sie nicht allen Frauen einen Schutzstatus gewähren können?

Overbeck: Bei der Entscheidung über den Flüchtlingsschutz haben wir uns an den gesetzlichen Grundlagen zu orientieren. Der Sachvortrag ist mit diesen abzugleichen. Sollte es dabei zu einer Ablehnung kommen, so ist diese rechtlich begründet. Wir müssen hier zwischen dem verständlichen Wunsch, ein besseres Leben führen zu können, und dem rechtlichen Anspruch auf Schutz vor Verfolgung klar differenzieren können.

Gibt es neben den Sonderbeauftragten für geschlechtsspezifische Verfolgung unter den Entscheidern des BAMF noch andere Sonderbeauftragte?

Overbeck: Ja. Ich bin zum Beispiel nicht nur Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung, sondern auch für Folteropfer und traumatisierte Asylbewerber. Diese Sonderbeauftragten gibt es ebenfalls seit 1996. Außerdem existieren seit 1996 Sonderbeauftragte für unbegleitete Minderjährige. Seit 2012 werden Sonderbeauftragte für Opfer von Menschenhandel eingesetzt. Mitte 2017 hat das Bundesamt mit vorbereitenden Maßnahmen für die neue Funktion "Sonderbeauftragte für Sicherheitsfragen im Asylverfahren" begonnen. Diese Sonderbeauftragten bilden die Kontaktstelle zwischen dem Sicherheitsreferat und den Mitarbeitern in den verschiedenen Organisationseinheiten des Bundesamtes und sind gleichzeitig deren Ansprechpartner. Ständiges Ziel ist es, in allen Organisationseinheiten des operativen Bereiches den Einsatz von Sonderbeauftragten für die verschiedenen Personengruppen bzw. Verfahren im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten.

Nachtwey: Da viele Verfolgungsschicksale geschlechtsspezifisch Verfolgter einhergehen mit Traumata, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung sowie auch Menschenhandel, wird eine Verknüpfung der verschiedenen Sonderbeauftragten-Funktionen ermöglicht, um eine umfassende Schulung der Entscheiderinnen und Entscheider zu gewährleisten. Auch stehen sich die verschiedenen Sonderbeauftragten in besonders gelagerten Fällen beratend und unterstützend zur Seite.

Möchten Sie noch etwas ergänzen?

Nachtwey: Überwiegend haben wir uns im Gespräch der geschlechtsspezifischen Verfolgung von Frauen gewidmet. Wichtig ist uns der Hinweis, dass es auch die geschlechtsspezifische Verfolgung von Männern gibt. Aus diesem Grund haben wir im Ankunftszentrum Bramsche auch männliche Sonderbeauftragte für geschlechtsspezifische Verfolgung. Ein häufig vorgetragener Fluchtgrund ist hier die Homosexualität.

Das Interview führte Vera Hanewinkel.

Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Frauen in der Migration.

Vera Hanewinkel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
E-Mail: E-Mail Link: vera.hanewinkel@uni-osnabrueck.de