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Unbeabsichtigte Folgen des Integrationsprozesses | Gesundheitspolitik | bpb.de

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Unbeabsichtigte Folgen des Integrationsprozesses

Thomas Gerlinger

/ 13 Minuten zu lesen

Welche Gesundheitsleistungen können EU-Bürgerinnen und -Bürger im europäischen Ausland in Anspruch nehmen? Die besondere Stellung des Europäischen Gerichtshofs im Integrationsprozess resultiert aus dem Vorrang des europäischen Rechts. Die europäische Rechtsetzung auf einzelnen Regelungsfeldern ist also in den Mitgliedstaaten unmittelbar wirksam.

In einer Zahnklinik in Stettin wird ein Patient aus Dänemark behandelt. (© picture-alliance / ZB)

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) kann unter anderem auf folgenden Wegen angerufen werden:

  1. Die Europäische Kommission kann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat anstrengen, das verschiedene Stufen durchläuft. Wenn der Mitgliedstaat einer Aufforderung der Kommission, zur beanstandeten Regelung Stellung zu nehmen oder sie zu korrigieren, nicht nachkommt, kann sie den EuGH anrufen.

  2. Nationale Gerichte können dem EuGH einen Rechtsstreit zur Vorabentscheidung vorlegen, in der dieser das europäische Recht verbindlich auslegt.

  3. Mitgliedstaaten, EU-Organe sowie natürliche und juristische Personen können gegen Maßnahmen oder Entscheidungen anderer Akteure klagen ("Nichtigkeitsklage", "Anfechtungsklage").

Die Rechtsprechung des EuGH hat sich in zahlreichen Verfahren mit dem Verhältnis von nationalem Krankenversorgungsrecht und europäischem Binnenmarktrecht befasst. Dabei hat er die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme bekräftigt und zugleich klargestellt, dass sie bei der Gestaltung ihrer Gesundheitssysteme die Grundsätze des Binnenmarktes so weit wie möglich zu beachten haben. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen gilt also auch im Bereich des Gesundheitswesens (zum Beispiel McKee/Mossialos/Baeten 2002; Busse/Wismar/Berman 2002; Jacobs/Wasem 2003; Schmucker 2003). Insofern schränkt das Binnenmarktrecht die gesundheitspolitische Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten ein.

Die Grundsätze des Binnenmarktes können nur außer Kraft gesetzt werden, wenn "zwingende Gründe des Allgemeininteresses" dies erfordern. Solche Gründe könnten:

  • in einer erheblichen Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des sozialen Sicherungssystems oder

  • in einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit beziehungsweise des Gesundheitsschutzes bestehen.

Mit diesem Grundtenor hat der EuGH dazu beigetragen, dass die Dynamik der Marktschaffung seit den 1990er-Jahren verstärkt das im Kern öffentlich oder staatlich regulierte Gesundheitswesen erfasst hat.

Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen

Das nationale Sozialrecht formuliert die Voraussetzungen, unter denen die Bürgerinnen und Bürger beziehungsweise die Krankenversicherten des jeweiligen Landes Zugang zu öffentlich finanzierten Gesundheitsleistungen haben. Zumeist sehen (beziehungsweise sahen) die einschlägigen Bestimmungen vor, dass die Inanspruchnahme derartiger Leistungen dem Territorialitätsprinzip folgt: Ein Rechtsanspruch auf die Finanzierung von Leistungen liegt demzufolge nur dann vor, wenn die Leistungsinanspruchnahme bei solchen Leistungserbringern erfolgt, die auf dem Territorium des Versicherungsstaates ansässig sind. Die Kostenübernahme bei Auslandsbehandlungen war gemäß der bis 2004 gültigen EG-Verordnung 1408/71 dagegen nur in dringenden Fällen und nach vorheriger Genehmigung vorgesehen. Die Regeln des Binnenmarktes hingegen beinhalten das Recht zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Leistungen. Dies wirft die Frage auf, ob und unter welchen Bedingungen EU-Bürgerinnen und -Bürger im Ausland Gesundheitsleistungen zulasten ihrer Krankenversicherung in Anspruch nehmen können.

In mehreren Urteilen hat der EuGH die Rechte von EU-Bürgerinnen und -Bürgern bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen präzisiert. Eine wegweisende Entscheidung traf er in den Rechtssachen Kohll und Decker im Jahr 1998 (siehe Anhang 2). Hier wurden eine niederländische und eine luxemburgische Krankenversicherung verpflichtet, die Kosten für ambulante Versorgungsleistungen zu erstatten, die die Versicherten ohne vorherige Genehmigung im EU-Ausland in Anspruch genommen hatten. Grundsätzlich hat die Vergütung nach den Kostensätzen zu erfolgen, die im Land der Behandlung gelten. Sind die Behandlungssätze im Versicherungsstaat höher, steht der Patientin oder dem Patienten ein Differenzbetrag zu (Bormann/Petersen 2002, S. 195 f.). Im selben Jahr entschied der EuGH, dass der Anspruch auf Geldleistungen der deutschen Pflegeversicherung nicht mit dem Hinweis auf einen dauerhaften Wohnsitz im Ausland zurückgewiesen werden darf (Rechtssache Molenaar, siehe Anhang 2).

Eine Zeitlang bestand bei den deutschen Krankenkassen und im Bundesgesundheitsministerium die Hoffnung, dass diese Urteile nur für Gesundheitssysteme mit Kostenerstattungssystem gelten würden, nicht aber für solche, in denen das Sachleistungsprinzip vorherrscht. Jedoch machte der EuGH im Jahr 2003 mit der Entscheidung Müller-Fauré und van Riet (siehe Anhang 2) deutlich, dass auch Sachleistungssysteme die nachträgliche Erstattung von Behandlungskosten ermöglichen müssen, um einen freien Dienstleistungsverkehr zu gewährleisten.

Auch bei Krankenhausleistungen handelt es sich dem EuGH zufolge grundsätzlich um Dienstleistungen im Sinne des EG-Vertrages (zum Beispiel Rechtssachen Vanbraekel, Geraets-Smits und Peerbooms sowie Rechtssache Watts, siehe Anhang 2). Anders als in der ambulanten Versorgung muss die/der Versicherte hier allerdings eine vorherige Genehmigung bei der Krankenversicherung einholen. Der Grund liegt in der Definition der Ausnahmetatbestände: Zusätzlich zu den oben genannten "zwingenden Gründen des Allgemeininteresses" erkannte der EuGH mit Blick auf die stationäre Versorgung einen weiteren Ausnahmetatbestand an, nämlich die Notwendigkeit der Planung. Um den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Krankenhausversorgung zu ermöglichen, müssten die Zahl der Krankenhäuser, ihre geografische Verteilung und die angebotenen medizinischen Leistungen planbar sein. Die Planung trage zudem dazu bei, die Kostenentwicklung zu beherrschen und die Verschwendung finanzieller und menschlicher Ressourcen zu verhindern. Eine vorherige Genehmigung der Kostenerstattung bei einer Krankenhausbehandlung im Ausland sei daher eine notwendige und angemessene Maßnahme. Allerdings darf das System von Genehmigungen nur auf objektiven Kriterien beruhen. Insbesondere müssen die Kriterien unabhängig vom Ort der Niederlassung des Erbringers der Versorgungsleistungen sein.

Dabei formulierte der EuGH den Grundsatz des "Euro Speak". Dies bedeutet, dass die nationalen Regelungen über Leistungsumfang und Versorgungsansprüche "europäisch übersetzt" werden müssen. Rechte, die eine Bürgerin oder ein Bürger beziehungsweise eine Krankenversicherte oder ein Krankenversicherter im Herkunftsland genießt, gelten auch im Land der Inanspruchnahme. Eine deutsche Versicherte oder ein deutscher Versicherter kann in Großbritannien also direkt eine niedergelassene Fachärztin oder einen niedergelassenen Facharzt aufsuchen – ein Recht, das einer britischen NHS-Patientin beziehungsweise einem britischen NHS-Patienten in Deutschland verwehrt ist.

Leistungen dürfen dann nicht verweigert werden, wenn die Behandlung als in ärztlichen Kreisen üblich betrachtet werden kann und die Behandlung der/des Versicherten medizinisch notwendig ist.

Die Genehmigung darf nur dann wegen fehlender medizinischer Notwendigkeit versagt werden, wenn die/der Versicherte die gleiche oder ebenso wirksame Behandlung rechtzeitig in einer Einrichtung erhalten kann, die eine vertragliche Vereinbarung mit der Krankenkasse im Heimatland der/des Versicherten geschlossen hat. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine entsprechende Behandlung der Patientin oder dem Patienten tatsächlich rechtzeitig zur Verfügung steht, müssten die nationalen Behörden alle Umstände des konkreten Falles beachten. Dazu zählen unter anderem der Gesundheitszustand der Patientin oder des Patienten, das Ausmaß der Schmerzen und die Art der Behinderung. Der Begriff "rechtzeitig" verweist auf das Problem von Wartelisten: Die Aussicht auf Wartezeiten kann offenkundig – in Abhängigkeit von ihrer Länge und der Schwere der Erkrankung – einen Anspruch auf eine Krankenhausbehandlung im Ausland auch ohne vorherige Genehmigung begründen.

Die Rechte zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen könnten vielfältige Auswirkungen auf die Anbieter medizinischer Leistungen haben. So wäre es ausländischen Leistungserbringern zum Beispiel möglich, in einen Qualitäts- und Preiswettbewerb mit deutschen Anbietern zu treten. Die praktischen Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung sind bisher aber nur gering. Zwar haben in Grenzregionen ansässige Krankenkassen und Leistungserbringer vereinzelt grenzüberschreitende Versorgungsprojekte auf den Weg gebracht. Auch lässt sich etwa bei zahnärztlichen Leistungen, bei denen das Preisgefälle sehr stark und gleichzeitig der privat zu tragende Kostenanteil sehr hoch ist, eine stärkere Inanspruchnahme osteuropäischer Anbieter feststellen.

Insgesamt aber ist der Medizintourismus bisher unbedeutend. Die Gründe dafür sind vielfältig (zum Beispiel Wille 2003):

  • Es existieren – gerade für ältere Patientinnen und Patienten – erhebliche Sprachbarrieren.

  • Viele Patientinnen und Patienten haben das Interesse an einer vertrauten Arzt-Patient-Beziehung.

  • Oftmals müssten größere Entfernungen überbrückt werden. Kosten und Nutzen stehen dann nur selten in einem angemessenen Verhältnis.

  • Die grenzüberscheitende Inanspruchnahme von Leistungen ist mit bürokratischen Hindernissen verbunden (Anträge, Schriftverkehr etc.).

  • Vielfach sind Versicherte nur unzureichend über Behandlungsmöglichkeiten im Ausland informiert.

Der EuGH hat die Rechte der Versicherten bei der Inanspruchnahme und die Erstattungspflichten der Finanzierungsträger bei der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme gesundheitlicher Leistungen beträchtlich erweitert. Allerdings kann von einem europäischen Markt für gesundheitliche Dienstleistungen noch nicht die Rede sein.

Mittlerweile hat der deutsche Gesetzgeber das Krankenversicherungsrecht (Füntes Buch Sozialgesetzbuch, SGB V) an die EuGH-Rechtsprechung angepasst. So sieht das zum 1. Januar 2004 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) Kostenerstattungsregeln für die Behandlung im EU-Ausland vor (§ 13 Abs. 4 und 5 SGB V). Außerdem ist es den Krankenkassen seitdem auch gestattet, Versorgungsverträge mit Leistungserbringern in anderen EU-Mitgliedstaaten abzuschließen (§ 140e SGB V). Die europäische Integration wirkt sich somit auch im deutschen Krankenversicherungsrecht aus, obwohl dessen Ausgestaltung in der nationalstaatlichen Kompetenz liegt.

Die Rolle von Krankenkassen und Kollektivverträgen bei der Steuerung der gesetzlichen Krankenversicherung

Der Stützpfeiler des deutschen Gesundheitssystems ist die gesetzliche Krankenversicherung (GKV). Der Staat reguliert viele Bereiche nicht im Detail, sondern beschränkt sich oftmals auf Rahmenregelungen und delegiert die Kompetenz zur konkretisierenden Ausgestaltung dieses Rahmens an die Verbände der Krankenkassen und an die Verbände von Leistungserbringern. Diese füllen den staatlichen vorgegebenen Rahmen zumeist durch Kollektivverhandlungen und Kollektivverträge aus. Sie werden dabei stellvertretend für ihre Mitglieder tätig und schließen Verträge über Art, Umfang, Kosten und Qualität von Leistungen ab, die ihre Mitglieder binden. Krankenkassen und Kollektivverträge sind also – trotz mancher Veränderungstendenzen – von grundlegender Bedeutung für die Funktionsweise des deutschen Gesundheitswesens.

Wiederholt ist in den vergangenen Jahren aber die Frage aufgeworfen worden, ob dies mit den Grundprinzipien des europäischen Wirtschafts- und Wettbewerbsrechts vereinbar ist. Das europäische Recht sieht neben den "vier Freiheiten" eine Reihe anderer Bestimmungen vor, die für die Gestaltung des deutschen Gesundheitswesens bedeutsam sein könnten. So beinhaltet es unter anderem das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen (Art. 81 EGV) sowie das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 82 EGV). Diese Wettbewerbsregeln gelten auch für öffentliche Unternehmen (Art. 86 EGV) (siehe auch Anhang 1).

Auch das deutsche Wirtschafts- und Wettbewerbsrecht kennt ähnliche Bestimmungen. Der deutsche Gesetzgeber selbst hat die Krankenkassen vom Geltungsbereich des deutschen Kartellrechts ausgenommen (§ 69 SGB V).

Folgende Fragen sind damit aufgeworfen:

  • Sind Krankenkassen beziehungsweise ihre Verbände (und ihre Pendants bei den Leistungserbringern, zum Beispiel den Kassenärztlichen Vereinigungen) marktbeherrschende Unternehmen beziehungsweise Kartelle?

  • Handelt es sich also bei Verträgen zwischen diesen um wettbewerbswidrige Absprachen und um den Missbrauch von Marktmacht?

  • Sind Krankenkassen, wenn man sie schon nicht als Unternehmen bezeichnet, nicht wenigstens als öffentliche Unternehmen anzusehen, die sich bei der Ausschreibung von Aufträgen nach dem deutschen und europäischen Vergaberecht und nicht nach dem Krankenversicherungsrecht zu richten haben?

Eine Bejahung dieser Fragen hätte vermutlich weitreichende Folgen für die Stellung der Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung und für die Kernelemente des gesundheitspolitischen Regulierungssystems in Deutschland (Ebsen 2000; Bieback 2002).

Bei der Frage nach der Anwendung des europäischen Wettbewerbsrechts auf Krankenkassen und die gesetzliche Krankenversicherung ist vor allem klärungsbedürftig, ob die Krankenkassen als Unternehmen anzusehen sind, denn nur dann würden sie unter die Bestimmungen des europäischen Wettbewerbsrechts fallen. Würde der EuGH zum Beispiel Krankenkassen(verbände) als Unternehmen klassifizieren, könnte er auch die Kollektivverträge in der Krankenversicherung für vertragswidrig erklären.

Bereits in den frühen 1990er-Jahren hatte der EuGH den Unternehmensbegriff des europäischen Rechts präzisiert. Er legte dabei einen "funktionalen Unternehmensbegriff" zugrunde. Demzufolge ist für den Charakter einer bestimmten Organisation nicht ihre Rechtsform oder die Art der Finanzierung maßgeblich, sondern nur die Funktion, die sie wahrnimmt. Auch öffentliche Einrichtungen können demnach Unternehmen sein, nämlich wenn sie eine Tätigkeit ausüben, die auch Private durchführen können – was bei einer Krankenversicherung offenkundig der Fall ist. Damit hat sich der EuGH grundsätzlich für eine sehr weite Fassung des Unternehmensbegriffs entschieden.

Allerdings hat der EuGH in seinen bisherigen Urteilen eine Unternehmenseigenschaft der Krankenkassen verneint. Ein Unternehmen, so der EuGH, sei jede Einheit, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Eine wirtschaftliche Tätigkeit sei jede Tätigkeit, bei der einer Leistung eine Gegenleistung gegenübersteht. Organisationen fallen demzufolge dann nicht unter den Unternehmensbegriff, wenn sie keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Eine nicht ökonomische Aktivität wiederum liegt dann vor, wenn die Tätigkeit sozialen Charakters ist. Der soziale Charakter einer Tätigkeit wird unter anderem dadurch begründet, dass die betreffende Einheit:

  • eine soziale Aufgabe wahrnimmt, die nach dem Grundsatz der Solidarität erfüllt wird, das heißt,

  • die Leistungen für alle Empfängerinnen und Empfänger gleich sind;

  • die Höhe der Beiträge vom Einkommen abhängt;

  • ein Umverteilungseffekt vorhanden ist, der einen Schutz für finanziell und gesundheitlich benachteiligte Personen darstellt;

  • keinen Gewinnzweck verfolgt;

  • auf einer gesetzlich definierten Grundlage agiert und durch den Staat kontrolliert wird.

Mit dieser Argumentation hat der EuGH den Unternehmenscharakter der Krankenkassen bisher verneint, zuletzt in einem 2004 ergangenen Urteil (Europäischer Gerichtshof 2004). In diesem Fall hatten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie gegen die Festsetzung von Festbeträgen durch die Krankenkassen geklagt (siehe Modul Arzneimittelversorgung). Die Krankenkassen, so die Entscheidung des EuGH, nähmen eine ausschließlich soziale Aufgabe wahr, und daher sei das europäische Wettbewerbsrecht auf sie nicht anwendbar. Auch die angefochtene Festsetzung der Arzneimittelfestbeträge erfolge in Wahrnehmung ihrer sozialen Aufgabe.

Allerdings befindet sich das deutsche Gesundheitswesen in einem tief greifenden Wandel, der ordnungspolitische Risiken für eine dauerhafte Geltung dieser Rechtsprechung birgt. Zwei Entwicklungstendenzen sind hier von besonderer Bedeutung:

  1. Es vollzieht sich eine fortschreitende Privatisierung der Krankheitskosten. Sie kommt zum Ausdruck in diversen Leistungsausgliederungen aus der Erstattungspflicht der Krankenkassen, in der Einführung neuer und der Anhebung bestehender Zuzahlungen, in einer Abkehr von der paritätischen Aufbringung der GKV-Beiträge sowie in einer Differenzierung der Beitragshöhe in Abhängigkeit vom individuellen Krankheitsrisiko ("Wahlmodelle" mit Selbstbehalt und Beitragsrückerstattung).

  2. Es werden verstärkt Wettbewerbsmechanismen in das System der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt. Kassen werden als Wirtschaftssubjekte konzipiert, die auf einem – wenn auch staatlich regulierten – Versicherungs- und Leistungsmarkt konkurrieren, also als Anbieter von Versicherungsleistungen und als Verkäufer von Krankenversorgungsleistungen tätig werden und sich dabei vor allem von finanziellen Anreizen leiten lassen. Zudem haben sie in der Vergangenheit ihre gewachsenen Handlungsfreiheiten weniger zur Verbesserung von Versorgungsformen als zu Selektion guter Risiken genutzt und insofern auch den Zielen einer solidarischen Krankenversicherung zuwidergehandelt.

Setzen sich diese Entwicklungstrends weiter fort, so wächst damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Krankenkassen unter europarechtlichen Gesichtspunkten ihren sozialen Charakter verlieren und damit als Unternehmen im Sinne des europäischen Binnenmarktrechts eingestuft werden. Denn dann wären genau jene Eigenschaften, aus denen sich dem EuGH zufolge der nicht wirtschaftliche Charakter einer Organisation ergibt, nicht mehr anzutreffen.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtsauffassung des EuGH keineswegs unumstritten ist. So hat der europäische Generalanwalt, an dessen Votum sich der EuGH üblicherweise orientiert, in seinem Schlussantrag während des betreffenden Verfahrens das Handeln der Krankenkassen als eine wirtschaftliche Tätigkeit interpretiert. Denn die Aufgaben der Krankenkassen könnten auch von privaten Krankenversicherungen wahrgenommen werden, und es gebe zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Privatversicherungen auch ein gewisses Maß an Wettbewerb. Daher sei in diesem Fall das Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft anzuwenden.

Je stärker also die Privatisierung in der GKV vorangetrieben wird, desto mehr wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die europäische Rechtsprechung den sozialen Charakter der gesetzlichen Krankenkassen verneint, sie als Unternehmen im Sinne des EU-Wettbewerbsrechts klassifiziert und auch das Kollektivvertragssystem mit dem europäischen Recht für unvereinbar erklärt. Da die Gestaltung der Gesundheitssysteme in die Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten fällt, bliebe in diesem Fall zwar immer noch die Option, kollektivvertragliche durch staatliche Regelungen zu ersetzen. Allerdings wäre eine solche Entwicklung angesichts der obwaltenden Policy-Trends nicht eben wahrscheinlich.

Darüber hinaus sind derzeit weitere Klagen vor dem EuGH anhängig, die mit wettbewerbsrechtlichen Argumenten bisherige Praktiken im deutschen Gesundheitswesen anfechten:

  • Der private Klinikbetreiber Asklepios Kliniken GmbH beanstandete die Defizitdeckung öffentlicher Krankenhäuser durch öffentliche Träger (vor allem Kommunen und Landkreise, aber auch Länder). Diese Praxis sei unvereinbar mit dem europäischen Beihilferecht (Art. 87 EGV) und stelle eine Wettbewerbsverzerrung dar.

  • Die Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland auf den Weg gebracht, denn sie sieht im Abschluss von Rabattverträgen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern einen Verstoß gegen das europäische Vergaberecht.

Die Vergabe öffentlicher Aufträge im Gesundheitswesen

Das europäische Vergaberecht umfasst Regeln und Vorschriften, die öffentliche Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen zu beachten haben. Es soll die Vergabepraxis vereinheitlichen und die Diskriminierung bestimmter Bieter verhindern (zum Beispiel solcher Bieter, die aus dem Ausland kommen oder sich in privater oder öffentlicher Trägerschaft befinden). Das europäische Vergaberecht beruht auf dem Primärrecht der EU ("vier Freiheiten") sowie dem auf dieser Grundlage erlassenen Sekundärrecht (Vergaberichtlinien, Verordnungen). Das Vergaberecht definiert auch einen Schwellenwert für die Auftragshöhe, ab dem das Vergaberecht gilt. Dieser Schwellenwert muss alle zwei Jahre angepasst werden. Unbestritten ist, dass Krankenkassen öffentliche Auftraggeber sind und sie ihre Aufträge daher grundsätzlich ausschreiben müssen. Unklar blieb indes, ob auch die Vergabe von Rettungsdiensten durch die öffentliche Hand unter diese Ausschreibungspflicht fallen.

Die Vergabepraxis bei Rettungsdiensten orientierte sich in Deutschland an gewachsenen Strukturen. Anbieter sind freigemeinnützige Hilfsorganisationen (zum Beispiel das Deutsche Rote Kreuz), Kommunen oder private Unternehmen. Gängige Praxis bei der Vergabe war es, bewährte Anbieter (häufig: Hilfsorganisationen) zu bevorzugen und unbefristete Verträge zu vergeben, sodass sich de facto Monopolstrukturen herausbildeten. Die Europäische Kommission 2008 reichte beim EuGH Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, weil die Vergabe rettungsdienstlicher Aufträge intransparent sei und den Rettungsdienstsektor vom Wettbewerb abschotte. Sie verfolgte damit das Ziel, auch in diesem Bereich den Wettbewerb im Binnenmarkt herzustellen und in diesem Zusammenhang auch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit ausländischer Rettungsdienste durchzusetzen. Im Zentrum des Konflikts steht das Submissionsmodell, also die Vergabe von Rettungsdiensten durch die öffentliche Hand an Dritte.

Gemäß dem 2010 ergangenen EuGH-Urteil handelt es sich bei der Durchführung derartiger Rettungsdienste nicht um eine Ausübung öffentlicher Gewalt. Vielmehr seien Rettungsdienste im Submissionsmodell Verwaltungshelfer und damit Unternehmen im Sinne des EU-Rechts. Somit liege eine öffentliche Auftragsvergabe vor, und es existiere eine Ausschreibungspflicht. Rettungsdienste sind ab einem Schwellenwert von 206.000 Euro (2010) europaweit auszuschreiben. Weil Rettungsdienste keine hoheitlichen Aufgaben übernähmen, sei auch eine Bereichsausnahme von den europäischen Wettbewerbsregeln nicht möglich. Allerdings sei eine Beschränkung der Ausschreibung auf eine begrenzte Zahl von Anbietern zulässig, weil bei Rettungsdiensten medizinische gegenüber Transportdiensten überwiegten und es sich damit um spezialisierte Dienste handele. Auch könnten "vergabefremde" Kriterien (zum Beispiel soziale oder umweltbezogene Anforderungen) bei der Ausschreibung berücksichtigt werden.

Quellen / Literatur

Bieback, Karl-Jürgen (2002): Der rechtliche Rahmen einer gesetzlichen Reform der GKV. In: Paetow, Holger/Fiedler, Manfred/Leonhardt, Marion (Hrsg.): Therapien für ein krankes Gesundheitswesen. Orientierungspunkte für Versicherte, PatientInnen und Beschäftigte. Hamburg, S. 118 - 134

Bormann, Ulrike/Petersen, Ulrich (2002): Entscheidungen aus dem Europa- und Verfassungsrecht. In: Die Angestelltenversicherung, 49. Jg., H. 5/6, S. 194 - 205

Busse, Reinhard/Wismar, Matthias/Berman, Philip C. (Hrsg.) (2002): The European Union and Health Services. The Impact of the Single European Market on Member States. Amsterdam

Ebsen, Ingwer (2000): Öffentlich-rechtliches Handeln von Krankenkassen als Gegenstand des Wettbewerbsrechts? Probleme materialrechtlicher und kompetenzrechtlicher Koordinierung. In: Zeitschrift für Sozialreform, 46. Jg., H. 4, S. 298 - 314

Europäischer Gerichtshof (2004): Urteil des Gerichtshofes vom 16. März 2004 "Wettbewerb – Unternehmen – Krankenkassen – Kartelle – Auslegung der Artikel 81 EG, 82 EG und 86 EG – Entscheidungen von Zusammenschlüssen von Krankenkassen, mit denen Höchstbeträge für die Kostenübernahme für Arzneimittel festgesetzt werden" in den verbundenen Rechtssachen C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/0. Brüssel
http://curia.eu.int

Jacobs, Klaus/Wasem, Jürgen (2003): Weiterentwicklung einer leistungsfähigen und solidarischen Krankenversicherung unter den Rahmenbedingungen der europäischen Integration. Düsseldorf

McKee, Martin/Mossialos, Elias/Baeten, Rita (Hrsg.) (2002): The Impact of EU Law on Health Care Systems. Brüssel

Schmucker, Rolf (2003): Europäischer Binnenmarkt und nationale Gesundheitspolitik. Zu den Auswirkungen der "vier Freiheiten" auf die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedsländer. In: Jahrbuch für Kritische Medizin, Bd. 38: Gesundheitsreformen – internationale Erfahrungen. Hamburg, S. 107 - 120

Wille, Eberhard (2003): Die gesetzliche Krankenversicherung vor dem Hintergrund von Globalisierung und europäischer Integration. In: Knödler, Hermann/Stierle, Michael H. (Hrsg.): Globale und monetäre Ökonomie. Heidelberg, S. 367 - 380

Fussnoten

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Dr. Thomas Gerlinger ist Professor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, AG 1: Gesundheitssysteme, Gesundheitspolitik und Gesundheitssoziologie.