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„Wen die Deutschen fanden, den haben sie getötet.“ | Begleitmaterial zu „Der Balkon“ | bpb.de

„Wen die Deutschen fanden, den haben sie getötet.“ Zum Filminhalt

Ulli Joßner

/ 5 Minuten zu lesen

Dieser Film schließt eine Lücke, die das Schweigen deutscher Soldaten über ihre Taten im 2. Weltkrieg hinterlassen hat. Der Filmemacher Chrysanthos Konstantinides lässt die Opfer und deren Nachfahren die Geschichte eines deutschen Wehrmachtsmassakers in Griechenland erzählen. Ihr Leiden steht exemplarisch für die Geschichte von 122 griechischen Märtyrerdörfern, wie seit 1998 herausgehobene Opfergemeinden bezeichnet werden, in denen während der Jahre der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 schwere Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt wurden.

Die Stimmen scheinen aus einer anderen Zeit zu kommen. Klagen, Schreie alter Frauen! „Alles verloren! Alle tot! Die Deutschen sind gekommen! Gekommen um zu töten! Sie haben Kinder getötet!“ Wir hören sie aus dem bilderlosen Off, vor schwarzem Hintergrund. So finster wie das Grauen, das die Stimmen der fünf Überlebenden eines Massakers der deutschen Wehrmacht im griechischen Dorf Lyngiades am 3. Oktober 1943 noch einmal heraufbeschwören! Aufgenommen hat sie der deutsche Rechtshistoriker Christoph Schminck-Gustavus, der 1978 zum ersten Mal in dieses Dorf gegenüber von Ioannina in Epirus stolperte und von 1989 an zwei Jahre lang das Massaker erforschte und seine Recherchen im Buch „Der Feuerrauch“ veröffentlichte. Der Filmemacher Chrysanthos Konstantinidis, dessen Mutter aus dem Dorf stammt, ist mit ihm zusammen und dem griechischen Lokal-Historiker Apostolis Papageorgiou nach Lyngiades gegangen, hat dort diese fast dreißigjährigen Aufnahmen den Nachkommen der fünf Überlebenden vorgespielt und sich schildern lassen, wie dieses Massaker ihr ganzes Leben beeinflusst und überschattet hat.

Rhythmisiert durch die Bilder vom Stopp und Start des alten Kassettenrekorders von Schminck-Gustavus wird das Massaker anhand der Erzählungen der fünf direkt Überlebenden und ihrer Nachkommen und anderen Mitgliedern der Dorfgemeinschaft rekonstruiert. So genau wie auf den Kassettenaufnahmen des Historikers haben die meisten der Nachgeborenen die Geschichten nie gehört. So ungeheuerlich sind die Schilderungen, dass die Überlebenden lieber schwiegen oder nicht aufhören konnten zu weinen, wenn sich das Massaker wieder einmal jährte. „Wen die Deutschen fanden, den haben sie getötet.“ / „Dreißig Tote habe ich: tot und begraben. Mutter, Vater, Geschwister, Schwester.“ / „Mein Vater hielt meine Schwester. Der Schuss ging ihr durch den Kopf... Nur ihren Körper hielt er noch auf dem Arm.“ / „Als die Deutschen schossen, trafen sie den Kopf des Kindes. Sein Gehirn spritzte raus.“ / „Der Kleine zuckte ...sechs oder sieben Mal, bis er starb.“ / „Und so weiter und so fort.“

Der Film lässt uns nach jeder Geschichte immer wieder Zeit, zusammen mit den Familienmitgliedern der fünf Überlebenden durchzuatmen. Zuerst fängt die Kamera ohne aufdringliche Nahaufnahmen die Reaktion auf das Gehörte in ihren versteinerten Körpern und fassungslosen Gesichtern ein, bevor sie überhaupt erst anfangen können zu erzählen, was diese Gräueltaten mit ihnen und ihren Familien und ihrem Dorf gemacht haben.

Wie bei den Erzählungen über den Holocaust sind es auch in Lyngiades viele kleine Zufälle, die einzelne gerettet haben. Die meisten Männer waren an diesem Tag bei der Walnussernte im Nachbardorf. So waren es überwiegend die Frauen im Dorf, Kinder und Alte, die auf dem Marktplatz zusammengetrieben, in die Keller geprügelt und dort mit MG-Salven getötet und in den Häusern angezündet wurden. „Sie nahmen die beiden schönsten Mädchen aus dem Dorf mit. Etwa 18 Jahre alt. Die nahmen sie mit in eine Scheune, vergewaltigten und verbrannten sie.“ Wer für tot gehalten wurde hatte eine Chance zu überleben. So wie Panos Babousikas, der als Baby mit einer riesigen Bajonettwunde entlang seiner Wirbelsäule in den Trümmern des Dorfes gefunden wurde, während er noch an der Brust seiner toten Mutter saugte.

Chrysanthos Konstantinides gelingt es, Geschichte und Gegenwart in der Landschaft verschmelzen lassen, indem er die Kamera zwischen den Erzählungen immer wieder langsam über den See nach Ioannina und das Dorf und durch Ruinen streifen lässt. Mit entsättigten Farben und dem intensiven elegischen Soundtrack von Alexandros Petrou malt sein Film die Trauer über diese Landschaft.

Unmittelbar nach der Katastrophe blieb niemand in Lyngiades. Die Leute gingen in die Wälder, versteckten sich in Höhlen und bettelten in anderen Dörfern um Essen und Kleidung. Von 1944 bis 1953 lebten sie in Höhlen, in Schilfhütten und in anderen Notbehausungen. Erst danach begannen sie, die Hausdächer zu reparieren. Dabei fanden sie überall noch Knochen und Totenschädel und fragten sich, „war das mein Bruder, mein Cousin?“. Wiederaufbauhilfe aus Deutschland hat der Ort ebenso wenig wie andere Opfergemeinden erhalten.

Nach den Zeitzeugeninterviews begleitet der Film Christoph Schminck-Gustavus ins Militärarchiv in Freiburg. Der Wehrmachtsbericht behauptet in einer gezielten Lüge, Lyngiades „gegen schwachen Feindwiderstand“ eingenommen zu haben. Das wäre eine Kampfhandlung gewesen statt eines Kriegsverbrechens an 88 wehrlosen Frauen, Kindern, Babys und alten Männern! Dank seiner Recherchen im Archiv der ehemaligen Wehrmachtsauskunftsstelle in Berlin kann auch eine inzwischen 99-jährige Frau beruhigt werden. Sie war nach dem Massaker für lange Zeit im Dorf als Hexe verflucht worden. Die Dorfbewohner dachten, die Deutschen hätten ihren Hochzeitszug mit griechischen Fahnen für Partisanen gehalten und deshalb das Dorf als Partisanennest ausgelöscht. In Wirklichkeit war das Massaker eine Racheaktion für den Tod eines Kommandanten des Gebirgsjägerregiments der „Division Edelweiß“ durch eine Falle der Partisanen. „Im Umkreis von 20 Kilometern“ sollte der Rauch sichtbar sein und Panik verbreiten. Dafür war Lyngiades der ideale Ort, liegt es doch wie ein Balkon über dem See gegenüber von Ioannina.

Der Film folgt Schminck-Gustavus bis nach Mittenwald, wo den Gebirgsjägern ein Denkmal errichtet wurde. Jedes Jahr wird dort an Pfingsten eine Gedenkfeier für die in beiden Kriegen gefallenen Gebirgsjäger abgehalten. Demonstrationen gegen die Altnazi-Aufzüge mit Hakenkreuzen gab es hier erstmals in den 1980er Jahren. Die Antifaschisten und Friedensaktivisten, die eine Bestrafung der Kriegsverbrecher forderten, waren nicht willkommen.

2014 kommt Bundespräsidenten Joachim Gauck mit dem Buch von Christoph Schminck-Gustavus nach Lyngiades und bittet „mit Scham und Schmerz die Familien der Ermordeten um Verzeihung“. Der Überlebende Panos Babousikas begreift „diese Entschuldigung nicht“ und nimmt sie nicht an. Die Demonstranten von Mittenwald kritisieren, dass keiner der Verantwortlichen in Deutschland angeklagt wurde und dass Deutschland für die Zerstörungen nichts zahlen will. Im Gespräch mit den Dorfbewohnern verteidigt sich Gauck, dass sein Amt ihm nicht erlaube, zu griechischen Reparationsforderungen Stellung zu nehmen. Das sei Sache der deutschen Regierung. Und die lehnt die griechischen Reparationsforderungen ab. Aber das wäre ein anderer Film.

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