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Nordkaukasus | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Nordkaukasus

Regina Heller

/ 9 Minuten zu lesen

Die neuerlichen Gewaltausbrüche und Konflikte im Nordkaukasus zeigen, wie instabil die Region weiterhin ist. Moskau hat sein Ziel, den Nordkaukasus von terroristischer Gewalt zu befreien und zu stabilisieren, nicht erreicht.

Gepanzerte Fahrzeuge und ein Rettungsboot während einer militärischen Übung der russischen Armee im Kaukasus. (© picture-alliance/dpa, Sputnik )

Aktuelle Konfliktsituation

Der Nordkaukasus galt lange Zeit als Epizentrum terroristischer Gewalt in Russland, bevor es der Zentralregierung in Moskau im Laufe der letzten zehn Jahre gelang, das Anschlagsgeschehen fast zum Erliegen zu bringen. Allerdings ist spätestens seit 2023 erneut eine Zunahme zu verzeichnen. Bisheriger Höhepunkt terroristischer Gewalt war ein koordinierter Anschlag im Juni 2024 auf eine Synagoge und mehrere russisch-orthodoxe Kirchen in Dagestan, der größten Teilrepublik des Nordkaukasus. 2023 wurden 14 Tote und noch einmal so viele Verletzte gezählt. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 waren es bereits 23 Tote und mindestens sechs Verletzte. Bei den Anschlägen von 2024 in Dagestan und den mehrere Stunden anhaltenden Straßenkämpfen zwischen Attentätern und Sicherheitskräften in den Städten Derbent und Machatschkala kamen fünf Zivilisten, 17 Sicherheitskräfte und sechs Terroristen ums Leben; mindestens 43 Personen wurden verletzt.

Die Terrorangriffe von Juni 2024 in Dagestan richteten sich nicht, wie bislang, gegen staatliche Institutionen und ihre Vertreter, sondern vor allem gegen Einrichtungen und Mitglieder jüdischer und christlicher Kirchengemeinden. Eine eindeutige Verbindung zum „Islamischen Staat Provinz Khorasan“ (ISPK), einem Ableger des IS in Afghanistan und Zentralasien, lässt sich nicht nachweisen. Anders als beim Anschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk nahe Moskau im März 2024, bei dem 143 Menschen getötet wurden, hat sich der ISPK nicht zu den Anschlägen in Dagestan bekannt. Bei den Attentätern handelte es sich offenbar auch nicht um einzelne gewaltbereite Islamisten, sondern zumindest teilweise um Angehörige eines hochrangigen dagestanischen Politikers.

Die neuen Akteure und Ziele der terroristischen Gewalt deuten auf eine fortschreitende religiöse Radikalisierung der Bevölkerung hin, insbesondere in Dagestan. Zu diesem neuen Klima der Gewalt im Nordkaukasus hat vor allem Moskau mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine beigetragen. Weil im Ukrainekrieg überproportional viele Kämpfer aus dem Nordkaukasus zu Tode gekommen sind, nehmen Misstrauen und Feindseligkeiten der dortigen Bevölkerung gegenüber den regionalen und lokalen Regierungen sowie gegenüber Moskau deutlich zu. Nach der Ankündigung der Teilmobilisierung im Herbst 2022 brachen im gesamten Nordkaukasus teils gewaltsame Proteste aus, vor allem in Dagestan und Kabardino-Balkarien. In der Hauptstadt Dagestans Machatschkala kam es mehrere Tage lang zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der örtlichen Polizei.

Zudem hat Moskau im Zuge des Ukrainekriegs, aber auch durch seine Unterstützung für die Hamas nach den Terrorangriffen vom 7. Oktober 2023 in Israel, in Russland ein Klima des Hasses befeuert, das latente und manifeste religiöse und ethnische Konflikte im Nordkaukasus verschärft und dazu beiträgt, dass sich in der Region vorhandene Ressentiments zunehmend in Gewalt entladen. Bereits im Herbst 2023 fanden mehrere antiisraelische und antisemitische Demonstrationen und Ausschreitungen in Dagestan und andernorts im Nordkaukasus statt. Die Bevölkerung in der Region ist mehrheitlich muslimischen Glaubens. Überregionale Aufmerksamkeit erregte Ende Oktober 2023 ein mit palästinensischen Flaggen und Anti-Israel-Fahnen ausgestatteter Mob von mehreren hundert Personen, der den Flughafen in Machatschkala stürmte und aufs Rollfeld drängte, um jüdische Passagiere aus Israel am Umsteigen zu hindern.

Ursachen und Hintergründe

Das Wiederaufflammen der Gewalt im Nordkaukasus zeigt, wie instabil die Region nach wie vor ist. Die neuerliche Terrorwelle, auch über die Region hinaus, lässt vermuten, dass Moskau seine Ressourcen aktuell auf den Ukrainekrieg konzentriert, während Konflikte im Land selbst weithin vernachlässigt werden. In der Folge brechen insbesondere im Nordkaukasus die Wunden des über viele Jahre gewaltsam unterdrückten Unabhängigkeitskampfs wieder auf. Zusätzlich Nahrung erhält die sich ausbreitende feindliche Stimmung gegen die Zentralregierung in Moskau aus den weiterhin ungelösten und sich tendenziell verschärfenden Strukturproblemen der Region.

Tatsächlich wurde seit dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 vermehrt Personal aus dem Nordkaukasus in die Ukraine abgezogen, um dort die russischen Sicherheitskräfte zu verstärken. Dies hat zu Lücken bei der Sicherheitsüberwachung und Identifizierung potenzieller Akteure und Ziele von Terrorakten in der Region geführt. Der Ukrainekrieg hat jedoch nicht nur gewaltbereiten Islamisten neue Handlungsmöglichkeiten in der Region eröffnet, sondern auch andere Gewaltakteure mobilisiert, die sich außerhalb des Nordkaukasus aufhalten. Unter Namen wie „Dschochar-Dudajew-Bataillon“, „Scheich-Mansur-Bataillon“, „Imam-Schamil-Bataillon“ oder „Muslimisches Korps Kaukasus“ kämpfen gewaltbereite Aktivisten aus dem Nordkaukasus, zumeist Tschetschenien, als Freiwillige an der Seite der Ukraine gegen Russland. Ihr Ziel ist es unter anderem auch, den Kampf für Selbstbestimmung nach Tschetschenien zurückzubringen.

Der Nordkaukasus ist gleichzeitig ein wichtiges Reservoir für die Rekrutierung von Kämpfern auf der russischen Seite. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist der Freiwilligendienst für viele Männer finanziell lukrativ. In der strukturarmen Region, die von hoher Arbeitslosigkeit geprägt ist, wird der Militärdienst als Chance für den sozialen Aufstieg angesehen. Dies zieht Männer aus ärmeren Verhältnissen häufiger in die Armee. Zum anderen erfolgt insbesondere in Tschetschenien die Mobilisierung durch Zwangsrekrutierung und Druck auf die Familien. Tschetschenien ist eine Drehscheibe für die Rekrutierung von Freiwilligen; dementsprechend hoch ist die Zahl der Kämpfer bzw. Gefallenen im Ukrainekrieg. Im Frühjahr 2024 lag die offizielle Zahl bei knapp 1.700, wobei die inoffiziellen Zahlen weitaus höher liegen dürften. Die meisten Gefallenen kommen aus Dagestan. Während nach Recherchen der unabhängigen Nachrichtenagentur Vazhnye Istorii (Wichtige Geschichten) in St. Petersburg ein Gefallener auf 10.000 und in Moskau auf 23.000 Einwohner kommt, sind es in Dagestan bei 1.007 Toten ein Gefallener auf 3.200 Einwohner.

Die Wut über die hohen Verluste im Ukrainekrieg ist groß. Verstärkt wird das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Moskau sowie den regionalen und lokalen Regierungen zudem durch die weiterhin massiven sozio-ökonomischen und politischen Probleme, unter denen der Nordkaukasus leidet: Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Einkommen, schlechte Infrastruktur und mangelnde Investitionen machen die Region zur ärmsten in ganz Russland. Endemische Korruption in Form von Nepotismus und Patronage, kriminelle Verstrickungen von Angehörigen des Staatsapparates, verschleppte Reformen und ein geringes Verantwortungsbewusstsein der Eliten zementieren die schwierigen Verhältnisse. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den lokalen Regierungen hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder in friedlichen Demonstrationen, aber auch in politischen Unruhen entladen. Der Impuls der Sicherheitsbehörden ist, darauf mit Willkür und Repression zu reagieren. Dies verringert jedoch das Vertrauen in die Regierungen nur noch weiter und verstärkt die Sympathien für radikal-islamistische Ideologien und Gewaltakteure.

Dieser stetige Entfremdungsprozess hat dazu beigetragen, dass islamistische Ideologien mittlerweile auch in breiteren Teilen der Gesellschaft im Nordkaukasus, insbesondere in Dagestan, angekommen sind. Radikal-islamistische Narrative scheinen anschlussfähig an die Lebenswirklichkeit der Menschen und sind als Mobilisierungsressource nutzbar. Dabei ist der radikale Islamismus im Nordkaukasus ein relativ neues Phänomen, das erst mit der post-sowjetischen Ära auftrat. Die Einschränkung der Religionsausübung in der Sowjetunion hatte die muslimischen Gesellschaften stark säkularisiert und nur bedingt die Praktizierung eines gemäßigten, staatsnahen Sufi-Islam erlaubt. Dessen Nähe zur lokalen Politik, aber vor allem die Gewalt- und Willkürerfahrungen von Strenggläubigen während der Tschetschenienkriege trieben vor allem junge Menschen in die Arme gewaltbereiter Islamisten.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die russische Regierung hat seit dem offiziellen Ende der Anti-Terror-Operation 2009 gezielt und unter massivem Einsatz von Mitteln versucht, den Nordkaukasus zu befrieden und zu stabilisieren. Zu den Maßnahmen Moskaus gehören zum einen fortdauernde militärische und polizeiliche Anti-Terror-Einsätze, eine restriktive Gesetzgebung und entsprechende Strafverfolgung, um neuerliche Gewaltakte und Tendenzen der nationalen Selbstbestimmung in der Region zu unterbinden. Moskau verfolgt politische Dissidenten nicht nur in der Region, sondern auch in ganz Russland und auch außerhalb des Landes. Viele dieser Maßnahmen bewegen sich außerhalb des Rechts. Nachdem Russland 2022 den Europarat verlassen hat, ist es nun noch schwieriger, Willkürakte und Rechtsbrüche von Sicherheitsbehörden zu ahnden.

Moskau hat in den vergangenen Jahren die Autonomie der Nordkaukasusrepubliken deutlich eingeschränkt und die politische Kontrolle durch die Zentralregierung über die Region ausgeweitet. So wurde 2012 mit Ausnahme Tschetscheniens die Direktwahl der Republikpräsidenten abgeschafft. Seither werden die Präsidenten im Nordkaukasus von Moskau ernannt. Diese Politik der Ko-Optierung und Instrumentalisierung der politischen Eliten des Nordkaukasus hat zur Folge, dass die lokalen Regierungen dem Kreml loyal ergeben sind und primär Moskauer und nicht lokale Interessen bedienen. Angesichts der weiterhin hohen Korruption und Misswirtschaft hält die Diskussion über eine flächendeckende Wiedereinführung der Direktwahl jedoch an. Doch der Kreml setzt lieber auf sogenannte Outsider, wie etwa auf Sergej Melikow in Dagestan und Mahmut-Ali Kalimatow in Inguschetien. Beide haben wenig oder keine politische oder soziale Verwurzelung in den von ihnen regierten Republiken und Gebieten. Der Kreml hofft, dass so seine Vorgaben effektiver umgesetzt werden können.

In Moskaus politischem Ansatz gegenüber dem Nordkaukasus nimmt Tschetschenien weiterhin eine Sonderrolle ein. Dem Kadyrow-Klan gelang es nach den Tschetschenienkriegen, als loyaler Partner Moskaus den ethno-nationalistischen Widerstand im Land dauerhaft zu unterdrücken sowie seine zentralen Figuren zu eliminieren. Auch im aktuellen Ukrainekrieg sind Kadyrows Eliteeinheiten aufgrund ihrer Kampferfahrung und Loyalität für Putin wichtig. Moskau gewährt Präsident Kadyrow im Gegenzug viele Freiheiten und politische Rückendeckung. Diese Sonderbehandlung verstärkt Kadyrows Machtspiele im Nordkaukasus. So erhebt Tschetschenien selbstbewusst Gebietsansprüche gegenüber seinen Nachbarn, was dort bereits Proteste und Unruhe ausgelöst hat. Moskau hat sich im Grenzstreit bislang nicht klar positioniert. Dies nützt Kadyrow und schwächt seine Nachbarn.

Ein weiterer Pfeiler in Moskaus Strategie gegenüber dem Nordkaukasus sind wirtschaftliche Transferleistungen. Ökonomisch ist die Region massiv vom Zentrum abhängig: Zwischen 50 % und 90 % der jährlichen Budgets kommen aus Moskau. Gerät das russische Staatsbudget unter Druck, werden auch die Transferleistungen aus Moskau reduziert. So wurden beispielsweise während der Corona-Pandemie die Zahlungen seitens des Zentrums massiv zurückgefahren. Dies verstärkte die ökonomischen Missstände in der Region und leistete der Korruption Vorschub. Neue politische Unruhen waren die Folge. Dieser Effekt könnte erneut eintreten, wenn durch die aktuelle Umstellung auf Kriegswirtschaft Gelder umgeleitet werden oder die westlichen Sanktionen gegen Russland den föderalen Staatshaushalt weiter unter Druck setzen.

Schließlich versucht Moskau verstärkt, verbindende Identitätsnarrative zu etablieren. Seit dem Ukrainekrieg beschwört der Kreml die Einheit Russlands und bezeichnet den islamistischen Terrorismus als ein „Problem des Westens“. Für die neuerliche Gewalt machen Moskau und die regionalen Regierungen im Nordkaukasus die Ukraine verantwortlich. Das Narrativ soll die Bevölkerung glauben machen, dass externe Kräfte gezielt an der Destabilisierung Russland arbeiten. Moskau hofft auf diese Weise, die tiefen kulturellen Gräben zwischen der russischen Mehrheitsbevölkerung und den nicht-russischen Ethnien überdecken zu können. Noch vor wenigen Jahren hat die russische Führung mit ihrem nationalistischen Kurs, etwa mit der Höherstellung der russischen Sprache in der Verfassung im Jahr 2018, die ohnehin starken Fliehkräfte zwischen dem russischen Kernland und dem Nordkaukasus noch weiter verstärkt.

Geschichte des Konflikts

Die Gewaltgeschichte im Nordkaukasus begann bereits mit der zaristischen Kolonialpolitik. Im 19. Jahrhundert organisierten Imame den bewaffneten Widerstand gegen die Unterdrückung der kaukasischen Völker durch das Zarenreich. Während der Sowjetherrschaft verschärften Vertreibung, Umsiedlung und die zentrale Kontrolle über ökonomische Ressourcen die Spannungen und Konflikte. Die dadurch angestauten Frustrationen und Widersprüche brachen beim Übergang in die postsowjetische Periode auf.

Die dramatischste und opferreichste Folge war der Tschetschenienkonflikt. Die von Vertretern der tschetschenischen Nationalbewegung 1991 ausgerufene unabhängige Republik „Itschkerien“ wurde von Moskau nie anerkannt. Politische Lösungen wurden kategorisch abgelehnt und die Unabhängigkeitsbewegung in zwei Kriegen (1994-1996 und 1999-2001) niedergeschlagen.

Hiernach vollzogen die Führer des tschetschenischen Widerstands eine Hinwendung zum radikalen Islam. So konnten unterschiedliche Gruppierungen radikaler und gewaltbereiter Salafisten in der Region, die unter dem Einfluss fundamentalistischer Lehren in den 1990er Jahren erstarkt waren, mobilisiert und der Kampf auf den gesamten Nordkaukasus ausgeweitet werden. Folgenreichster Ausdruck dieser Transformation waren die Anschläge im Moskauer Nord-Ost-Theater (2002) und in einer Schule in Beslan (2004). Zwischen 2007 und 2015 operierten die verschiedenen dschihadistischen Gruppierungen des Nordkaukasus unter dem losen Dach des „Kaukasischen Emirats“.

Weitere Inhalte

Dr. Regina Heller ist Wissenschaftliche Referentin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie studierte Politikwissenschaft, Ostslawistik und osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, am Middlebury College, Vt./USA und an der Universität Hamburg. Von Oktober 2014 bis September 2015 vertrat sie die Professur für Internationale Politik, insbesondere auswärtige und internationale Politik osteuropäischer Staaten, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.