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Nur Ewigkeit ist kein Exil. Else Lasker-Schüler, Max Herrmann-Neiße und die Ukraine - Essay | Exil | bpb.de

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Nur Ewigkeit ist kein Exil. Else Lasker-Schüler, Max Herrmann-Neiße und die Ukraine - Essay

Matthias Buth

/ 17 Minuten zu lesen

Nein, es gibt sie immer noch nicht, noch nicht den Namen, der beschirmt und Horizont gibt. Beton blickt in die Stadt an der Wupper, hinunter nach Elberfeld. Dorthin, wo Else Lasker-Schüler, der "schwarze Schwan Israels" – wie ihr Freund Peter Hille schrieb – am 11. Februar 1869 geboren wurde. Sie war das sechste Kind des Privatbankiers Aron Schüler.

Aber es gibt sie nicht in der "Wupperheimat" der Dichterin, die als Verscheuchte und Verbannte im fernen Palästina, im Jerusalem ihres "Hebräerlandes", am 22. Januar 1945 starb, allein, verlassen, eingebettet in ihre Gedichte und versteckt in ihren poetischen Fluchten. Sie sah und fand in der deutschen Sprache die mitziehende Heimat und erfand sich in dieser talmudischen Vorstellung des unverlierbaren Ichs – im Wort – ihre Welt. Ein Sprachidealismus, der retten kann. Er verbindet deutsches und jüdisches Denken.

Und doch blickt auf das Tal der Wupper, auf das Elberfeld der Gegenwart, nicht die Else Lasker-Schüler Universität. Die Düsseldorfer haben Heinrich Heine, auch er ein aus Deutschland Vertriebener und im Exil begraben, zum Patron ihrer Universität gemacht. Die Wuppertaler schaffen es nicht, versuchen es erst gar nicht. Die Stadt lässt sich von China ein Friedrich Engels-Denkmal vors Engels-Haus stellen, bekennt sich aber nicht zu ihrer Dichterin oder doch nur am Rande. Die Bergische Universität beherbergt die Else Lasker-Schüler Arbeitsstelle, und es gibt das Else-Lasker-Schüler Archiv in der Stadtbibliothek. Diese dankenswerten Befassungen mit dem Werk der großen Tochter der Stadt prägen jedoch nicht das Bewusstsein Wuppertals, geliebt wird sie nicht. Vor 25 Jahren initiierte der WDR-Journalist Hajo Jahn die Gründung der Gesellschaft unter dem Namen der Dichterin. Sie hat eine Geschäftsstelle in der Elberfelder Herzogstraße, ist aber nur minimal von der Stadt gefördert. 1997 teilte sich die Else Lasker-Schüler-Gesellschaft gar, als die Wahrnehmung der DDR als Unrechtsstaat die Gemüter erhitzte. Und nun entsteht 2015 unter der Leitung von Rolf Jessewitsch das Zentrum der verfolgten Künste mit kommunalen Mitteln des Landschaftsverbandes Rheinland aus Köln – in Solingen, nicht in der Stadt Else Lasker-Schülers, nicht in der Stadt der Barmer Erklärung, nicht in der Heimat von Bernhard Letterhaus, der als Zentrumspolitiker verfolgt und in Plötzensee gehenkt wurde, nicht im Elberfeld von Armin T. Wegner, der Hitler am 11. April 1933 einen offenen Brief gegen die Judenverfolgung schrieb. Wuppertal verschweigt sich. Die zärtlich bedichtete Stadt, das Tal der Verzweifelten und Verse, will sich nicht erkennbar mit der Lyrik der Sammlungen "Mein blaues Klavier" und "Hebräische Balladen" oder den Schauspielen "Die Wupper" und "Ichundich" verbinden, der Bergischen Universität nicht den Namen Else Lasker-Schülers geben und sich von den Höhen Elberfelds nicht vom schwarzen Schwan Israels grüßen lassen.

Warum nur? Will Wuppertal im poetischen Nirgendwo bleiben, verhaftet im "bergischen Pepita" oder im "Muckertal", das Friedrich Engels hier erkannte? Wuppertal könnte doch das bergische Jerusalem sein, eine Stadt, die sich einfangen ließe von weltumarmenden Versen ihrer größten Tochter:

    Ich will das Grenzenlose
    Zu mir zurück,
    Schon blüht die Herbstzeitlose
    Meiner Seele,
    Vielleicht – ist’s schon zu spät zurück!
    O, ich sterbe unter Euch!
    Da ihr mich erstickt mit Euch,
    Fäden möchte ich um mich ziehn –
    Wirrwarr endend
    Beirrend,
    Euch verwirrend,
    Um zu entfliehen
    Meinwärts!

Meinwärts, ein Schlüsselwort Else Lasker-Schülers. Mit all ihren literarischen Texten will sie Halt finden im Ich. Nie gelang es ihr gänzlich. Geradezu flehentlich sieht sie in der Sprache den Fluchtraum, das Eiland, das rettet auf Zeit. Nirgendwo fühlte sie sich zu Hause. Deshalb warf sie sich poetische Kostüme über und erschuf sich morgenländische Welten der Poesie. Sie gab sich Namen wie "Der blaue Jaguar" und "Prinz Jussuf von Theben". Nur so konnte sie das Dasein ertragen. Ihre poetischen Selbstinszenierungen wurzeln in der Romantik. Sie nahmen die Sprachkonzeption auf, die nahe bei Heinrich Heine liegt, der sich seinerseits an August Wilhelm Schlegel, den er als "hohen Meister" und "größten Metriker Deutschlands" verehrte, anlehnte. Der Düsseldorfer meinte 1820 im Essay "Die Romantik", die Sprache sei "das Beste was wir Deutschen besitzen", nämlich "das Vaterland selbst". Das war für Else Lasker-Schüler nicht anders. Gedichte begründen ihr ein mitziehendes Vater- und Mutterland: Die Fliehende will so ihrem Unbehaustsein, ihrer Lebensangst und ihrer Ich-Sehnsucht begegnen oder ihr doch Fassung geben. Und so ist sie ständig nach "Meinwärts" unterwegs, im Herbstzeitlosen der Seele.

Den Lebensgrund ihrer Dichtexistenz erfasst sie in dem programmatischen Satz "Nur Ewigkeit ist kein Exil". Dieses war jedoch nicht nur Ausdruck von poetischem Verlorensein, sondern brutale Realität in Deutschland seit dem Unglücksjahr 1933. Denn die Ausbürgerung aus der Sprache geschah im Alltag des Wegsehens, der Ausgrenzung im Recht und in der Nachbarschaft. Gleichschaltung: ein Verbrecherwort, das tötete. An die öffentlichen Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 wird heute stets am 10. Mai erinnert. Aber in Wuppertal wurde schon früher verbrannt. Die aus Wuppertal stammenden Literaten Walter Bloem (ein Anwalt in Barmen) und Will Vesper (Herausgeber der Zeitschrift "Die Neue Literatur") machten schon im März 1933 mobil, erstellten schwarze Listen nach NSDAP-Muster, auf denen Namen wie Paul Zech – der eine Zeit lang in Wuppertal lebte –, Wegner, Erich Maria Remarque, Lion Feuchtwanger, Erich Kästner, Heinrich und Klaus Mann, Kurt Tucholsky und natürlich auch Else Lasker-Schüler standen. Diese waren nunmehr "undeutsch". Zuerst traf es die Bibliotheken – die "Hauptbücherei" und die "öffentlichen Volksbüchereien" –, dann wurde verbrannt. Am 1. April 1933 in Barmen, auf dem Rathausvorplatz. Schon am 26. März brannten auf dem Schillerplatz in Kaiserslautern die Bücher. Stets war die SA zur Stelle und überwachte die Massenveranstaltungen. Die sogenannten Feuersprüche wie "Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewusste Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus" waren aus dem Wörterbuch des Unmenschen. In Wuppertal hatten die "Höheren Lehranstalten", wie der Generalanzeiger am 4. April 1933 berichtete, die Sternmärsche zu den Scheiterhaufen der Bücher in Elberfeld und Barmen organisiert. Die Lehrer der Gymnasien ließen die Schülerschaft geloben, sich "im Angesicht des Feuers" "in den Dienst des neuen Deutschlands zu stellen".

Das war nicht das Deutschland der Dichter und Denker, nicht das der "Dichterliebe" von Schumann und Heine, es war das Land, das aus dem Leben vertrieb. In den Tod. Als besonders wandlungsfähig erwies sich der bedeutende Dichter Gottfried Benn. 1932 bekam Else Lasker-Schüler den Kleist-Preis für – wie die Jury schrieb – Verse von "überzeitlichem Wert" und den "ewiggültigen Schöpfungen unseren größten deutschen Meister ebenbürtig", und Benn jubelte ihr telegrafisch zu mit den Worten: "der kleist preis so oft geschändet sowohl durch die verleiher wie durch die prämierten wurde wieder geadelt durch die verleihung an sie ein glückwunsch der deutschen dichtung gottfried benn". Ein Jahr später dann ergriff Benn Partei für das völkische Deutschland und attackierte die Kollegen, die sich im Ausland in Sicherheit brachten. Mit Hanns Johst betrieb er die Union nationaler Schriftsteller, die das deutsche PEN-Zentrum ablöste. Schauerlich seine Akademie-Rede vom 29. April 1933, in der er das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler zu Protokoll gab. 1952 pries er dann wieder die Dichterfreundin Lasker-Schüler als "Deutschlands größte Dichterin". Wendehalsig.

    Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordstern brüllt
    Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich
    Und ich vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.

Das schrieb Wuppertals schwarzer Schwan im Gedicht "Die Verscheuchte". Mit fremdenpolizeilicher Weisung vom 15. November 1933 hatte die Stadt Zürich zwar Else Lasker-Schüler den Aufenthalt kurzzeitig gestattet, aber nicht die "Erwerbstätigkeit" als "Dichterin". Die "Hotelaufenthalterin", "Rubrikatin", "Gesuchstellerin" oder "Petentin" erreichte ihr Ziel in der Schweiz nicht: die Duldung. 1934 machte sie sich nach Alexandrina auf – ein griechisches Ehepaar lud sie ein – und kam von dort zum ersten Mal nach Palästina. Tel Aviv sah sie als "Goldgräberstadt: Mexico und Meer". Erst beim dritten Besuch blieb sie im Land und starb dort 1945 fern der "Wupperheimat".

Max Herrmann-Neiße und Else Lasker-Schüler sind sich – soweit bisher bekannt – nicht begegnet, nicht in Berlin, nicht in Zürich, wohin sie sich beide flüchteten. Wahrgenommen haben sie sich vielleicht als Dichter. Die Metaphern reichen Verse beider sind aber literarisch verwandt. Und beide suchten Stütze und Verweilen im Gedicht. Das Verzweifeln an Deutschland, am perfiden Terror von SA und SS und ihrer Helfershelfer in Alltag und Amtsstuben erfasste beide Lyriker.

Der von George Grosz so genau porträtierte Dichter wurde im schlesischen Neiße 1886 geboren. Ein Liebender: seiner Frau Leni, eine anmutige Schönheit, die den kleinwüchsigen, wenig stattlichen Menschen wegen seiner inneren, seiner poetischen Zauberkünste bis zum seinem Tod in London 1941 treu blieb, trotz, ja vielleicht gerade wegen der menage à trois mit Alphonse Sondheimer, der dem Paar die Bleibe in London finanzierte. Verse wie

    Sei du der Luftpiloten leises Schweben
    Sei du der Stein, der von der Schleuder springt,
    Sei du geschürzter Lippen lindes Beben,
    Sei du der Stern, der durch den Himmel singt!

zeichnen klare Bilder und haben volksliednahen Ton. Solche Gedichte hätte die große Elberfelderin genau verstanden.

Wäre er nicht nach London gelangt, hätte er das Jahr 1933 wohl nicht überlebt. Und Leni auch nicht. Auch nicht Alphonse Sondheimer, der Jude war. Was an diesem Dichter so sehr ins Auge fällt, ist seine Urteilskraft. Der Widerstand gegen das NS-Regime war ihm nicht nur eine politische Aktion, dieser entsprach seinem Selbstverständnis als Lyriker, der sich nicht bevormunden, sondern seine poetische Welt verteidigen und erhalten wollte. Er wusste, wie leicht er sich den Nazis hätte andienen können, seine urschlesische Familie und seine naturnahen Verse hätten ihn rasch zu einem Dichter der Gleichschaltung machen und zum literarischen Erfolg bringen können. Das kam für ihn nicht infrage. Und totalitäre Ideologie sah er keineswegs auf Deutschland begrenzt. So sagte er dem Dichterkollegen Johannes R. Becher ab, an der kommunistischen Zeitschrift "Internationale Literatur" mitzuwirken. Er beschied Becher am 4. Mai 1938, dass er "nach bestem Wissen und Gewissen den von Ihrer Zeitschrift vertretenen politischen Glauben nicht bedingungslos zu teilen vermag. Ich muss nach meiner Art den Idealen der Freiheit, der Duldung, der Gewaltlosigkeit treu bleiben und kann mich nicht überwinden, sie um eines so guten Zweckes willen auch nur für Zeiten außer Kraft setzen zu lassen".

Wenn in Deutschland an die Schreckens- und Mörderzeit, die vor 81 Jahren begann, erinnert wird und wenn der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung von Erinnerungs- oder Gedächtnispolitik reden und am 27. Januar im alten Reichtagsgebäude der Befreiung des Vernichtungslager Auschwitz gedacht wird, fällt der Name dieses Dichters nicht. Und es wurde und wird des Exils der deutschen Autoren, Künstler und Musiker kaum so gedacht, um von einer wahrnehmbaren kulturpolitischen Willkommensgeste an die Exilanten sprechen zu können. Was sind Deutschland die Exilanten wert, seit 1945? Das breite kulturelle Interesse von demokratischen Repräsentanten und von der kulturellen Bildung wird schmerzlich vermisst von den noch Lebenden, so von Inge Deutschkron und Peter Finkelgrün, stellvertretend für die Schriftsteller des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. Das 2013 vom Bund noch hastig gegründete virtuelle Museum "Künste im Exil" in Anlehnung an die Deutsche Nationalbibliothek nimmt eine Idee der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft auf, ist aber nicht die erwärmende Aktion, die dem Verlust an Menschen und Geist und der Dimension deutscher Geschichte entspräche.

Das Exil wirkt fort. Diese Erkenntnis kann sich nur beim Hören der Musik der Verbannten und beim Lesen der Romane und Gedichte einstellen. Und das Exil ist eine gegenwärtige Lebensform für viele Autoren, die heute aus Asien, Afrika, aus der Ukraine oder Russland sehnsuchtsvoll nach Berlin blicken, nach Wuppertal, Solingen, München, Frankfurt oder Leipzig. Else Lasker-Schülers Vers hat Bestand.

Die Auflehnung gegen den NS-Staat, der Widerstand der verbannten und verbrannten Dichterinnen und Dichter war allen Deutschen möglich, auch wenn sie nicht rassistisch verfolgt und eben nicht jüdische deutsche Bürger waren, sondern Intellektuelle des Bürgertums wie Joachim Fest oder aufgeklärte Militärs wie Kurt von Hammerstein. Theodor Eschenburg, Mitglied der Motor-SS, gehörte nicht dazu – wie alle, die in SA und SS, die brutalen Terrororganisationen des NS-Regimes, eintraten und es später verheimlichten und abtaten als Jugendsünde. Günter Grass steht für viele.

Max Herrmann-Neiße war politisch klar und entschieden im Gegensatz zu beispielsweise Gerhart Hauptmann oder Gottfried Benn, die mitmachten, schwiegen beziehungsweise sich zu spät abwandten. Und er wusste, dass "Opposition nirgends beliebt ist. Dass es eine international einige Ablehnung grundsätzlicher Störenfriede gibt". Dazu gehörte er. Und er war kein Jude. Er war Humanist, so wie der Elberfelder Dichterjurist Armin T. Wegner, der 1933 Hitler unmittelbar schrieb und gegen die Judenverfolgung protestierte. Auch er war kein Jude. Mitmenschlichkeit diktierte beiden die Empörung. "Man soll der Welt zeigen, dass nicht nur jüdische Künstler, die als Juden dort verfemt werden, das toll gewordene Land verließen, nein, auch Dichter, die ihrer Abstammung nach ‚rein deutsch‘ sind und deren Dichtung zum größten Teil aus der Verbundenheit mit der deutschen Landschaft erblüht, das Nazi-Deutschland angewidert ablehnen, in der Lügen-, Mord-, Tortur-, Räuberluft des gegenwärtigen Deutschlands nicht leben wollen und können, das wirkliche wesentliche Deutschland aus den Grenzen der Nazikaserne ‚Deutschland‘ hinausgerettet haben in das Obdach einer noch freiheitlichen Fremde", schrieb Max Herrmann-Neiße am 17. Januar 1934 an Herrmann Kesten.

Es erboste ihn, sich gegen Nachstellungen des britischen Home Office wehren zu müssen (er sei "the only firm and true, no Jewish, no communistic (sic!), Antihitler-Poet of the German Emigration"). Sondheimer kam ihm zur Hilfe und verhinderte die Internierung.

Die Gründung des deutschen Exil-PEN in London im März 1934 war konsequent, auch als Reaktion auf die Gleichschaltung und Hitler-Gefolgschaftsschwüre vieler deutscher PEN-Mitglieder. Rudolf Olden wurde als Sekretär gewählt von den Autoren eines "anderen Deutschlands", nämlich von Georg Bernhard, Bernhard v. Brentano, Lion Feuchtwanger, Bruno Frank, Max Herrmann-Neiße, Emil Ludwig, Heinrich Mann, Klaus Mann, Balder Olden, Ernst Toller, Albert Malte Wagner und Arnold Zweig.

Und heute – 80 Jahre nach der Gründung des Exil-PEN – schauen wir nicht nur nach Syrien und in den Irak, sondern 75 Jahre nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 zur Krim und in den Donbass, wo wieder gestorben wird. Schon über 2000 Menschen fielen.

Die Ukraine, nach Russland das zweitgrößte Land auf der europäischen Landkarte, ist eine Flusslandschaft, durchzogen von lauter D-Flüssen, vom Dnjepr, von der Desna und der Dnister und natürlich von der Donau, die im Westen eine 54 Kilometer lange Grenze nach Rumänien bildet. Wer von Galizien in der Ukraine spricht, meint immer auch Czernowitz. Eine Stadt der Bücher und Poeten. Paul Celan und Rose Ausländer gehören dazu ebenso wie Erwin Chargaff, Alfred Kittner, Gregor von Rezzori oder Itzig Manger. Der Fluss Pruth ist ein Sehnsuchtsfluss so wie die Donau.

    Immer zurück zum Pruth
    Flöße
    (aus Holz oder Johannisbrot?)
    Pruthab
    wohin ihr Eilenden
    und wir hier allein
    mit den Steinen?

So dichtet sich Rose Ausländer zurück in die Flusspoesie ihrer Heimat.

Allein mit den Steinen? Das fragen alle, die mit Sorge und Verbitterung auf die Ukraine schauen. Manche wissen von Grodek, dem Ort der Schlacht im September 1914. Aus diesem Namen sprechen nicht nur die Toten der russischen und österreichischen Heere, zusammengehalten von Männern aus vielen Ethnien. Ihnen hat der große Dichter deutscher Sprache, der Salzburger Georg Trakl eine Stimme gegeben. Und so uns. Bis heute. Er kam nach Grodek und sollte dann als Sanitätsoffizier ganz allein 80 Verwundete retten oder beim Sterben helfen. Er konnte es nicht und zerbrach. Er hielt es nicht aus und flüchtete zu den Drogen, die ihm dann das Leben nahmen. Sein letztes Gedicht, auf einem Briefumschlag geschrieben, hieß "Grodek":

    Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
    Von tödlichen Waffen, goldenen Ebenen

So beginnt es. Klang- und Sprachbilder entstehen, die den Leser einweben in Angst, Verzweiflung und Sterben. Die Schlüsselzeile führt in die Gegenwart:

    Alle Straßen münden in schwarze Verwesung

Ist es das, was wir fürchten müssen? Schwarze Verwesung, den Krieg in und gegen Europa, die Auflösung demokratischer Humanität?

Putin ist ein Zar, ein unsicherer Mensch, der in den Strukturen des 19. Jahrhunderts zu denken scheint. Die Auflösung von Großreichen ist immer schmerzlich. Auch für ihn. Das römische Imperium ging unter, das osmanische und Habsburger Reich, das Commonwealth. Und dennoch sind diese Imperien nicht ganz verweht, sind die Spuren dieser Großreiche historisch, kulturell und siedlungsgeschichtlich erkennbar geblieben.

Ukraine! Welch weicher Name, eine weibliche Bezeichnung für einen Staat, der uns ganz nah ist, ja, täglich näher kommt.

"Grenzgebiet oder Militärgrenze" soll die Übersetzung des alt-ostslawischen Wortes Ukraina sein und bezeichnet das Grenzgebiet zum sogenannten Wilden Feld, in dem turkstämmige Reiternomaden lebten. In Chroniken des 12. Jahrhunderts wird mit dem Begriff Ukraina das "selbstständige Herrschaftsgebiet" oder "Fürstentum" bezeichnet. Für den Blick aus dem Russischen Reich, erst aus Sankt Petersburg, dann aus Moskau hinüber in diese Region Osteuropas (nur fünf Prozent lässt sich dem westeuropäischen Teil zurechnen) sind diese Begriffsunterscheidungen gleich. Denn das Wort Ukraine ist für den kirchlichen und russischen Sprachgebrauch das Synonym für "Kleinrussland". Und so sieht das auch Wladimir Putin. Nichts ist eindeutig in der Ukraine. Aber in welchem Staat auf der europäischen Landkarte ist das so? Monolithische Blöcke, weder kulturell noch ethnisch, sind die Länder der Welt nirgendwo. Von den 40,6 Millionen Ukrainern (Volkszählung 2001) sind etwa 78 Prozent Ukrainer, 17 Prozent Russen. Hinzu kommen Belarussen, Krimtataren, Polen und noch immerhin etwa 30.000 Deutsche. 2001 lebten noch rund hunderttausend Juden in der Ukraine, eine erstaunlich große Zahl. Und das, obwohl die SS-Banden systematisch gemordet hatten. Insgesamt leben über hundert weitere Nationalitäten in diesem riesigen Land, dessen Urwälder seit 2007 zum Weltnaturerbe der UNESCO gehören.

In vielen Teilen der Welt, besonders aber in Europa stellen wir einen doppelten Prozess fest: Auf der einen Seite die Globalisierung, die Vernetzung der Märkte, Meinungen und Kompetenzen, die Verfügbarkeit des Weltwissens im Internet wird immer rasanter. Die sogenannten sozialen Medien erweisen sich politisch wie wirtschaftlich als Machtfaktoren. Auf der anderen Seite führen diese Vernetzungen zu Atomisierungen, zur Zerlegung von staatlichen Strukturen und einem militanten Regionalismus, zu Eigenstaatlichkeit und Abgrenzung. Eine moderne Auffassung der Nation, des Demos, als Legitimationsquelle für jeden Rechtsstaat müsste im Mittelpunkt stehen. Wie lange hält sich unser Nachbar Belgien, wird sich der Streit zwischen Flandern und Wallonien je auflösen, wie sieht es im Baskenland aus und wie in Katalonien, in diesen beiden Regionen Spaniens, die ebenso zur Selbstständigkeit und Autonomie drängen wie die Schotten, die sich lange aus Großbritannien herauslösen wollten, aber im September 2014 scheiterten. Frankreich steht vor ähnlichen Problemen nicht nur im Hinblick auf die sogenannten überseeischen Departements, sondern auch auf Korsika, in der Bretagne oder auch in der Normandie. Das massive französische Sprachregime ist darauf angelegt, Atomisierungen und ethnische und kulturelle Emanzipationen zu unterbinden. Titos Jugoslawien ist schon zerfallen. Die Nachfolgestaaten haben es zum Teil (wie Slowenien und Kroatien) schon geschafft, den Anschluss an die Europäische Union zu finden, andere sind auf dem Wege, wie die Serben, die dorthin streben, wo die Nachbarn Bulgarien und Rumänien schon sind.

Die Ukraine ist bereits zerfallen. In wesentlichen Bereichen annektiert. Zerschossen von russischen Geschützen beiderseits der Grenzen.

Am 23. Februar 2014 wurde Olexandr Walentynowytsch Turtschynow vom ukrainischen Parlament als Übergangspräsident bestimmt, wenige Tage, nachdem zuvor die Troika aus den Außenämtern aus Paris, Warschau und Berlin mit dem immerhin gewählten Präsidenten Wiktor Janukowytsch ein Abkommen über den politischen Wandel nach den Maidan-Unruhen unterschrieben hatte. Die Krim-Russen waren aber nicht eingebunden. Natürlich war das ein Umsturz, eine Revolution oder Staatsstreich, mit flammenden Herzen und großen Opfern. Fast hundert Menschen wurden von einer Art Leibstandarte des Diktators Janukowytschs erschossen. Das war zugleich eine Düpierung des Kremlchefs, der noch ganz selbsttrunken von seinem großen PR-Erfolg der Olympischen Spiele in Sotchi war.

Und ist es nicht so, dass wir alle ein wenig gejubelt haben, nach dem Motto "dem haben wir gezeigt, was unsere europäischen Werte wert sind, diese uneigennützige Selbstbestimmung (wessen?), die Freiheit der Märkte und Meinungen"? Menschrechte wirken immer auf denjenigen imperial, der sie verweigert. Also gegen Putin. Dennoch wäre es klüger gewesen, Verständnis für ihn aufzubringen, der seinen Vasallen Janukowytsch schwer im Regen stehen sah, als plötzlich Julija Timoschenko aus dem Gefängnis entlassen wurde, sogleich auf dem Maidan vor der Welt eine flammende Rede hielt und dann auch noch zusammen mit Box-Weltmeister Vitali Klitschko nach Dublin zum Spitzentreffen der konservativen Europäischen Volkspartei eingeladen wurde. Seit Jean Jacques Delors sprechen Europäer gerne davon, dass man "Europa eine Seele geben" müsse, Tagungen zum Ersten Weltkrieg greifen das oft auf. Welch verunglückte Metapher, denn Europa hat keine Seele, nur jeder Einzelne, jeder von uns, der vorkommen will, der wahrnehmbar werden und bleiben möchte, hat eine Seele. Und sie ist ein göttliches Geschenk. Wir Deutsche, mit so vielfach zerbrochenen Seelen im Angesicht unserer Geschichte, wissen doch, wie schwer es ist, Reputation wiederzugewinnen und diese zu erhalten. Natürlich bricht Wladimir Putin, dieser wunderbare "lupenreine Demokrat" in der Lesart von Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder, das Völkerrecht. Er versuchte zwar, legalistisch zu operieren, ließ Hoheitszeichen von den Uniformen seiner Soldaten trennen, um "Selbstverteidigungsorgane" zu simulieren und wollte ja nur "seine" Landsleute retten. Die sogenannte Volksabstimmung auf der Krim zur Abtrennung von der Ukraine war eine Farce. Und nun will er offenbar – falls er sich nicht einen Landweg freiannektiert – eine Brücke bauen zwischen dem russischen Festland und der Halbinsel Krim; mit moralisch-historischem Recht, wie er meint, indem er sich von den Ukrainern das zurückholt, was mehr in einer Laune von Nikita Sergejewitsch Chruschtschow 1956 der damaligen Sowjetrepublik Ukraine geschenkt worden war. Diese "Rückholung" verletzt geltendes Völkerrecht. Putin verweist gerne auf Irak, Iran, Afghanistan und natürlich auch Kosovo, um sich vor rechtlichem Rigorismus zu schützen. Zu Recht?

Der Krimkrieg 1856 war einer der brutalsten Kriege im 19. Jahrhundert mit über einer Million Toten. Das 20. Jahrhundert mit seinen beiden Vernichtungskriegen war noch fern. Fürst Grigori Alexandrowitsch Potjomkin nahm die Krim 1783 an sich "von nun an und für alle Zeit", ihm zur Seite und die eigentlich Handelnde war eine Deutsche, die Zarin Katharina II., die Große. Eduard von Totleben verteidigte als russischer General die Festung Sewastopol im Krimkrieg. Ein anderer Deutscher, der spätere Generalfeldmarschall von Manstein, eroberte sie 1943 von den Russen als Prestigebeute für Adolf Hitler. Und heute ist die Krim wieder Beute, nun wieder der Russen. Nach der Krim geht nun auch das Donezk-Becken an die Sowjetrenaissance Putins verloren. Verloren auch für ein europäisches rechtsstaatliches und demokratisches Europa? Ob das zu verhindern gewesen wäre?

Mourir pour Ukraine? Wie 1939 das französische Aufseufzen Mourir pour Danzig?

Das fragen sich nicht nur Franzosen, sondern auch wir Deutsche. Die Polen und Litauer sind ungleich mehr besorgt. Die weißen LKW der Russen führten vor, dass auch humanitäre Hilfe imperiale Ansprüche legitimieren soll. Und russische Panzer bringen keine Gedichte. Der neue ukrainische Präsident Petro Poroschenko will nun eine Mauer zwischen seinem Land und Russland bauen. Ein neuer "Eiserner Vorhang". 1990 ist ferne Vergangenheit. Muss Europa neu definiert werden, in einem neuen Wiener Kongress? Putin, der Selbstinszenator, dem Stalin nicht fremd ist, der die EU an den Verhandlungstisch zwingt? Der Kreml-Chef will "Gespräche über die Staatlichkeit Neurusslands". Über die Krim-Annexion natürlich nicht. Wie sieht die Landkarte Europas bald aus?

Alle Straßen münden in schwarze Verwesung?

Grodek liegt uns immer noch auf der Seele. Und wieder sind Menschen auf der Flucht und wieder suchen sie das rettende Exil, da sie in Unfreiheit und Drangsal nicht leben können, sich ihr Heimatland nicht in ein "Neurussland" von Donezk bis Odessa umrubeln lassen wollen. Über eine Million Ukrainer flohen. Sie flüchten auch zu uns nach Deutschland.

Gedichte haben länger Bestand als Diktatoren. Wenn wir die Arme öffnen, entwaffnen wir. Dann kann das Deutschland der Gegenwart das Land von Else Lasker-Schüler und Max Herrmann-Neiße sein. Und das Exil kann schützen.

Dr. jur., geb. 1951; Dichterjurist, 2011 veröffentlichte er WELTUMMUNDUNG. Gedichte aus vier Jahrzehnten, und 2013 zusammen mit Günter Kunert das Lesebuch DICHTER DULDEN KEINE DIKTATOREN NEBEN SICH; Mitglied des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland; Justiziar im Bundeskanzleramt bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM); lebt in Rösrath-Hoffnungsthal. E-Mail Link: matthias.buth@gmx.net