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Verantwortung in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft | Kirche in Deutschland | bpb.de

Kirche in Deutschland Editorial Kirche und ich: Sechs Standpunkte Verantwortung in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft Nichtreligiösität als Normalfall Berufen um der Menschen willen Kein "weißer Jesus"! Gemeinde als einladender, sicherer Raum Zwiegespalten Kirchen in Deutschland. Ein historischer Abriss Pluralisierung – Säkularisierung – Europäisierung. Dynamiken im Verhältnis von Staat und Kirche Für Schuld und Versagen Verantwortung übernehmen. Sexueller Kindesmissbrauch in der evangelischen und katholischen Kirche Gehorsam und Gewissen. Eine erste Bilanz des Synodalen Wegs Die Finanzierung der Kirchen in Deutschland. Gegenstand und Faktor kirchlicher Freiheit Sakralraumtransformation. Überlegungen zur Umnutzung von Kirchenbauten

Verantwortung in einer vielfältiger werdenden Gesellschaft

Murat Kayman

/ 5 Minuten zu lesen

Mit Kirche kann man sich identifizieren, ohne Christ zu sein. Sie bietet Raum für Dialog und bereichert den eigenen Glauben.

Zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen gehören unsere Urlaubsfahrten in die Türkei. Die mehrtägige Autofahrt von Lübeck nach Istanbul war das alljährliche Abenteuer, das meine Eltern – getrieben durch Heimweh und Sehnsucht nach ihren Familien – auf sich nahmen. Die Rückfahrten erlebe ich selbst in meinen heutigen Erinnerungen als eine geraffte Zeit, die sich auf ein einziges Bild konzentriert: Auf der A 1 kurz vor Lübeck gibt es einen Moment, eigentlich nur einen Augenblick, den man verpasst, wenn man sich nicht ganz bewusst auf ihn freut. Die Fahrbahn führt dort über einen Hügel und in eine leichte, langgezogene Kurve. Und dann sieht man plötzlich die Stadtsilhouette Lübecks mit ihren "Sieben Türmen" am Horizont. Diese Kirchen waren für mich das Bild meiner Heimat. Die Gewissheit, wieder zu Hause angekommen zu sein.

Ich bin der Sohn türkischer Eltern. Ich bin als Muslim aufgewachsen, und bis heute ist mein muslimischer Glaube der zentrale Pfeiler meiner Persönlichkeit. Und doch wäre ich ein anderer Mensch, ein ärmerer, ein unvollständigerer Muslim, wenn es nicht diese Lübecker Kirchen in meinem Leben gegeben hätte. Ich bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie sich nicht durch identitäre Ängste davon haben abhalten lassen, mir eine intensive Verbindung mit diesen Orten zu ermöglichen.

Als kleiner Junge stand ich mit schwarzer Hose, weißem Hemd und roter Fliege im Dom zu Lübeck und war bis zu meinem Stimmbruch Teil des jährlichen Weihnachtskonzertes. Der hell erleuchtete Innenraum des Doms, die vollen Kirchenbänke, die überwältigende Orgelmusik – und in all dieser Pracht ich, ein kleiner Muslim, der "Es ist ein Ros entsprungen" und "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, es kommt der Herr der Herrlichkeit" mitsang. Herrlich. So empfand ich diese Momente im Lübecker Dom. Ich begann zu ahnen, wie ein gemeindliches Hochfest aussieht, was Tradition bedeuten und welche Kraft ein Gotteshaus ausstrahlen kann.

Durch meine ganze Jugend hinweg habe ich die Lübecker Kirchen als Orte der Einladung und der Entdeckung wahrgenommen. Sie waren für mich Lernorte, die mich mit der Geschichte meiner Stadt und meines Landes verbunden haben. Der vollständig vernichtete Innenraum von St. Petri und die herabgestürzten, zerbrochenen Glocken am Boden des Südturmes von St. Marien waren für mich einprägsame Anlässe, mich mit dem Zweiten Weltkrieg zu beschäftigen. In der Herz-Jesu-Kirche habe ich die Lübecker Märtyrer Johannes Prassek, Eduard Müller, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink kennengelernt. Sie haben mich gelehrt, was individuelle Verantwortung bedeutet und dass institutionelles Versagen keine Entschuldigung sein kann.

In der muslimischen Tradition heimisch, die auf Bilder und konkrete Vorstellungen des Göttlichen verzichtet, war die Symbolik in diesen Kirchen für mich die Begegnung mit einer Glaubenstradition, die meinen Glaubensvorstellungen ausdrücklich entgegensteht. Die Konfrontation mit dieser christlichen Symbolik hat meine Glaubensvorstellungen indes komplexer werden lassen. Als Muslim bin ich davon überzeugt, dass Gott schön ist und die Schönheit liebt. Aber das Leben ist nicht ausschließlich schön. Es konfrontiert jeden von uns auch mit Schmerz, Leid, Verlust und Tod. Als Muslim kann ich nicht daran glauben, dass Jesus gekreuzigt wurde und auferstanden ist. Dennoch erinnert mich sein Anblick am Kreuz, dem ich in jeder Kirche begegne, an diese Realität unseres Lebens. Die unterschiedlichen Varianten der Kreuzdarstellungen, die vielen differenzierten Gesichtsausdrücke der Jesusfiguren waren für mich Hilfestellungen, die komplexe Natur unseres menschlichen Bezugs zu Gott besser zu verstehen. Der schmerzverzerrte, leidende Blick gehört ebenso dazu wie das im Augenblick des Leidens hoffnungsvoll ruhende, auf Gott vertrauende Gesicht.

Ich kann den Kern der christlichen Glaubensvorstellung im Hinblick auf die Natur Jesu nicht mitglauben. Aber ich kann die menschliche Herausforderung des Glaubens, die in dieser Christologie enthalten ist, nachempfinden. Und sie verleiht meinem muslimischen Glauben eine Tiefe und einen Reichtum, die ich ohne diese Erfahrung, die ich in Kirchenräumen gemacht habe, nicht spüren könnte. Diese Erfahrung macht sie zu meinen eigenen Räumen. Es sind nicht mehr nur fremde Kirchen. Es sind meine Kirchen.

Diese Offenheit für eine Gotteserfahrung, die über den Rahmen des eigenen konfessionellen Glaubens – mit eben seinen ganz eigenen Dogmen und Selbstbeschränkungen – hinausgeht, habe ich in meinen Kirchen gelernt. Der Mönch Willigis Jäger hat dafür ein schönes gedankliches Bild gefunden, an das ich jedes Mal denken muss, wenn ich etwa in meiner Lübecker St. Marien-Kirche stehe und das Fenster mit dem "Totentanz" betrachte. Und nun, im zehnten Jahr in meiner neuen Heimat in Köln, erlebe ich diesen Moment jedes Mal, wenn ich im Kölner Dom vor dem Richter-Fenster stehe: "Alle Religionen", so Jäger, "sind Wege zur Erfahrung des Göttlichen, aber keine von ihnen kann behaupten, den einzigen Zugang zu ihm zu besitzen. Ich verdeutliche auch das gerne mit einem Bild: Religionen sind wie schöne bunte Kirchenfenster. Sie geben dem Licht, das durch sie hindurchscheint, eine bestimmte Struktur. Scheint kein Licht, sind sie dumpf und nichtssagend. Deshalb ist das Licht das eigentlich Entscheidende. Das Licht aber können wir mit unseren Augen nicht sehen. Licht macht sichtbar, ist selbst aber unsichtbar. Sichtbar wird es nur, wenn es in Farben zerlegt und strukturiert wird. Ebenso verhält es sich mit den Religionen im Blick auf das Göttliche. Sie verleihen dem Unfassbaren eine fassbare Struktur. Den Preis, den die Religionen dafür zu entrichten haben, ist die Reduktion des Göttlichen auf einen Ausschnitt seines Spektrums. Diesen Ausschnitt für das Ganze zu halten, wäre töricht. Ebenso töricht, wie zu glauben, das Glasfenster hätte eine eigene Leuchtkraft unabhängig von dem Licht, das es erhellt. Umgekehrt muss man aber auch sehen, dass sich das Licht in sein Spektrum brechen muss, wenn es nicht nur scheinen, sondern auch erscheinen will. Gott erscheint in den Religionen. Aber er ist in ihnen nie in der ganzen Fülle seines Lichts erfahrbar, wenn sie nicht offen sind für die Erfahrung."

Meine Kirchen haben mich diese Offenheit für die Erfahrung der eigenen Unvollständigkeit und für die Wahrnehmung der vielen Ausschnitte des Göttlichen gelehrt. Diese Offenheit muss zukünftig in jede gesellschaftliche Richtung möglich werden.

Um ein solches offenes gesellschaftliches Miteinander vorzudenken und vorzuleben, arbeitet die muslimische Alhambra Gesellschaft e.V., die ich 2017 mitgründen durfte, aktuell mit der Evangelischen Akademie der Pfalz zusammen, um die Idee einer gemeinsamen "Akademie der Religionen" zu realisieren. Dabei geht es um die Frage, wie wir unsere unterschiedlichen religiösen Überzeugungen verbinden und gerade durch diese Verbindung für das Wohl unserer gesamten Gesellschaft wirksam werden lassen.

Religion – gerade in unterschiedlicher konfessioneller Prägung – kann dadurch eine neue wichtige Bedeutung erlangen. Nicht mehr nur als Fundament einer exklusiven und damit auch immer exkludierenden Identität, sondern als Stützpfeiler eines zusammenführenden, eines verbindenden Gemeinschaftssinns, der über die Grenzen der verschiedenen konfessionellen Gemeinschaften hinaus den Rahmen einer ganz eigenen interkulturellen Beziehung definiert: den einer Gemeinschaft aller Mitgeschöpfe, verbunden in dem Wirken für das Wohl aller in unserer Gesellschaft. Dabei tragen unsere Kirchen mit ihren Traditionen und der Fülle ihrer spirituellen Bedeutung eine große Verantwortung für das Gelingen einer zunehmend vielfältiger werdenden Gesellschaft.

ist Jurist und war unter anderem im muslimischen Verband DİTİB tätig, wo er nach der Aufdeckung der Spitzeltätigkeit von Imamen in Deutschland 2017 von seinen Ämtern zurücktrat. Er ist Mitbegründer der Alhambra Gesellschaft e.V. und Co-Host des Podcasts "Dauernörgler". Aktuell ist er Projektleiter und Gastgeber des Online-Formats "Das unbequeme Gespräch".
E-Mail Link: rakayman@gmail.com