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Zur Wahrnehmung von Diktaturen im 20. Jahrhundert

Peter Steinbach

/ 22 Minuten zu lesen

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist u.a. stark durch den Gegensatz zwischen diktatorischen Systemen und demokratisch legitimierten Verfassungsstaaten geprägt worden. Die Bewertung von Diktaturen durch...

I. Das 20. Jahrhundert als das globale Jahrhundert der Diktaturen

Das 20. Jahrhundert lässt sich auch als Versuch deuten, weltweit mit diktatorischen Mitteln neue Gesellschaften zu schaffen. Entscheidend ist es ferner geprägt worden durch zwei Weltkriege, durch Verfolgungen, durch Völkermord und durch Vertreibungen, die Ausdruck des Willens zahlreicher Staaten zur ethnischen Flurbereinigung´ und Landnahme waren. Herausgefordert wurden durch Diktaturen und autoritäre Regime politische Zivilisationen, die sich zu den Prinzipien des Rechtsstaates, der Gewaltenteilung und zu den Grundrechten bekannten. Gegner der Diktaturen waren Verfassungsstaaten, die sich zu den Prinzipien der Menschenrechte bekannten und über eine funktionierende öffentliche Meinung verfügten, in der auch über Missstände aufgeklärt wurde. In der Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen und diktatorischen Systemen sollten sich, so war die Hoffnung, Maßstäbe politischer Gesittung entwickeln.

Vor allem Europa wurde mit zwei ganz unterschiedlichen Typen antizivilgesellschaftlicher Systeme konfrontiert: dem leninistisch-stalinistischen und dem nationalsozialistischen. Beide blieben immer aufeinander bezogen und verstanden sich entweder als antimarxistisch und antibolschewistisch oder als antifaschistisch. Zugleich aber legitimierten sie sich jeweils durch einen gemeinsamen Gegner: den freiheitlichen Verfassungsstaat. Dies hatten die Vereinigten Staaten erkannt, als sie unmittelbar nach dem Ausbruch der Russischen Revolution militärisch zu intervenieren versuchten; und auch für Winston Churchill war die Eindämmung der sowjetischen Expansionsbestrebungen bereits während des Krieges gegen Hitler, der nur mit Unterstützung durch die Rote Armee gewonnen werden konnte, unbestreitbar wichtig.

Churchill hatte in den politischen Auseinandersetzungen um die britische Appeasement-Politik eine Grundhaltung entwickelt, die darauf abzielte, die Diktaturen Europas zu schwächen. Im Unterschied zum britischen Premierminister Chamberlain war für den späteren britischen Kriegspremier niemals zweifelhaft, dass weder Hitler noch Mussolini ein Partner bei der Festigung europäischer Sicherheit sein konnten. Das Abkommen, mit dem Stalin und Hitler im August 1939 die Welt überraschten und die Teilung Europas einleiteten, bereitete die Zusammenarbeit zwischen den westlichen Demokratien vor, die allerdings nur gegen die braune und nicht zugleich gegen die rote Diktatur gerichtet war.

Churchill meinte denn auch nur Deutschland, wenn er den Krieg proklamierte "gegen eine ungeheuerliche Tyrannei, die in dem finsteren, trübseligen Katalog des menschlichen Verbrechens unübertroffen bleibt". Und später in der Atlantik-Charta bekannten sich der amerikanische Präsident Roosevelt und Churchill nach der "endgültigen Vernichtung der Nazityrannei" zu einem "Frieden, der allen Nationen die Möglichkeit bietet, innerhalb der eigenen Grenzen sicher zu leben, und der allen Menschen die Sicherheit gibt, in ihren Ländern frei von Not und Furcht zu leben", ohne damit zugleich die Sowjetunion anzusprechen, die von ihnen unterstützt wurde. Das Ziel, Hitlers Diktatur mit Hilfe Stalins Diktatur zu zerstören, erschien wie der Versuch, den Teufel mit Beelzebub zu vertreiben. Es war daher nicht nur eine Folge des beginnenden Ost-West-Konflikts, wenn diese seltsame Gemeinsamkeit rasch nach dem Ende des Krieges gegen Deutschland und Japan zerbrach und in den Weltkonflikt mündete, der bald als "Kalter Krieg" bezeichnet wurde. Allerdings wurde noch lange Zeit - dies z.T. bis heute - die Wahrnehmung des kommunistischen Totalitarismus, die kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Diktatur, durch jene frühere Kooperation des Westens mit ihr behindert.

Im Zuge der sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Ost und West bildeten sich Blöcke heraus, für deren Bildung die Unterscheidung in Demokratien und Diktaturen zunehmend unwichtiger wurde. Obwohl sich die westlichen Gesellschaften zu den Prinzipien des antitotalitären, freiheitlichen Verfassungsstaates bekannten, bot die Blockbildung mit ihren peripheren militärischen Konfrontationen diktatorisch organisierten oder autoritären Regimen die Möglichkeit, unabhängig von ihrer inneren Verfassung zu politischen Bündnispartnern des Westens zu werden. Selbst Diktatoren, die wie Salazar in Portugal oder Franco in Spanien vor 1945 ideologisch mit den Achsenmächten sympathisiert hatten, wurden als wichtige Außenposten des westlichen Sicherheitssystems umworben; man brauchte ihr Entgegenkommen, um Militärbasen anzulegen. Als 1967 in Griechenland eine Militärdiktatur errichtet wurde, wurde auch hier der Verfassungsbruch und die Zerstörung der Grundrechte weitgehend akzeptiert.

Besonders deutlich zeigte sich zumal in Zeiten des Ost-West-Konflikts diese westliche Indifferenz gegenüber den Diktaturen in Lateinamerika, Afrika und Asien. Während ein Kennzeichen südamerikanischer Diktatoren ihr Bekenntnis zum Bündnis mit dem Westen war und sie auf eine enge militärische und wirtschaftliche Verflechtung mit den USA und auch der Europäischen Gemeinschaft achteten, wurden afrikanische Diktatoren im Zuge westlicher Entwicklungspolitik in der Hoffnung unterstützt, diese würden ihre Gesellschaften mit halbdemokratischen oder selbst diktatorischen Methoden politisch, kulturell und wirtschaftlich voranbringen. Man wollte in den Führungsschichten Modernisierungseliten sehen, die ihre Gesellschaften auf den Entwicklungspfad der "Westernization" brachten. Dies erwies sich in dem Augenblick als Irrtum, als sich der globale Ost-West-Konflikt in die "Dritte Welt" verlagerte und sich die dortigen Führungsgruppen zwischen einer engeren Anlehnung an die Sowjetunion oder an westliche Staaten entscheiden konnten. Nicht selten stärkten sie ihre Positionen durch eine Betonung ihrer Optionsmöglichkeiten.

Entschieden abgelehnt wurden im Westen die diktatorischen Systeme des europäischen kommunistischen Machtbereichs - zumal als sich Vertreter der Sowjetmacht mit Unterstützung ihrer angeblich "volksdemokratisch" legitimierten kommunistischen Parteigänger im Zuge der großen Aufstandsbewegungen wie 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn, schließlich 1968 in der Tschechoslowakei gewaltsam gegen Freiheitsbestrebungen wandten. Dies bedeutete nicht, dass die westlichen Staaten die kommunistischen Diktaturen nicht formell anerkannten. Sie hielten sich an das Prinzip der Nichteinmischung in die innenpolitischen Verhältnisse. Dieses Prinzip galt als wichtige Voraussetzung für die Sicherung des Status quo, der nur auf eine nicht gewaltsame Weise - durch Verträge, Kooperation und wirtschaftliche Vernetzung - verändert werden sollte. Politischer Wandel sollte das Ergebnis von Annäherung, nicht aber von einer zugespitzten Konfrontation sein.

Die Blockgrenzen waren in Mitteleuropa durch den "Eisernen Vorhang" festgelegt, aber bereits auf dem Balkan nicht klar definiert und weitgehend flexibel in der Dritten Welt, wo im Zuge der Entkolonialisierung eine Vielzahl neuer Staaten entstanden waren, die sich überwiegend als "blockfrei" bezeichneten. Die Staaten Lateinamerikas orientierten sich an den USA, bekannten sich zu den Prinzipien des Kapitalismus und organisierten sich dabei oftmals als stabile Diktaturen, die Minderheiten und Menschenrechte missachteten. Die USA intervenierten immer wieder, wenn sich einzelne Staaten Lateinamerikas aus dieser engen Bindung zu ihnen lösten; sie unterstützten Gegenbewegungen, Putsche und schließlich sogar unverhüllt diktatorische Regime wie u.a. die Herrschaft des chilenischen Diktators Pinochet und des argentinischen Militärs.

Bestimmend für den Umgang westlich orientierter Gesellschaften mit den lateinamerikanischen Diktaturen war auch der Schock über die politischen Folgen des Siegs des kubanischen Revolutionärs Fidel Castro über den korrupten Herrscher Batista. In den westlichen Medien war sein jahrelanger Kampf durchaus mit Sympathie verfolgt worden. Batista galt als Gewaltherrscher und wurde als Belastung empfunden. Was aber Ende der fünfziger Jahre wie ein vertrauter Kampf um Führungspositionen in einem kleinen lateinamerikanischen Staat begonnen hatte, entwickelte sich Anfang der sechziger Jahren zu einem nationalen Befreiungskampf mit revolutionärem Anspruch und exemplarischer globaler Bedeutung. Denn überall regten sich zu dieser Zeit antikolonialistische Befreiungsbewegungen, die sich von der wirtschaftlichen und politischen Vorherrschaft des Westens befreien wollten. Es waren Befreiungsbewegungen, die sich nicht mehr - wie noch in den fünfziger Jahren - an den Prinzipien eines gewaltlosen Befreiungskampfes orientierten. Diese hatte Mahatma Ghandi im Kampf gegen die britische Kolonialmacht propagiert und dabei westliche Rechtsvorstellungen beim Wort genommen.

Die neuen politischen Befreiungsbewegungen bekannten sich hingegen zur Anwendung von Gewalt im antikolonialen Kampf. Sie orientierten sich an den Zielen der von kommunistischer Seite unterstützten Befreiungsbewegungen und forderten schließlich sogar, den Befreiungskampf in die "Metropolen" zu tragen. Ideologisch hatten sich diese antikolonialen Befreiungsbewegungen im Zuge der Entstehung innerkommunistischer Gegensätze - Titoismus, Maoismus, Trotzkismus, Stalinismus und Kommunismus Moskauer Prägung seit der Abrechnung mit dem Stalinismus Mitte der fünfziger Jahre - in viele Richtungen differenziert, unter denen vor allem die Lehre Maos und die Praxis Castros Anhänger gewannen. Beide propagierten das Recht auf einen eigenen nationalen Weg zu Sozialismus und Kommunismus und widersetzten sich so der westlichen Modernisierungstheorie, die sich an den Verfassungszielen der liberalen Zivilgesellschaft orientierte und auf demokratische Entwicklung durch Bildung, Parteien, Verbände und gewählte Führungsschichten setzte.

Aber auch in der westlichen Perspektive traten "pragmatische" Veränderungen ein: Wurden Diktatoren in den neuen unabhängigen Staaten der "Dritten Welt" von den Regierungen der ehemaligen westlichen Kolonialmächte als Garanten ihrer wirtschaftlichen Interessen empfunden, so konnten sie mit finanzieller, wirtschaftlicher und militärischer Unterstützung rechnen. Dies galt vor allem dann, wenn die neuen Herrscher versprachen, die weitere Machtausdehnung von marxistischen Befreiungsbewegungen abzublocken. Die Abwehr des Westens gegen die kommunistische Expansion verlagerte sich so zunehmend in Kriege, die an den Peripherien der Blöcke entstanden, wurden aber - schlimmer noch - dort auch als Bürgerkriege ausgetragen.

II. Diktatur und Demokratie - eine Grundfrage politischer Bewertung

So schien sich die politisch-moralische Relativierung fortzusetzen, die schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Auseinandersetzung zwischen Diktaturen und Demokratien geprägt hatte. Vor allem Oppositionsbewegungen in Ost- und Mitteleuropa beschworen die "westlichen" Grund- und Menschenrechte, um sich dem totalitären weltanschaulichen Führungsanspruch sozialistischer Systeme entgegenzustellen, blieben aber wegen des Nichteinmischungsgebotes auf sich gestellt und wurden bestenfalls moralisch durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen unterstützt. Zugleich diskreditierten sich westliche Gesellschaften durch ihre Tolerierung "westlicher Diktaturen". Kennzeichen der historischen und politischen Entwicklung im 20. Jahrhundert ist also das Nebeneinander diktatorischer bzw. totalitärer und verfassungsstaatlicher Systeme, die sich zu völlig entgegengesetzten Wertvorstellungen bekannten. Zugleich aber ist die Auseinandersetzung zwischen konträren politischen Ordnungsvorstellungen ein Grundzug gesellschaftlicher und kultureller Pluralität in Demokratien, der nicht zuletzt die öffentlichen Debatten und die politisch-pädagogischen Aktivitäten in den Verfassungsstaaten des Westens geprägt hat. Dabei wirkten sich vor allem die Erfahrungen der Deutschen aus, die mit einer zweifachen Diktaturgeschichte konfrontiert waren. Hier waren die Voraussetzungen, aber auch die Folgen diktatorischer Herrschaft besonders spürbar.

Diktatorische Systeme entwickelten nicht nur Weltherrschaftspläne, die sich nach außen richteten, sondern sie erstreckten einen denkbar weitgehenden Willen zum Umbau der gesamten sozialen Strukturen auf die eigene Gesellschaft und forderten gerade dadurch liberale Demokratien, die sich u.a. zu den Prinzipien der Selbstbestimmung, aber auch der freien Entfaltung der Persönlichkeit bekennen, heraus. Nach dem Untergang des NS-Staates brauchte das europäische Staatensystem viele Jahre, um wieder sein Gleichgewicht zu finden. Wesentlich schwieriger noch gestaltete sich die Bewältigung innenpolitischer Folgewirkungen diktatorischer Herrschaft, denn die durch Diktaturen und Krieg zerstörten Sozialstrukturen ließen sich nicht einfach wiederherstellen. Dies in Mittel- und Osteuropa umso weniger, als die sowjetische Herrschaft sich hier nach dem Ende des NS-Staates über viele Jahrzehnte hinweg auf die im und nach dem Krieg dem sowjetischen Machtbereich einverleibten Länder erstreckte. In allen Diktaturen wurden soziale Strukturen zerstört, Eigentumsformen vernichtet, Menschen fremder Nationalität vertrieben, entrechtet und ausgerottet.

Bis heute haben wir die Folgen einer wie auch immer motivierten Ausgrenzung von Gruppen einer europäischen Gesellschaft zu tragen. Ideologische und politische Abgrenzungen der Siegermächte gegenüber den Besiegten steigerten sich nicht selten zur Ausgrenzung, die in millionenfache Vertreibung und gewaltsame Umsiedlung mündete. Wunden wurden geschlagen und zeitigten Folgen, die nur durch eine konsequent betriebene Versöhnungspolitik ansatzweise geheilt werden konnten. Jederzeit können diese Wunden wieder aufbrechen und ethnische und kulturelle Konflikte neu beleben, wie die jüngste Auseinandersetzung um die Beneš-Dekrete, die bis heute vertretene Rechtfertigung der Vertreibung und der Massenmorde an den Sudetendeutschen, verdeutlicht.

Insgesamt zeigt sich also, dass nicht nur die Konfrontation zwischen Demokratien und Diktaturen ein Grundzug des 20. Jahrhunderts ist, sondern auch die Gleichgültigkeit, mit der gewaltsam verübtes Unrecht, die Verletzung von Grundrechten und die Ausübung unbegrenzter Macht von westlichen Demokratien hingenommen wurden. Dabei wirkten sich ideologische Rechtfertigungsmuster aus, die vor allem außen- und wirtschaftspolitischen Interessen entgegenkamen und dem Grundsatz der jeweiligen Nichteinmischung entsprachen. Das hätte sich mit dem Umbruch des Jahres 1989, der die Blockkonfrontation endgültig beendete, ändern können. Ansätze zu einer stärker menschenrechtlich orientierten Bewertung von Diktaturen hatten sich bereits in den vorangegangenen Jahrzehnten herausgebildet: Im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Voraussetzungen wachsender Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa waren Menschenrechteskataloge als Kriterien zur Bewertung politischer Herrschaft entwickelt worden. Im Gefolge des KSZE-Prozesses hatten sich in Ostmitteleuropa Bürgerrechts- und Oppositionsbewegungen gebildet, die auf Unterstützung aus dem Westen hofften. In Polen hatte sich mit der Solidarnosc eine unabhängige Gewerkschaftsbewegung, in der Tschechoslowakei mit der Charta 77 eine Bürgerrechtsbewegung gebildet, an denen sich Oppositionsgruppen in anderen sozialistischen Staaten orientierten. Auch in der UdSSR hatten sich Oppositionelle gemeldet und sich in die Tradition von Bürgerrechtlern wie Sacharow gestellt. Dieser hatte auch in der DDR Oppositionelle wie Robert Havemann und Wolfgang Biermann beeinflusst.

Die westlichen Regierungen hatten 1956 die Niederschlagung des ungarischen Aufstands ebenso hingenommen wie die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. In der Reaktion auf das eigene Versagen, aber auch auf die Invasion sowjetischer Truppen in Afghanistan hatten sich in den siebziger Jahren - stark befördert durch den amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter - jedoch Konturen einer internationalen Menschenrechtspolitik herausgebildet, die zwar nicht das Prinzip der Nichteinmischung aufhoben, aber doch für eine intensivere öffentliche Beobachtung und Kritik rechtswidriger Übergriffe staatlicher Organe sorgten. Unmittelbar wirkten sich die neuen Maßstäbe einer Menschenrechtspolitik auf jene Diktaturen aus, die bis dahin im westlichen Einflussbereich gelegen hatten. Der Veränderungsdruck betraf die lateinamerikanischen Diktaturen, das südafrikanische Apartheid-Regime, auch südostasiatische Staaten, die unter dem Einfluss des Vietnam-Krieges zunächst wenig Anstrengungen zu ihrer Demokratisierung unternehmen mussten. Denn lange hatte man sie als Bollwerk gegen die kommunistische Expansion geschätzt, was seit dem Korea-Krieg von 1950 die Unterstützung diktatorischer Systeme durch westliche Regierungen rechtfertigte, wenn sie nur antikommunistisch orientiert waren. Durch die äußerst massiven Menschenrechtsverletzungen während der chinesischen "Kulturrevolution" mit Millionen von Todesopfern wurden viele westliche Regierungen in dieser Haltung bestärkt. Sie unterstützten diktatorische Regime in Südkorea, in Thailand und Burma oder andere autoritäre Staaten der Region, weil sie der Ansicht waren, dass das westliche Verteidigungssystem wie eine Kette von Dominosteinen in sich zusammenstürzen musste, wenn ein Stein fiel. Verbreitet war auch das Misstrauen gegenüber einer "Salamitaktik", der zufolge kommunistische Regime ihre Einflussbereiche kontinuierlich ausdehnen würden.

In diesem Zusammenhang der politischen wie militärischen Verteidigung bzw. Sicherung demokratischer Werte machte sich ein merkwürdiges Phänomen bemerkbar. Bewerteten westliche Regierungen diktatorische Systeme - wie schon vor 1939 - nach ihren politischen Interessen, so differenzierten auch die Mitglieder von Protestgruppen, die sich gegen die Unterstützung westlich orientierter Diktaturen durch westliche Regierungen wandten, kommunistische Diktaturen keineswegs nach menschenrechtlichen, sondern vor allem nach ideologischen Gesichtspunkten. Sie erklärten stalinistische Systeme zu Erziehungsdiktaturen und verharmlosten Verfolgung und Unterstützung als bedauerliche, zugleich aber als "notwendige" Begleitumstände gesellschaftlicher und politischer Entwicklung. So hielt sich die jeweilige Empörung gegenüber offensichtlicher massenhafter Gewaltanwendung in Grenzen, wenn sie denn überhaupt stattfand. Dies verdeutlicht, wie die Wahrnehmung und Beurteilung von Diktaturen - gleich welcher politischen Richtung - immer auch interessengeleitet ist.

Wenn sich die Geschichte des letzten Jahrhunderts in ihren prägenden, nachwirkenden Aspekten als die Konsequenz des Versuches deuten lässt, mit diktatorischen Mitteln neue Gesellschaften zu schaffen, dann ist es notwendig, Kriterien zu entwickeln, die den jeweils gewaltsam vorgenommenen Gesellschaftswandel kritisch bewerten. Alle Überlegungen zur "modernen Diktatur" haben an die Feststellung anzuknüpfen, dass diese Diktaturen durch ihren umfassenden Anspruch auf das Recht zur gewaltsamen Veränderung der Gesellschaft nicht nur einen eigenen Staatstyp ausgebildet haben, sondern sie sich als Gegenbild zur liberaldemokratischen Gesellschaft verstanden, die wir heute vielfach als Zivilgesellschaft bezeichnen. Diktaturen fordern einerseits verfassungsstaatliche Demokratien heraus und gefährden, ja bekämpfen sie. Sie geben andererseits den Bürgern der verfassungsstaatlichen Gemeinwesen aber auch die Möglichkeit zu einer gegen sie gerichteten antitotalitären Selbstdefinition. Dies wirkt sich auch auf den Widerstand in den Diktaturen selbst aus, denn ihre Träger suchen immer den Kontakt zu den Vertretern verfassungsstaatlicher Systeme, orientieren sich an diesen und setzen sich so allerdings in besonderer Weise der Gefahr aus, als Instrument einer "fünften Kolonne" verfolgt zu werden.

III. Diktatur und Widerstand

Dieser Hinweis soll die Tatsache in den Blick rücken, dass "moderne Diktaturen" durch ihre Eingriffe in soziale Strukturen permanent die Voraussetzungen der in diesen Systemen lebenden Menschen für die Auseinandersetzung mit politischen oder religiösen Autokraten verändern, sodass sich die Bedingungen für Opposition und Widerstand verschlechtern: die strukturellen Voraussetzungen für Widerständigkeit und Selbstbehauptung, für Protest und Auflehnung. Mit der Dauer von Diktaturen werden die Bedingungen für die Widerständigkeit schwieriger, denn im Zeitablauf nimmt die Eigenständigkeit und Eigengewichtigkeit resistenter Traditionen und Milieus ab, kommt es mit der Zerstörung sozialer Strukturen schließlich auch zur Veränderung von Handlungs- und Verhaltensbedingungen der widerständigen Individuen. Umso wichtiger ist es aber, dass antitotalitärer Widerstand Unterstützung von außen bekommt.

Diktatorisch legitimierter Wandel ist immer sozialrevolutionär; er strebt nicht nach Anpassung und Reformen, sondern nach dem "Neuen", das nur in der radikalen, geschichtsfeindlichen Absetzung gegen das Alte plausibel gemacht werden kann. Und er setzt sich willkürlich über das Grundrecht des Individuums auf die Entfaltung seiner Persönlichkeit in Freiheit hinweg. Die von Diktatoren und ihren Apparaten gewaltsam durchgesetzte "Überwindung des Überkommenen", des "Alten" bedeutete zugleich immer, die Träger alter Strukturen, die Anhänger überkommener Vorstellungen sowie diejenigen Vertreter politischer Werte, die angeblich auf eine weit zurückliegende, "unmoderne" Zeit verwiesen, an den Rand zu drängen, sie zu neutralisieren, zu marginalisieren oder gar zu eliminieren. Im Repräsentanten des sozialrevolutionär abgelehnten "Überkommenen" wurde nicht mehr der politisch Andersdenkende gesehen, sondern der Vertreter eines feindlichen Prinzips, der "Gegenmensch". Er war zu bekämpfen, indem man seine Wurzeln, seine Bindungen zerstörte. Diese Absicht wurde bereits in der politischen Terminologie der Endgültigkeit sichtbar: "Ausmerzung", "Endlösung", "Ziel der Geschichte". Wem klänge nicht in den Ohren, dass die Berliner Mauer noch in einhundert Jahren stünde? So gesehen lässt sich das 20. Jahrhundert durchaus als Jahrhundert eines Weltbürgerkriegs bezeichnen, der seinen Ausdruck im prinzipiellen Gegensatz von Diktaturen und Demokratien fand.

Gegen die Methoden und die ebenso absehbaren wie spürbaren Nachwirkungen dieser sozialrevolutionären Eingriffe - die sich nicht selten durch die Verherrlichung des Neuen auch moralisch legitimieren wollten - regte sich in allen Diktaturen Widerstand. Dies oft aus unterschiedlichen Gründen, aber doch in der Regel aus einem gemeinsamen Credo heraus: als Folge einer nicht ganz verdrängten Betonung der Würde des Menschen; aus der Bereitschaft, Mitmenschlichkeit auch stellvertretend für jene zu praktizieren, die nicht in der Lage waren, zu reagieren; aus dem Willen zur Verteidigung von Ordnungsprinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates sowie nicht zuletzt als Konsequenz der Absicht, durch diktatorische Regime verdrängte Wertvorstellungen wieder bewusst zu machen und so zum kulturellen Neuaufbau nach der Befreiung von der Diktatur beizutragen.

In allen Diktaturen lassen sich Traditionsbestände finden, die eine Distanzierung des Oppositionellen von seinem gegenwärtigen politischen Umfeld gestatten und erklären, warum er als Widerständiger nicht dem "Sog" erlag, der viele andere seiner Zeitgenossen übermächtig in den Bann zog und zu Mitläufern machte. Dabei ist er auf Unterstützung von außen, durch Sympathisanten, die sich zu Deutern und Sprechern seiner Haltung machen, angewiesen. Gerade daran hat es aber in vielen Demokratien zumeist gefehlt. Man beobachtete zwar das Wirken von Oppositionellen in diktatorischen Systemen, aber man unterstützte sie nicht aktiv. Dabei orientierten sich viele der Regimegegner in Diktaturen an den Prinzipien der Menschenrechte und des Verfassungsstaates. Sie beschworen gemeinsame Wertvorstellungen: Gemeinsame Traditionen könnten Solidaritäten stärken, Unterstützung mobilisieren - in der Praxis aber geschah das nur sehr selten, wie es etwa die Reaktion eines nur sehr kleinen Teiles der deutschen Öffentlichkeit auf die Unterdrückung von Robert Havemann oder die Ausbürgerung von Wolf Biermann gezeigt hat.

Manche der Regimegegner, die sich gegen eine Diktatur des 20. Jahrhunderts wandten, wurden erst durch ihren Protest - der sich keineswegs immer aus dem Zentrum der Macht heraus gegen das Gesamtsystem der Diktatur richtete, sondern oft auch Ausdruck einer ganz persönlichen, einer ganz individuellen Auflehnung war - öffentlich wahrgenommen. Aus Regimegegnern wurden aber immer wieder auch Vertreter von Prinzipien, die sich angesichts der existenziellen Herausforderung des Menschen in totalitären Systemen bewährten. Dies gilt für Maximilian Kolbe und Edith Stein ebenso wie für Anne Frank, für Vaclav Havel und Andrej Sacharow, für Alexander Solschenizyn und Dietrich Bonhoeffer, für Alfred Delp und Primo Levi - sie alle gelten nicht primär als Repräsentanten ihrer Nation und ihrer Gesellschaft, ihrer Partei oder ihrer Konfession, sondern sie werden von den Nachlebenden als Vertreter eines Prinzips wahrgenommen, in dem sich das Lebensrecht und die Würde des Individuums gegen den totalitären Anspruch des Staates ausdrückt.

Das 20. Jahrhundert war deshalb keineswegs allein ein Jahrhundert der Diktaturen, sondern es war auch ein Jahrhundert, dem gerade durch den Gegensatz von demokratisch und rechtsstaatlich geprägten Verfassungsstaaten und "modernen", sich sozialrevolutionär legitimierenden Diktaturen auch der Widerstand sein Gesicht gab. Dieser prinzipiell begründete Widerstand kam in wohl keinem Land unmittelbar an sein Ziel (nicht einmal in der DDR des Jahres 1989), denn er vermochte nirgends aus eigener Kraft die Diktaturen zu überwinden. Er war immer von Entwicklungen abhängig, die von außen kamen, aber von ihm wenig beeinflusst werden konnten.

Widerstand scheiterte so zwar vielfach im unmittelbar politischen Sinn, aber er scheiterte nicht historisch oder gar ethisch. Insofern ist für die sich erinnernden Menschen nicht allein entscheidend, was der Widerstand gegen Diktaturen bewirkte. Sie müssen sich vielmehr selbst fragen, wie sie den Widerstand wahrgenommen, wie sie - in einer freien Gesellschaft - auf die radikale, nicht selten menschenverachtende Praxis diktatorischer Systeme reagiert haben. Dann kann aus der historischen Betrachtung auch eine Selbstkritik entstehen, die insofern politisch relevant ist, weil sie gegen neue politische Fehler, die aus Gleichgültigkeit oder ideologischer Verblendung begangen werden, schützen kann. Das bedeutet zugleich, jene innere Abwehr zu überwinden, die entsteht, weil viele Jahre hindurch Diktatur und Widerstand nicht mit der gebotenen Schärfe, Sensibilität und politischen Konsequenz wahrgenommen wurden.

Heutige Zeitgenossen wussten, welche Verfolgungen in Chile und Argentinien, in der Sowjetunion und in Osteuropa, in Spanien und Griechenland, in China, Korea und Kambodscha - um nur einige Staaten zu nennen - stattfanden. Aber sie lähmten ihre Empörungsbereitschaft, hinderten andere sogar an ihrer Kritik, weil man diese Übergriffe nicht selten nach politischer Opportunität bewertete. Zeitgenossen wussten, dass in der chinesischen "Kulturrevolution" Millionen von Menschen gejagt und ermordet wurden, aber viele wollten in Mao ein Idol politischer "Befreiungsbewegungen" sehen und unterdrückten ihre Kritikfähigkeit. Anhänger der politischen Linken hielten Kritik an der politischen Unterdrückung im Ostblock, zumal in der DDR, in der Tschechoslowakei und in Polen, für "unsolidarisch"; sie prangerten lieber "Rechtstendenzen" an, setzten jeden verbalen Missgriff gleich mit nationalsozialistischer Praxis und verschenkten so unbestreitbar die Chance, aus objektiver Kritik an diktatorischen Systemen Maßstäbe einer generellen humanen Orientierung abzuleiten. Gegenüber Diktaturen gibt es keine Neutralität.

Die Betonung des Widerstands auch als Element postdiktatorischer, also demokratischer Traditionsbildung ist in vielen Fällen gewiss Ausdruck einer rückwärtsgewandten Konstruktion, eines Versuches, neue Kontinuitäten zu begründen, der die Last dieser Diktaturen zumindest im Rückblick erträglicher machen soll. Dies ist nicht selten problematisch, denn Widerstand ist ja nur zu verstehen vor dem Hintergrund von weitgehender Anpassung, als Kontrast zu einer weitestgehenden Anpassung, Denunziationsbereitschaft, einer weitgehenden Folgsamkeit. Der Widerstand gegen Diktaturen zeigt, dass es immer Alternativen zu Anpassung, Gehorsam und Mitläufertum gab. Widerstand verdeutlicht so einen charakteristischen Anspruch gerade des liberalen Verfassungsstaates, der das eigene Recht des Menschen gegenüber dem Staat betont. Wohl deshalb finden sich in allen liberalen Gesellschaften - in ihrer Hervorhebung in der Regel gegen die reale Geschichte konstruierte - Erinnerungen an Menschen, die Opfer von Gewalt wurden, die Mut bewiesen und sich den Zumutungen derjenigen entgegenstellten, die willkürliche Macht ausübten und keine Selbstbindungen akzeptierten.

Dennoch ist die Konzentration auf den Widerstand keine Fiktion, sondern - und dies zeigt vor allem die Konfrontation der Deutschen mit zwei Diktaturen - ein Spannungsfeld, das oft auch geschichtspolitisch bestimmt wird. Weil fast alle europäischen Gesellschaften - England, Schweden, die Schweiz ausgenommen - im 20. Jahrhundert die Erfahrung ihrer Gefährdung durch Ideologien und totalitäre Bewegungen, durch Kollaboration und Unterwerfung machten, gibt es keine Gesellschaft Europas, die nicht ihre eigenen Gegner moderner Diktaturen verehrt. Dies hat man auch als Versuch gedeutet, die kollektiven und auch ganz persönlichen Verstrickungen von Zeitgenossen in das totalitäre Zeitalter zu ertragen. Deshalb sind die Erinnerungen an Regimegegner für postdiktatorische Gesellschaften so wichtig. Sie können Maßstäbe politischen Verhaltens begründen. Dieses Gedenken sollte aber sehr viel mehr beinhalten als die politische Bemühung um eine Erinnerungs- oder Gedenkkultur, die sich in der Zelebrierung von Jahrestagen erschöpft. Es sollte auch der Versuch sein, die Substanz einer postdiktatorischen Anstrengung und Selbstverpflichtung zu verdeutlichen, die dem Individuum nicht mehr die Sicherheit kollektiver Verhaltensnormen bieten kann, sondern eine ganz individuelle Verantwortungsethik begründet. Insofern stehen Versuche, die Voraussetzungen und Folgen persönlicher Zivilcourage zu deuten, immer neben der Entfaltung partei-, traditions- und lagerübergreifender Wirkungs- und Kontextgeschichten des Widerstands.

Das Symbol des Widerstands aber bleibt der Einzelne, welcher der Staatsmacht gegenüber steht. Wer wäre nicht durch das Bild Carl von Ossietzkys beeindruckt, durch den aufrechten Mut eines Menschen, der vor den Schranken des Gerichts oder Aug in Aug mit seinen Peinigern steht, der Hitler offen als den "Vollstrecker des Bösen" zu bezeichnen wagte. Es sind augenscheinlich nicht Narren, die mit beeindruckender Tapferkeit den Herrschenden die Wahrheit sagen. Es sind zugleich die politischen Regimegegner in den modernen Diktaturen.

Wenn sich europäische Gesellschaften ihres Bezugs zum Widerstand versichern, kommt darin eine Gemeinsamkeit antitotalitärer europäischer Grundorientierung zum Ausdruck. Das Bekenntnis zum Widerstand gegen eine vorangegangene, nunmehr überwundene Diktatur ist Ausdruck eines souveränen Umgangs postdiktatorischer Gesellschaften mit ihrer Geschichte. Deshalb brauchten postdidaktorische Gesellschaften nach dem Sturz von Diktatoren Zeit, denn natürlich bestimmt zunächst die Selbsterklärung, die Selbstentlastung, die Rechtfertigung der Mitläufer und Angepassten das kollektive Bild vom Widerstand. Dies war in der Bundesrepublik nach 1945 so, dies war bzw. ist nach dem Ende der DDR so, und dies erklärt auch die bisherigen Defizite einer öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Widerstand in der SBZ und in der DDR trotz der Kenntnisse, die wir haben, trotz der Namen, die wir kennen, trotz der widerständigen Gruppen sowie der Ereignisse, die mit der Erinnerung vor allem an den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der zum Volksaufstand wurde, uns bewusst sind. Auch der Widerstand gegen sozialistische Diktaturen wird in Zukunft einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis bekommen.

IV. Charakteristika moderner Diktaturen

Wenn das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der modernen Diktaturen, der Massendiktaturen, war, also jener politischen Zwangsordnungen, welche die Massen ergreifen, sie beeinflussen und manipulieren wollen, dann ist es unausweichlich, auch zu akzeptieren, dass die Auseinandersetzung mit diktatorischen Systemen eine entscheidende Grundlage historischer und politischer Bildungsarbeit und Forschung bleibt. Diktaturen vernichten die Grundlagen politischer Kommunikation, sie zerstören Öffentlichkeit. Sie entfachen Weltanschauungskämpfe, die in der Nachfolge der Konfessionalisierung der Politik sowie auch der modernen Revolutionen stehen. Diktatoren geht es um Macht, aber sie legitimieren sich ideologisch. Sie geben vor, mit ihren Zielen endzeitlich orientiert zu sein, aber letztlich zielen sie darauf ab, in ungeheuren sozialen Umwälzungsprozessen Geschichte "herzustellen" und ihnen nicht genehme Entwicklungen bzw. politische Kräfte "ruhig zu stellen". Sie versprechen Sicherheit und meinen doch nur die "Ruhe des Friedhofes", wie der Historiker Franz Schnabel schon sehr früh, im Oktober 1932, warnte.

Moderne Diktaturen sind ausnahmslos totalitäre Diktaturen; sie zeichnen sich durch folgende Eigenschaften aus:

1. Der Rechtsstaat verwandelt sich in den Polizeistaat, der zugleich durch eine hochgradige Machtkonzentration gekennzeichnet ist. Ihren Ausdruck findet diese in einer monopolistischen Staatspartei, welche die Gesellschaft umfassend kontrolliert. In der neueren Forschung spricht man in diesem Zusammenhang gern von "durchherrschter Gesellschaft", denn für eine Partei mit einem umfassenden Anspruch auf Kontrolle wird Herrschaft über die Gesellschaft ebenso wichtig wie Herrschaft über den Staat.

2. Die Stellung des Individuums in der Massendiktatur lässt sich durch den Begriff der Vereinzelung beschreiben. Sie ist die Folge zerstörter traditioneller Gruppenbeziehungen: Parteien werden ausgeschaltet, Bündnisse neu organisiert, die Funktion von Verbänden wird radikal verändert. Soziale Einheiten konstituieren sich stets durch Bindungen und Traditionen, die als "natürlich" empfunden werden. Eine der wichtigsten Bindungen, die nicht durch den Staat gestaltet werden darf, ist durch Konfession, durch die Religion bestimmt. Auch gemeinsame Arbeit und Muße schaffen Bindungen eigener Art und prägen gegenüber dem staatlichen Einfluss eigenständige Sub- oder Gegenkulturen aus. Diese Bindungen können in Diktaturen attackiert, aber nicht gänzlich zerstört werden. So werden Reste geistiger, kultureller und moralischer Unabhängigkeit bewahrt, die sich gegen den Durchdringungs- und Durchherrschungsanspruch moderner Diktaturen zu behaupten versuchen.

3. Weil sich die Träger moderner Diktaturen durch die Bindewirkungen überkommener sozialer Einheiten ebenso herausgefordert wie verunsichert fühlen müssen, zielen sie auf die Entschärfung dieser Bindewirkungen durch eigene Massenorganisationen. Diese sollen die Gesellschaft neu strukturieren und organisieren. Massenorganisationen haben die Aufgabe, das Individuum von seinen überkommenen Bindungen zu lösen und es in neue zu integrieren, um es auf diese Weise umso leichter beeinflussen zu können. Dieser Anspruch kann sich sogar auf die Kirchen erstrecken, denn moderne Diktaturen haben immer auch den Anspruch, selbst Sinn zu stiften.

4. Diktaturen sind gekennzeichnet durch die systematische Verletzung von Menschenrechten und durch die keineswegs voraussetzungslose Gewährung von (Staats-)Bürgerrechten. Sie müssen deshalb alle Ansätze zerstören, die auf eine Begrenzung der Staatsmacht abzielen. So gibt es keine vertikale und keine horizontale Gewaltenteilung, es gibt keine Periodizität der Herrschaftsbegrenzung und keinen ständigen Zwang zur Neulegitimierung einer sonst nur auf Zeit übertragenen Herrschaft.

5. In Diktaturen gibt es keinen Zwang zur Rechtfertigung des politischen Handelns staatlicher und gesellschaftlicher Führungsgruppen. Abstimmungen haben hier lediglich die Aufgabe, die Diktatur zu stabilisieren sowie die Massen zu mobilisieren und zu formieren. Deshalb werden aus Wahlgängen Plebiszite, also Bestätigungen; deshalb gibt es in Diktaturen keine Möglichkeiten, durch öffentliche Diskussionen Alternativen zu entwickeln.

Die politischen Konsequenzen moderner Diktaturen sind in der Regel ganz unabhängig von den Zielen und Werten, denen sie sich verschreiben. Insofern ist die Unterscheidung zwischen Funktionstypen wie Erziehungs-, Sicherungs- oder Entwicklungsdiktatur eher unerheblich, zumindest für das Individuum und seine bisherige Einbindung in soziale Gruppen. Unausweichlich und unvermeidlich dringen Diktaturen in private Sphären vor; insofern heben sie die überkommene Trennung der Sphären von Individuum, Familie, Gesellschaft und Staat auf. Das Ergebnis ist nicht allein die Verstaatlichung der Gesellschaft, sondern die Preisgabe des Individuums. Deshalb gibt es letztlich in modernen Diktaturen keinen Schutz privater Lebens- und Entfaltungsräume, bestenfalls Nischen, die zu Freiräumen ausgebaut, aber jederzeit wieder eingeengt oder aufgehoben werden können. Deshalb ist es auch problematisch, Nischengesellschaften verharmlosend als "stabile Systeme" zu bezeichnen, in denen die Bürger angeblich selbstzufrieden ihre kleinen Lebensbereiche verteidigen. Nischengesellschaften sind vielmehr durch eine Labilität charakterisiert, die eine Konsequenz fehlender, da zumeist gestörter, ja oft zerstörter sozialer Zusammenhänge ist; sie bilden eine Art Ersatzstruktur. In diesem Sinne lassen sich moderne Diktaturen als staatlich verfasste Antizivilgesellschaften beschreiben. Sie heben die Trennung von Sphären auf und zerstören auf diese Weise institutionell gesicherte Freiheit.

Die entscheidende gesellschaftliche Wirkung moderner Diktaturen ist also darin zu sehen, dass sie unter Verfolgung des Individuums soziale Strukturen gewaltsam verändern und die überkommenen politischen, kulturellen und konfessionellen Traditionen und Milieus dauerhaft zu zerstören versuchen. Deshalb ist die Dauer diktatorischer Herrschaft eine entscheidende Voraussetzung für die Existenz von Resistenzpotenzialen. Nach etwa einer Generation werden diese Potenziale erheblich geschwächt sein. Sie können sich zwar immer wieder in der Auseinandersetzung mit totalitären Herrschaftsansprüchen bilden, aber in der Regel nur situativ, in der Reaktion auf Übergriffe. Es sei denn, jene wenigen, die sich Diktatoren widersetzen, werden von außen moralisch und politisch unterstützt. An dieser Hilfe hat es im 20. Jahrhundert oft gefehlt - gleich, um welche Diktatur es sich gehandelt hat. Wahrnehmung von Diktaturen bedeutet deshalb zuallererst, das Unrecht wahrzunehmen, das in diktatorischen Systemen unausweichlich verübt wird.

Das Spannungsverhältnis von Diktatur und Demokratie berührt eine grundlegende Frage politischer Existenz und Ordnung im 20. Jahrhundert. Sie ist nur zu bewältigen, wenn sich der Beobachter diktatorischer Systeme auf Maßstäbe bezieht, die der liberale Verfassungsstaat mit Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, einer demokratischen Willensbildung und Grundrechten entwickelt hat. Verletzungen von Menschenrechten sind zumal im Zeitalter der Massenkommunikation durchaus wahrnehmbar. Deshalb ist Parteinahme für diejenigen, die unter Diktaturen leiden, ebenso eine Verpflichtung wie die Verteidigung eines Rechts auf Widerstand gegen die Entrechtung des Individuums. Die Geschichte der Wahrnehmung von Diktaturen im 20. Jahrhundert zeigt allerdings, dass die öffentliche Empörung über Unrecht immer auch von politischen Optionen abhängt.

geb. 1948; Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Karlsruhe (TH).

Anschrift: Institut für Geschichte, Universität Karlsruhe,
Kaiserstr. 12, 76131 Karlsruhe.

Veröffentlichungen u.a.: Widerstand und Opposition in der DDR, Köln - Weimar 1999; Opposition und Widerstand in der DDR: Politische Lebensbilder, München 2002.