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Die europäische Presse über die Brexit-Entscheidung | Der Brexit und die britische Sonderrolle in der EU | bpb.de

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Die europäische Presse über die Brexit-Entscheidung

Nicholas Bukovec

/ 6 Minuten zu lesen

Seit einer Woche steht fest: Die Briten wollen die Europäische Union verlassen. Das ist das Ergebnis des Referendums vom 23. Juni. Politiker und Medien diskutieren seitdem über die Bedeutung und Folgen der britischen Entscheidung. Ein Überblick über die Debatte.

Londonerin beim Zeitunglesen in der U-Bahn, 24.06.2016. Ob Großbritannien die EU tatsächlich verlassen wird, scheint noch nicht hundertprozentig sicher. (© picture-alliance/dpa)

"Katastrophe", "schwarzer Tag", "Akt der Verantwortungslosigkeit", "die europäische Variante des Weltuntergangs" – am Tag nach dem Brexit-Referendum saß bei Europas Medien der Schock tief. Interner Link: Fast 52 Prozent der Briten hatten sich für einen Austritt aus der Interner Link: Europäischen Union (EU) ausgesprochen. Für viele Beobachter, auch in den Medien, kam das überraschend. Der britische Regierungschef David Cameron zog umgehend die Konsequenzen. Er erklärte nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des Ergebnisses, dass er spätestens im Oktober zurücktreten werde. Cameron hatte sich wie der Großteil seines Regierungsteams für einen Verbleib in der EU eingesetzt.

Das von ihm initiierte Referendum sei von Anfang an eine schlechte Idee gewesen, schimpfte die liberale finnische Tageszeitung Helsingin Sanomat: "Um seine Stellung und die seiner Partei zu stärken, versprach Cameron den Briten ein EU-Referendum. (...) Die Einsätze bei dem Spiel waren hoch und Cameron hat verloren. Gleichzeitig haben auch Großbritannien und die gesamte EU verloren."

Der Fortbestand der Europäischen Union sei nun gefährdet, warnten zahlreiche Kommentatoren. "Der Sieg der Brexit-Befürworter bedeutet einen enormen Rückschlag für das europäische Projekt", klagte etwa die linksliberale spanische Tageszeitung El País, "die EU befindet sich jetzt in einem ähnlichen Zustand wie Großbritannien 1973 bei seinem Beitritt. Sie wirkt verloren, desorientiert, von den Ereignissen überrollt und ohne klaren Plan für die Zukunft." Die deutsche Regionalzeitung WAZ sah Europa auf dem Scheideweg: "Großbritannien war ein Schwergewicht in der Union; es muss sich erst noch erweisen, ob die EU das Ausscheiden überhaupt verkraften kann. Wirtschaftlich dürfte das vielleicht noch gehen – aber politisch?"

Ebenso gefährdet ist aus der Sicht vieler Beobachter der Zusammenhalt Großbritanniens. Die Schotten sprachen sich mit Interner Link: 62 Prozent klar dafür aus, in der EU zu bleiben. Die in Schottland regierende Scottish National Party (SNP) kündigte am Tag nach dem Brexit-Referendum an, die Bürger "sehr wahrscheinlich" erneut über eine Loslösung von Großbritannien abstimmen zu lassen. Im Jahr 2014 hatten die Schotten das noch mit 55 Prozent abgelehnt. "Der Austritt [der Briten] aus einer Union könnte das Ende einer anderen Union bedeuten. Wer könnte den Schotten vorwerfen, Europa einem England vorzuziehen, das sich in sich selbst zurückgezogen hat?", zeigte die wirtschaftsliberale britische Tageszeitung Financial Times Verständnis.

Das Ergebnis des Referendums offenbart eine Reihe weiterer Bruchlinien in der britischen Gesellschaft, analysierte die konservative britische Tageszeitung The Daily Telegraph: "Das EU-Referendum zeigt, dass Großbritannien nicht eine Nation ist, sondern mehrere: Nationen, die einander nicht verstehen und es vielleicht nicht einmal versuchen wollen. Alt gegen Jung. London gegen den Rest. Schottland gegen England. Elite gegen Arbeiter."

Laut Umfragen hatten die Jungen und besser Gebildeten für den Verbleib in der EU gestimmt. Bei älteren und sozial schlechter gestellten Menschen war die Ablehnung gegenüber der EU groß. Der Erfolg der Brexit-Befürworter habe gezeigt, "dass es für den Nationalismus keinen besseren Nährboden gibt als Angst und Ärger", stellte die spanische Tageszeitung El País fest. "Europa wurde von der letzten Wirtschaftskrise stark erschüttert und hat sich davon nicht erholt. Die EU wurde so zu einer perfekten Zielscheibe für all jene, die ihre Frustrationen und Ängste abladen wollen, die sich bei ihnen in schweren Zeiten angesammelt haben." Die liberale deutsche Wochenzeitung Die Zeit sah gar "das Ende des Europas, das wir kennen. (...) Der Sieg der Brexisten ist ein Sieg der Antipolitik gegen die Elite. Ein Triumph ihrer Lügen über seriöse Berechnungen." Ökonomen und internationale Institutionen, darunter die Interner Link: Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und der Internationale Währungsfonds (IWF), hatten die Briten eindringlich vor den Interner Link: wirtschaftlichen Folgen des Brexit gewarnt.

Dass sie dennoch für den EU-Austritt stimmten, wird aus Sicht vieler Kommentatoren den Populisten in anderen EU-Ländern zusätzlichen Schwung verleihen. "Nationalistische und populistische Parteien werden nun selbstbewusster gegenüber Brüssel auftreten und – sollten sie an die Macht kommen – auch die Autonomie ihrer Länder innerhalb der EU fordern", prognostizierte das rumänische Onlineportal Hotnews. Die linksliberale italienische Tageszeitung La Repubblica ortete "die klarste Niederlage für die Befürworter einer riesigen europäischen Integration seit dem Zweiten Weltkrieg". Das Votum der Briten "könnte einen Dominoeffekt in anderen Ländern auslösen".

Die Chefin des rechtsextremen Interner Link: Front National in Frankreich, Marine Le Pen, freute sich über den "Sieg der Freiheit". Die Franzosen und Bürger anderer EU-Staaten sollten ebenfalls das Recht erhalten, über einen Austritt aus der Union abzustimmen. In den Niederlanden verkündete der Chef der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, "dass die Niederlande die Nächsten sein werden". Das Ja zum Brexit zeigte für die liberale polnische Tageszeitung Gazeta Wyborcza, dass die europäische Integration "nicht länger unumkehrbar" sei. "Das riecht nach einem Domino-Effekt. Der Brexit wird die Populisten in anderen Ländern beflügeln."

Dem wollen die führenden Politiker in Brüssel und in den einzelnen Mitgliedstaaten vorbeugen. Deutschland, Frankreich und Italien pochten vier Tage nach dem Referendum auf einen raschen Beginn der Verhandlungen mit Großbritannien über einen EU-Austritt. "Wir haben keine Zeit zu verlieren. (...) Nichts ist schlimmer als Ungewissheit", erklärte Frankreichs Staatspräsident François Hollande. Großbritanniens Premier David Cameron, aber auch die britischen EU-Gegner wollten sich bis nach dem Sommer Zeit lassen, das komplizierte Austrittsprozedere in Gang zu setzen.

Europa dürfe den Briten nicht entgegenkommen, forderte die wirtschaftsliberale tschechische Tageszeitung Hospodářské noviny: "Großbritannien muss jetzt auch eine Ohrfeige bekommen – von uns, die in der EU weitermachen wollen." Eine harte Haltung der EU-Partner gegenüber London erwartete sich zudem die wirtschaftsliberale italienische Tageszeitung Il Sole 24 Ore: "Kompromissbereitschaft wird es – ganz anders als üblich – kaum geben, denn diesmal gilt es, Nachahmungseffekte zu verhindern. Erschwerend kommt hinzu, dass im kommenden Jahr in den Niederlanden, in Frankreich und Deutschland gewählt wird."

Eine kompromisslose Haltung der EU gegenüber London wäre kontraproduktiv und ein Schlag ins Gesicht der Briten, die eine demokratische Entscheidung getroffen hätten, warnte hingegen die linksliberale britische Tageszeitung The Independent: "Eines der größten Probleme der EU ist ihr Demokratiedefizit. Jeder Einschüchterungsversuch wird die Anti-EU-Stimmung in anderen EU-Ländern eher fördern, anstatt diese zu schwächen." Die EU solle Großbritannien nicht bestrafen, sondern das Referendum als Weckruf sehen, stimmten einige Kommentatoren zu. "Das Schlimmste wäre, weiterzumachen wie bisher, mit einer Dynamik, die – ob zu Recht oder zu Unrecht – eher EU-Skeptizismus als EU-Enthusiasmus erzeugt", mahnte die linksgerichtete französische Tageszeitung Le Monde. Eine ähnliche Meinung vertrat die liberale tschechische Tageszeitung Mladá fronta Dnes: "Dieses Ergebnis kann man kaum anders interpretieren als die Erteilung der schlechtesten Note für die gegenwärtige Form der europäischen Integration. Die Schuld kann man vor allem im Mangel an Selbstreflexion der gegenwärtigen europäischen Eliten suchen."

Die norwegische Tageszeitung Aftenposten sah den Schock über den Brexit als "Chance, die Partnerschaft wieder neu zu erfinden, einen Neustart zu machen, zu definieren, was die EU wirklich sein soll. Eine knappe britische Mehrheit für die EU hätte nicht die gleichen Chancen geschaffen."

Ob Großbritannien die EU tatsächlich verlassen wird, scheint noch nicht hundertprozentig sicher. Vier Tage nach dem Referendum schlug der britische Gesundheitsminister Jeremy Hunt ein weiteres Referendum zur Rücknahme des Brexit vor. Eine zweite Volksabstimmung könnte stattfinden, wenn Großbritannien eine Übereinkunft mit der EU über die Kontrolle der Zuwanderung schließe, sagte er in einem Gastbeitrag in der konservativen Tageszeitung The Daily Telegraph. Die konservative irische Tageszeitung The Irish Independent hielt ein neues Referendum ebenfalls für möglich: "Wenn die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt spürbar werden und sich einige der Versprechen der EU-Gegner als Unsinn erweisen, dann wird die bereits bestehende Initiative für eine Wiederholung des Referendums zusätzlichen Schwung gewinnen." Die konservative tschechische Tageszeitung Lidové noviny wollte davon nichts wissen: "Gerade weil die Demokratie an Regeln gebunden ist, kann man jetzt nicht ein zweites Referendum ausrufen. Ein Referendum lässt sich nicht umtauschen wie ein nicht passendes Weihnachtsgeschenk."

Der einzige Gewinner des Brexit ist aus Sicht vieler osteuropäischer Medien Russland. "Damit steigt von den vier größten EU-Staaten gerade der Staat aus der Gemeinschaft aus, der am realistischsten auf Moskau blickt (Deutschland, Frankreich und Italien schauen da nicht so hin)", klagte die polnische Tageszeitung Gazeta Polska Codziennie. Ähnlich argumentierte die linksliberale slowakische Tageszeitung Pravda: "Moskau (...) eröffnet sich die Möglichkeit, die 'natürliche' Einflusssphäre in Mittel- und Osteuropa zu erneuern." Die Briten hätten auch über Riga und Tallin entschieden.

Nicholas Bukovec hat in Wien, Dublin und Limerick Politikwissenschaften, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften studiert. Von 1999 bis 2011 war er Redakteur der österreichischen Tageszeitung Kurier in Wien. Seit 2011 arbeitet er von Dublin aus als freier Journalist und für eine Online-Marketing-Plattform.