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Herausforderung religiöse Vielfalt | Reformation | bpb.de

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Herausforderung religiöse Vielfalt

Ulrich Willems

/ 16 Minuten zu lesen

Seit den 1960er Jahren ist die religiöse Landschaft Europas pluraler und diverser geworden. Zahl und Intensität der Konflikte über den Umgang mit der gewachsenen religiösen Vielfalt haben zugenommen. In dem Beitrag werden die Gründe dafür für den deutschen Kontext diskutiert.

Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts vermehrten sich die Anzeichen dafür, dass die religiösen Traditionen und Bewegungen nach wie vor höchst lebendig sind und ungebrochen große politische und gesellschaftliche Bedeutung haben. Diese zu beobachtenden Entwicklungen lösten eine breite wissenschaftliche wie öffentliche Debatte über das Ausmaß und die Ursachen dieser wirklichen oder vermeintlichen "Rückkehr der Religion" aus. Im Zentrum stand die Frage, ob die säkularisierungstheoretische Erwartung eines grundlegenden Bedeutungsverlustes oder gar Niedergangs religiöser Traditionen in modernen Gesellschaften einer Korrektur bedürfe. Auf den Prüfstand gerieten aber auch die vorherrschenden normativen Vorstellungen von der Ausgestaltung des Verhältnisses von Religion und Politik einerseits und der Rolle religiöser Traditionen, Akteure und Positionen in der Politik andererseits.

Lange Zeit schien es so, als gingen diese Entwicklungen und Debatten an dem vom lateinischen Christentum geprägten Europa, dem weitgehend säkularisierten und religiös befriedeten Kontinent, vorüber. Doch spätestens seit der Jahrtausendwende ist auch Europa durch eine Vielzahl religionspolitischer Konflikte gekennzeichnet. Gegenstand dieser Konflikte sind etwa religiöse Bekleidungs- und Speisevorschriften (Kopftuch, Burka), religiöse Rituale (Beschneidung, Schächten), die Präsenz religiöser Traditionen in der Öffentlichkeit (Minaretthöhe, Muezzinruf) und Formen der Religionskritik (Karikaturenstreit). Die Intensität und Dynamik dieser Konflikte hat sich noch einmal verstärkt, seit sich in einer Reihe europäischer Länder rechtspopulistische Bewegungen mit einer explizit antiislamischen Agenda formiert und etabliert haben. Aber auch die hergebrachten religionspolitischen Ordnungssysteme sind zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. So wird in Deutschland etwa darüber diskutiert, ob und wie ein gleichberechtigter Zugang muslimischer Religionsgemeinschaften zum grundgesetzlich gewährten Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts oder zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen ermöglicht werden kann. Gestritten wird aber auch über Arbeitnehmerrechte und Loyalitätspflichten von Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen der Wohlfahrtspflege. Diese Entwicklungen provozieren die Frage nach den Ursachen der Politisierung religionspolitischer Fragen auch in Europa.

Veränderung der religiösen Landschaft

Es liegt zunächst nahe, diese Ursachen in den grundlegenden Veränderungen der religiösen Landschaft in Europa seit den 1960er Jahren zu suchen. Europa war auch während des Mittelalters trotz der Dominanz des lateinischen Christentums durch religiöse Vielfalt geprägt. Diese nahm zwar durch dessen konfessionelle Spaltung im Zuge der Reformation zu, blieb aber trotzdem lange Zeit begrenzt. Denn sowohl die sich herausbildenden Staaten der Frühen Neuzeit als auch die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts nutzten die christlichen Konfessionen als Instrument zur Vereinheitlichung und Identitätsbildung. In der Folge entstanden unterschiedliche Gefüge religiöser Pluralität in Europa: protestantische Mehrheitsgesellschaften in Nordeuropa und Großbritannien, katholische Mehrheitsgesellschaften im Süden und bikonfessionelle Gesellschaften mit protestantischem Übergewicht im westlichen Kontinentaleuropa. Sieht man vom Judentum ab, war die religiöse Pluralität im Wesentlichen eine innerchristliche.

Seit den 1960er Jahren haben sich diese Muster jedoch grundlegend verändert. Sowohl die Zahl der religiösen Traditionen als auch ihre Unterschiedlichkeit haben in einem historisch unbekannten Maße zugenommen. Dazu haben vier Entwicklungen beigetragen.

Erstens hat in der Bundesrepublik die (Arbeits-)Migration seit den 1960er Jahren, verstärkt durch die Effekte von Flucht und Vertreibung seit den 1990er Jahren, dazu geführt, dass der intern ausgesprochen vielgestaltige Islam neben den beiden großen christlichen Kirchen zur drittgrößten religiösen Tradition avanciert ist.

Zweitens hat durch die sich ebenfalls seit den 1960er Jahren verstärkenden Prozesse der Entkirchlichung auch die Zahl der Konfessionslosen erheblich zugenommen. Durch die Vereinigung der Bundesrepublik mit der weitgehend entchristlichten DDR ist die Gruppe der Konfessionslosen noch einmal deutlich gewachsen. Sie bilden inzwischen die größte religionspolitische Gruppe.

Drittens haben die nachlassende Prägekraft konfessioneller Traditionen und kirchlicher Autoritäten, ein wachsender religiöser Analphabetismus und die zunehmende Praxis, Elemente unterschiedlicher religiöser Traditionen miteinander zu kombinieren, dazu geführt, dass auch die religiösen Vorstellungswelten von Individuen immer vielfältiger werden. Das zeigt sich nicht nur auf dem Feld der Familien- und Sexualethik, sondern betrifft auch zentrale Dogmen und Glaubensinhalte.

Viertens haben auch die verstärkte mediale Präsenz bisher unbekannter oder neuer religiöser Angebote aus anderen Teilen der Welt, aber auch die Entstehung transnationaler religiöser Identitäten und Bewegungen die Pluralisierung der religiösen Landschaft vorangetrieben.

Die grundlegende Veränderung der religiösen Landschaft schlägt sich auch in einem Wandel der zahlenmäßigen Verhältnisse zwischen den Religionsgemeinschaften nieder: Waren in den 1950er Jahren noch über 95 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung Mitglied der beiden großen christlichen Kirchen, so hat sich bis Ende 2015 ihr Anteil auf knapp 57 Prozent reduziert. Der Anteil der Konfessionslosen lag 2010 bereits bei 30 Prozent und ist seitdem weiter gestiegen; in Ostdeutschland beträgt ihr Anteil sogar über 70 Prozent. Zum Islam bekennen sich etwa fünf Prozent. Jeweils knapp zwei Prozent der Bevölkerung zählten 2010 zu den Mitgliedern der orthodoxen Kirche und der christlichen Freikirchen. Zum Buddhismus bekannten sich 0,3 Prozent der Bevölkerung, zum Hinduismus 0,1 Prozent und ebenfalls 0,1 Prozent waren Mitglieder jüdischer Gemeinden. Hinzu kommt eine Vielzahl kleinerer Religionsgemeinschaften.

Religiöse Vielfalt als Konfliktpotenzial?

Allerdings gehen religiöse Pluralität und Diversität weder notwendig noch regelmäßig mit Konflikten einher. Denn sie müssen keineswegs als Bedrohung, sondern können auch als Bereicherung empfunden werden. Vielmehr bedarf es besonderer Bedingungen und Kontexte, die zur Wahrnehmung von religiöser Vielfalt als Problem und in der Folge zu Konflikten führen.

Religiöse Traditionen, die absolute, exklusive oder überlegene Wahrheitsansprüche reklamieren und diesen universale Geltung verschaffen wollen, können religiöse Differenz als Ausdruck eines Irrtums betrachten, der das "Seelenheil" der Gläubigen oder gar aller Menschen gefährdet. Religiöse Hierarchien wie auch Gruppen innerhalb solcher religiösen Traditionen können sich dann dazu genötigt sehen, religiöse Unterschiede innerhalb wie außerhalb der eigenen Tradition zu beseitigen, gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt. Besonders problematisch ist eine solche Konstellation, wenn es derartigen religiösen Akteuren gelingt, auf Instrumente und Akteure politischer Herrschaft zurückzugreifen. Umgekehrt kann religiöse Vielfalt auch dann zu einem Problem werden, wenn einzelne religiöse Traditionen als Mittel zur Erzeugung der Identität oder gar Homogenität politischer Gemeinwesen genutzt werden. Die religionspolitischen Konflikte der Frühen Neuzeit sind tendenziell Ausdruck der ersten Konstellation, die Konfessionalisierungspolitiken im Zuge der Staatenbildungsprozesse der Frühen Neuzeit wie die vielfach zu beobachtende starke Verknüpfung von Religion und Nation in den Prozessen der Nationalstaatsbildung des 19. Jahrhunderts Beispiele für die zweite Konstellation.

Nun haben die in Europa dominierenden Kirchen sich trotz der von ihnen zum Teil bis heute verfochtenen Absolutheit, Exklusivität oder Überlegenheit ihrer Wahrheitsansprüche in langen Lernprozessen auf religiöse Pluralität eingestellt. Im Falle der katholischen Kirche fand dieser Lernprozess erst mit der auf dem zweiten Vatikanischen Konzil am 7. Dezember 1965 verkündeten Erklärung zur Religionsfreiheit einen Abschluss. Auch die Staaten Westeuropas haben trotz ihrer unterschiedlichen religionspolitischen Ordnungen und trotz der vielfach nach wie vor sichtbaren mehrheitsreligiösen Prägungen ihrer Religionspolitik und politischen Kultur ein Grundmodell der Ordnung religiöser Vielfalt etabliert. Dieses beruht auf Gleichheit, Religionsfreiheit, einem weitgehend gleichen Abstand des Staates von religiösen Traditionen bis hin zu staatlicher Neutralität sowie der wechselseitigen Autonomie von Staat und Religionsgemeinschaften. Prinzipiell ist dieses Grundmodell religionspolitischer Ordnung mit einer unbegrenzten religiösen Pluralität vereinbar.

Konfliktursachen und -bedingungen

Die Vielzahl religionspolitischer Probleme und Konflikte bedarf anderer Erklärungen als des bloßen Verweises auf den Anstieg religiöser Pluralität und Diversität, insbesondere mit Blick auf die große Skepsis gegenüber dem Islam in Deutschland. Im Folgenden sollen exemplarisch drei Elemente einer solchen Erklärung für die derzeitige Konfliktträchtigkeit der gestiegenen religiösen Vielfalt für den deutschen Kontext präsentiert werden.

Unterschiedliche Adaptionsfähigkeiten

Unter der Bedingung des Vorrangs der Prinzipien gleicher Religionsfreiheit, staatlicher Neutralität und der wechselseitigen Autonomie von Staat und Kirche lassen sich unterschiedliche religionspolitische Ordnungssysteme einrichten: mehr oder weniger strikte Regime der Trennung sowie Systeme der Kooperation von Staat und Kirche; auch Staatskirchensysteme sind nicht völlig unvereinbar mit diesen drei Prinzipien – in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen institutionellen Ausgestaltung. Diese verschiedenen Systeme zeichnen sich durch eine unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit zum Umgang mit religiöser Pluralität und Diversität aus.

Staatskirchensysteme gewähren heute zwar durchgängig ein hohes Maß an Religionsfreiheit. Die in ihnen verankerte symbolische und materielle Bevorzugung einer religiösen Tradition richtet jedoch vielfach hohe Hürden für eine gleichberechtigte Integration minoritärer und neuer Religionsgemeinschaften auf. Entsprechend ist ihre Fähigkeit zur Anpassung an religiöse Vielfalt höchst begrenzt.

Das religionspolitische System der USA, das auf einer freundlichen Trennung von Staat und Kirche beruht, verfügt über die vergleichsweise größte Adaptionsfähigkeit. Weil dort so gut wie keine institutionellen Verbindungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften wie etwa ein Religionsunterricht an öffentlichen Schulen existieren, die jeweils spezifische Zugangsvoraussetzungen und -barrieren aufweisen, lassen sich neue oder eingewanderte religiöse Traditionen weitgehend problemlos in den Markt religiöser Anbieter integrieren.

Eine deutlich geringere Adaptionsfähigkeit an religiöse Vielfalt weist dagegen das ausgesprochen strikte, auf die Verdrängung der Religion aus dem öffentlichen Raum zielende Trennungssystem Frankreichs auf. Wie das Verbot religiöser Symbole in Schulen oder der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit zeigt, führt diese Art des Laizismus nicht nur zu Konflikten mit den Bekleidungsvorschriften religiöser Traditionen, sondern kann im Falle unterschiedlicher Betroffenheit auch die Wahrnehmung erzeugen und festigen, dass eine gleichberechtigte Integration religiöser Traditionen in die religionspolitische Ordnung verweigert wird, was wiederum Radikalisierungsprozessen den Weg ebnen kann.

Systeme der Kooperation von Staat und Kirche zeichnen sich durch vielfältige institutionelle Verbindungen zwischen Staat und Kirche sowie eine bedeutende staatliche Förderung von Religionsgemeinschaften aus. Auch sie können ein hohes Maß an religiöser Pluralität und Diversität verarbeiten. Das erfordert allerdings einen deutlich höheren Aufwand in Form wechselseitiger Anpassungsleistungen mit Blick sowohl auf die staatlichen Angebote als auch auf die neu hinzukommenden Religionsgemeinschaften.

In Deutschland zählen zu den staatlichen Angeboten etwa der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts für Religionsgemeinschaften samt dem damit verbundenen Recht, Kirchensteuern zu erheben und durch den Staat einziehen zu lassen, sowie der Vorrang freier und damit im Wesentlichen kirchlicher Träger im Feld wohlfahrtsstaatlicher Leistungserbringung. Diese Angebote sind an spezifische Zugangsvoraussetzungen geknüpft. So setzen der Religionsunterricht und der Körperschaftsstatus Religionsgemeinschaften mit klarer Mitgliedschaftsstruktur voraus. Darüber hinaus erfordert der Religionsunterricht die Existenz religiöser Autoritäten, die über die Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung von Fragen religiöser Lehre verfügen.

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Grundgesetzes stand die Erfüllbarkeit dieser Kriterien mit Blick auf den Kreis der Anspruchsberechtigten – das waren im Wesentlichen die christlichen Kirchen – außer Frage. An den Islam dachte damals noch niemand. Dabei verfügen die meisten Traditionen des Islams weder über einen klaren Mitgliedschaftsstatus noch über religiöse Autoritäten mit einer Kompetenz zur verbindlichen Entscheidung von Fragen religiöser Lehre. Nun richtet auch eine solche Konstellation keine grundsätzlichen Hürden auf, lassen sich solche Probleme doch durch einen flexiblen Umgang mit den Zugangsvoraussetzungen oder aber durch die Entwicklung alternativer Angebote lösen. Das aber erfordert entsprechenden politischen Willen.

Stiefkind Religionspolitik

Spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung ist unabweisbar, dass eine Debatte über eine Reform der religionspolitischen Ordnung erforderlich ist, um sie den Erfordernissen der vielfältiger gewordenen religiösen Landschaft anzupassen. Die Zahl der Muslime in Deutschland ist stetig gewachsen, und die Zahl der Konfessionslosen hat sich 1990 schlagartig vergrößert. Doch die großen Parteien reagierten zögerlich und unzureichend. Blickt man etwa auf die Wahlprogramme der großen Parteien zur Bundestagswahl 2013 und zu den Landtagswahlen seitdem, dann wird deutlich, dass sie keine grundlegenden Herausforderungen durch die religiöse Vielfalt erkennen. Bei der SPD führt das zu einem freundlichen Desinteresse an diesen Fragen, bei der CDU – mit wenigen Ausnahmen wie bei den Themen islamischer Religionsunterricht und islamische Fakultäten – zu einem beherzten Weiter-So. Allein die Grünen haben Ende 2013 eine Kommission zu "Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat" eingesetzt, die in ihrem 40-seitigen Abschlussbericht im März 2016 nicht nur die Grundsätze und Ziele bündnisgrüner Religionspolitik, sondern auch eine Reihe drängender politischer Herausforderungen ausführlich behandelt, wie Fragen der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften, die Regelungen zu Sonn- und Feiertagen, der sogenannte Blasphemieparagraf, das Arbeitsrecht und das Feld der kirchlichen Finanzen.

Aber auch die Frage der vom Grundgesetz geforderten gleichen Integration des Islams und der Muslime in die religionspolitische Ordnung der Bundesrepublik ist bisher nur unzureichend bearbeitet worden. So ist erst eine islamische Religionsgemeinschaft, die Ahmadiyya Muslim Jamaat, in zwei Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt. Verträge zwischen Bundesländern und muslimischen Verbänden existieren nach mehrjährigen Verhandlungen bisher in Hamburg und Bremen. Wenige Bundesländer, darunter Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, haben islamischen Religionsunterricht als schulisches Regelfach eingeführt. In einer Reihe weiterer Länder befindet er sich entweder im Erprobungsstadium oder stellt eher eine Form von Islamkunde dar. Erst 2011 wurden trotz des unabweisbaren Bedarfs auf Empfehlung des Wissenschaftsrates hin vom Bundesministerium für Bildung und Forschung an fünf Universitäten Zentren für islamische Theologie eingerichtet, um die Ausbildung von Imamen und Lehrpersonal für den islamischen Religionsunterricht zu ermöglichen. In Berlin, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sind darüber hinaus spezifische Regelungen und Vereinbarungen zum Umgang mit Feiertagen und Bestattungen, zur Gefängnisseelsorge und zum Betrieb von Friedhöfen verabschiedet worden. Schließlich haben sowohl der Bund als auch einige Bundesländer inzwischen unterschiedliche Formen eines institutionalisierten Dialogs mit islamischen Verbänden eingerichtet. Dazu zählt an vorderster Stelle die 2006 begründete Deutsche Islam Konferenz. Auf Länderebene gibt es entsprechende Initiativen, in Berlin seit 2005, in Baden-Württemberg seit 2011, in Rheinland-Pfalz seit 2012 und in Nordrhein-Westfalen seit 2013. Deutlich wird, dass von einer systematischen und flächendeckenden Religionspolitik zur Sicherung der gleichen Religionsfreiheit von Muslimen und einer gleichberechtigten Integration des Islams in die religionspolitische Ordnung bisher noch nicht die Rede sein kann.

Die Zögerlichkeit der Religionspolitik bleibt nicht ohne Effekte. Auf der einen Seite hat sie zumindest zu einer weitverbreiteten, in Deutschland besonders starken Skepsis gegenüber dem Islam und den Muslimen beigetragen. Denn sie signalisiert Zweifel daran, dass diese religiöse Tradition beziehungsweise ihre Repräsentanten den Willen zur Integration haben oder aber hinreichend kompatibel mit den Prinzipien der (religions)politischen Ordnung sind. Auf der anderen Seite nötigt diese Zögerlichkeit die Muslime, ihren Forderungen immer vehementer Gehör zu verschaffen und sie auch gerichtlich durchzusetzen. Das kann den Eindruck provozieren oder verfestigen, dass hier eine Religionsgemeinschaft versucht, ihre Anliegen kompromisslos durchzusetzen oder wie etwa beim Schächten Ausnahmen von allgemeinen Gesetzen oder Sonderrechte zu erwirken.

Strittige normative Fragen

Ein weiterer Faktor ist der Umstand, dass die gestiegene religiöse Vielfalt eine Reihe höchst strittiger normativer Fragen aufwirft, die nicht selten in Dissens und Streit münden. Die erste betrifft den Umgang mit den Spannungsfeldern der oben erwähnten Prinzipien westlicher Religionspolitik, also Gleichheit, Religionsfreiheit, staatliche Neutralität und Trennung von Staat und Kirche. Ein beispielhafter Fall ist das Tragen des Kopftuchs durch staatlich Bedienstete. Hier weisen Religionsfreiheit und staatliche Neutralität in unterschiedliche Richtungen: Je stärker man das Prinzip der Religionsfreiheit gewichtet, desto eher wird man das Tragen religiös vorgeschriebener Kleidung durch staatlich Bedienstete als zulässig erachten; umgekehrt wird man umso eher für ein Verbot plädieren, je stärker man das Prinzip staatlicher Neutralität gewichtet. Beide Prinzipien verbieten jedoch ein selektives, nur einzelne religiöse Traditionen treffendes Verbot von religiös gebotenen Kleidungsstücken.

Eine zweite Frage betrifft den Umgang mit den Prägungen der Alltags- wie der politischen Kultur durch die historisch dominierenden religiösen Traditionen. In Europa sind diese vor allem durch das Christentum erfolgt. Das zeigt etwa die Bestimmung des arbeitsfreien Wochentages sowie von Feiertagen durch den christlichen Wochen- und Festkalender. Auch das Kreuz als zentrales christliches Symbol hat auf vielfältige Weise Eingang in die Alltagskultur gefunden. In einer solchen Lage bedarf es der sorgfältigen Differenzierung zwischen unvermeidlichen Asymmetrien, einem Recht der religiös-kulturellen Mehrheit auf den Ausdruck ihrer mit der Geschichte des Landes verwobenen kulturellen Identität und Diskriminierungen. Während Asymmetrien bei der Festlegung von Sonn- und Feiertagen schlicht unvermeidlich sind und es sich bei der Präsenz des Kreuzes im öffentlichen Raum um legitime Formen des Ausdrucks kultureller Identitäten von religiös-kulturellen Mehrheiten handeln kann, stellt ein selektives, einzelne religiöse Traditionen treffendes Verbot von religiös gebotener Bekleidung einen Fall von Diskriminierung dar. Zuordnung und Grenzziehungen sind in diesen Fällen keineswegs einfach.

Eine dritte Frage betrifft die Verteilung der Anpassungsleistungen. Dieses Problem stellt sich vor allem im Falle von religionspolitischen Ordnungssystemen mit vielfältigen institutionellen Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, wie es etwa die Bundesrepublik ist. So stellt sich beispielsweise mit Blick auf den Körperschaftsstatus die Frage, ob die Muslime sich in einer Art und Weise organisieren und intern verfassen müssen, um die Zugangsvoraussetzungen zu dieser Institution zu erfüllen, oder ob der Staat entweder die Zugangsvoraussetzungen der gegenwärtigen organisatorischen Verfasstheit der Muslime entsprechend verändern muss oder aber ein Äquivalent zum Körperschaftsstatus mit Zugangsvoraussetzungen schafft, die keine oder deutlich geringere Hürden aufrichten. Auch diese Frage ist nicht eindeutig zu entscheiden.

Eine vierte Frage betrifft die Bestimmung der Reichweite, der Grenzen und des Gewichts des Prinzips der Religionsfreiheit, wenn es mit anderen grundlegenden normativen Prinzipien oder politischen Zielen konfligiert. Solche Fragen stellen sich etwa mit Blick auf den Umgang mit dem religiös gebotenen Ritual der Beschneidung. Hier steht dem Recht auf Religionsfreiheit und dem Recht der Eltern, über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen, der Anspruch eines jeden Menschen auf körperliche Unversehrtheit gegenüber. Ein weiterer Fall stellt der Umgang mit dem religiös gebotenen Ritual des Schächtens dar, das mit dem Tierschutz kollidiert. Auch in diesen Fällen gibt es mehrere plausible Antworten.

Schluss

Die Voraussetzungen für einen konstruktiven Umgang mit religiöser Pluralität und Diversität und für die Lösung und Befriedung damit zusammenhängender Konflikte haben sich in Europa durch die Formierung und Etablierung rechtspopulistischer Bewegungen mit einer explizit antiislamischen Agenda nicht verbessert. Eine den Bedürfnissen von zugewanderten Religionsgemeinschaften deutlich entgegenkommende Religionspolitik ist von den zentralen religionspolitischen Akteuren unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten. Aber auch eine breite öffentliche Debatte über die Ausgestaltung der Religionspolitik unter Bedingungen gestiegener religiöser Vielfalt, wie sie eine Reihe europäischer Länder, aber auch die kanadische Provinz Quebec geführt haben, dürfte vor diesem Hintergrund schwieriger sein. Gleichwohl stellt eine solche Debatte in Deutschland einen vielversprechenden Weg aus der derzeitigen konflikthaften Stagnation der Religionspolitik dar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Minkenberg/Ulrich Willems, Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Politik und Religion im Spiegel politikwissenschaftlicher Debatten, in: APuZ 42–43/2002, S. 6–14; dies., Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: dies. (Hrsg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003, S. 13–41.

  2. Für eine Korrektur plädierte vehement Peter L. Berger, A Global Overview, in: ders. (Hrsg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics 1999, S. 1–18; ders., Altäre der Moderne. Religion in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt/M.–New York 2015; dagegen plädierte u.a. Steve Bruce, Secularization. In Defence of an Unfashionable Theory, Oxford 2011. Vgl. auch Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt/M.–New York 2015.

  3. Für die Verteidigung der liberalen Vorstellung von einer strikten Trennung von Religion und Politik sowie der notwendigen Privatisierung des Religiösen siehe Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt/M. 2005. Für eine Kritik dieser Vorstellung vgl. Jocelyn Maclure/Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Berlin 2011. Zu Habermas vgl. auch Ulrich Willems, Religion und Moderne bei Jürgen Habermas, in: ders. et al. (Hrsg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, S. 489–526; zu Taylor vgl. Ulrike Spohn, Den säkularen Staat neu denken. Politik und Religion bei Charles Taylor, Frankfurt/M.–New York 2016.

  4. Vgl. Grace Davie, Europe: The Exceptional Case. Parameters of Faith in the Modern World, London 2002.

  5. Vgl. hier und im Folgenden Daniel Gerster/Astrid Reuter/Ulrich Willems, Ordnungen religiöser Pluralität. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Ordnungen religiöser Pluralität. Wirklichkeit – Wahrnehmung – Gestaltung, Frankfurt/M.–New York 2016, S. 15–55, Abschnitt 3.

  6. Vgl. Michael Borgolte, Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr., Berlin 2006.

  7. Siehe auch den Beitrag von Thomas Kaufmann in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Vgl. Perry Schmidt-Leukel, Religious Pluralism in Thirteen Theses, in: Modern Believing 1/2016, S. 5–18, hier S. 6.

  9. In den ehemaligen europäischen Kolonialmächten kommen die Effekte der Einwanderung aus den ehemaligen Kolonialgebieten hinzu.

  10. Vgl. Detlef Pollack/Olaf Müller, Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh 2013, S. 12f.

  11. Zu den Zahlen für 2015 vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2016, S. 4, eigene Berechnung. Zu den Zahlen für 2010 vgl. Pollack/Müller (Anm. 10) S. 32f.

  12. Vgl. Nancy T. Ammerman, The Challenges of Pluralism: Locating Religion in a World of Diversity, in: Social Compass 2/2010, S. 154–167, hier S. 156.

  13. Derzeit nimmt eine deutliche Mehrheit der deutschen Bevölkerung religiöse Pluralität als Bereicherung, aber auch als Konfliktursache wahr. Siehe Pollack/Müller (Anm. 10), S. 35f. In Großbritannien, Frankreich und Schweden sind die Befunde ähnlich. Siehe Gerd Pickel, Religiosität im internationalen Vergleich, Gütersloh 2013, S. 32f.

  14. Vgl. zur Rekonstruktion der Bedingungen und Voraussetzungen dieses langen Lernprozesses Karl Gabriel/Christian Spieß/Katja Winkler, Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit? Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche, Paderborn 2016. Siehe auch den Beitrag von Hubert Wolf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  15. Vgl. Gérard Bouchard/Charles Taylor, Building the Future. A Time for Reconciliation, o.O. 2008, S. 134–138.

  16. Im Vergleich mit anderen religiösen Traditionen wird der Islam in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern in besonderem Maße als bedrohlich wahrgenommen. In einzelnen europäischen Ländern – darunter die Bundesrepublik, Spanien und die Schweiz – ist die Skepsis gegenüber dem Islam besonders ausgeprägt. Vgl. Pollack/Müller (Anm. 10), S. 35f.; Pickel (Anm. 13), S. 2; Kai Hafez/Sabrina Schmidt, Die Wahrnehmung des Islams in Deutschland, Gütersloh 2015, S. 16f.; Detlef Pollack et al., Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa, Wiesbaden 2014. Zugleich nehmen jedoch auch die Diskriminierungserfahrungen von Muslimen zu. Vgl. Enes Bayrakli/Farid Hafez (Hrsg.), European Islamophobia Report 2015, Istanbul 2016.

  17. Vgl. Ahmet T. Kuru, Secularism and State Policies Toward Religion. The United States, France, and Turkey, Cambridge et al. 2009, Teil I.

  18. Für den Volltext des Berichts siehe Externer Link: http://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/160317_Abschlussbericht_Religionskommission_Gruene.pdf.

  19. Vgl. zum Folgenden Riem Spielhaus/Martin Herzog, Die rechtliche Anerkennung des Islam in Deutschland, Berlin 2015.

  20. Vgl. Bouchard/Taylor (Anm. 15), S. 136f.

  21. Vgl. Bhikhu Parekh, Religion and Public Life, in: Tariq Modood (Hrsg.), Church, State and Religious Minorities, London 1997, S. 16–22.

  22. Vgl. Bouchard/Taylor (Anm 15); Marie-Claire Foblets/Jean-Philippe Schreiber, The Round Tables on Interculturalism, Brüssel 2013; The Woolf Institute (Hrsg.), Living with Difference. Report of the Commission on Religion and Belief in British Public Life, Cambridge 2015.

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ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politik und Religion an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Mitglied des Exzellenzclusters "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne". E-Mail Link: ulrich.willems@uni-münster.de