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Hegemoniale Identitätspolitik als "entscheidende Politikform" in den USA | Zeitgeschichte/n | bpb.de

Zeitgeschichte/n Editorial Die Geschichten der Anderen Vom Erfolg ins Abseits? Jüdische Geschichte als Geschichte der "Anderen" Hegemoniale Identitätspolitik als "entscheidende Politikform" in den USA. Eine Geschichte der Gegenwart Rassismus als Kontinuitätslinie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Minderheitengeschichte als historische Subdisziplin in Deutschland. Herausforderungen für die Forschung am Beispiel der Minderheit der Sinti und Roma Gesellschaftsgeschichtliche Perspektiven "Achtundsechzig" Behindert/Nicht behindert. Begrifflichkeiten, Konzepte und Modelle in der Disability History Queere Geschichte und der Holocaust Diversität und historisches Lernen. Eine besondere Zeitgeschichte

Hegemoniale Identitätspolitik als "entscheidende Politikform" in den USA Eine Geschichte der Gegenwart

Jürgen Martschukat

/ 16 Minuten zu lesen

Die USA gelten als das Land, in dem Identitätspolitik erfunden wurde. Diese wird aber nicht nur von den "Schwachen", sondern auch und vor allem hegemonial betrieben.

Nach den Präsidentschaftswahlen im November 2016 entfaltete sich in den USA eine heftige Kontroverse über die Gründe der Niederlage der Demokraten. Allen voran prangerte der Historiker Mark Lilla in der "New York Times" eine linksliberale Obsession mit diversity und Identitätspolitik an. Lilla forderte alle US-Amerikanerinnen und Amerikaner dazu auf, individuelle und gruppenspezifische Interessen beiseite zu lassen und sich stattdessen wieder gemeinsam auf Freiheit und Gleichheit als geteilte Werte zu besinnen, die die USA seit ihrer Gründung ausgemacht hätten. In ihren Repliken entgegneten unter anderem die Rechtswissenschaftlerin Katherine Franke in der "LA Review of Books" oder der politische Journalist Vann R. Newkirk II im "Atlantic", dass es in der US-Geschichte lange Zeit ein weißes, männliches und heterosexuelles Privileg gewesen sei, von diesen Werten zu profitieren. Dieses Privileg der einen habe im Ausschluss der anderen gegründet. Außerdem habe im zurückliegenden Wahlkampf gerade der siegreiche republikanische Kandidat Donald Trump die identitätspolitische Karte gespielt. Trump habe gezielt weiße und zuvorderst männliche Wähler der Unter- und Mittelklassen angesprochen und durch seine Ausfälle gegen "Andere" permanent Grenzen entlang von Kategorien wie race, Herkunft, Nationalität, Glaube und Geschlecht gezogen. Dass die Mehrheit der weißen Wählerinnen Trump trotz seiner misogynen und sexistischen Ausfälle ihre Stimme gab, kann als Zeichen für eine derzeit dominante Stellung von race und whiteness im Ringen um gesellschaftliche Teilhabe gelten.

Auch die Historikerin Nell I. Painter meldete sich in dieser Debatte zu Wort. Sie betonte in der "New York Times", nun habe sich Weißsein von einer unmarkierten Kategorie, die bis dahin wie selbstverständlich das gesellschaftliche Zentrum besetzt gehabt habe, in eine markierte Kategorie gewandelt, die zielgerichtet mobilisiert werde, um eine politische und gesellschaftlich privilegierte Position zu sichern. Identitätspolitik sei keineswegs nur die Sache von Afroamerikaner/innen, Latinas, Frauen und LGBTs (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender), sondern auch der weißen, heterosexuellen, protestantischen Männer, die so ihren verloren geglaubten Platz im gesellschaftlichen Zentrum wieder zu festigen suchten. Trumps Wahl sei Ausdruck dieses hegemonialen Bestrebens. Ta-Nehisi Coates, einer der prägenden US-amerikanischen Intellektuellen der vergangenen Jahre, hat Trump im "Atlantic" sogar als "First White President" bezeichnet; freilich nicht, weil Trump der erste Präsident der USA wäre, dessen Haut als weiß gelte, sondern vielmehr, weil er offensiv Identitätspolitik betreibe und sein Weißsein so ungeschminkt in die politische Waagschale werfe wie kein anderer Präsident zuvor.

Die US-amerikanischen Auseinandersetzungen haben auch in Deutschland großen Widerhall gefunden. Schließlich kreisen sie um gesellschaftliche und politische Turbulenzen, die in ähnlicher und zugleich anderer Weise auch hierzulande und in weiten Teilen Europas prägend sind. Mit Donald Trumps "Make America Great Again" korrespondiert das "Wir holen uns unser Land und unser Volk zurück" der AfD. Die Abneigung gegen eine pluralistische Kultur und Gesellschaft sowie gegen eine Politik, die diese bewusst anerkennt, wird wieder lautstark geäußert. Zunehmend offensiv werden Grenzziehungen (ethnischer wie politischer wie territorialer Art), eine Abkehr von Vielfalt als Wert und eine Rückbesinnung auf ein identitäres Zentrum gefordert. Auf dieser Seite des Atlantiks definiert sich dies nicht so pointiert über Weißsein wie in den USA, aber doch über anverwandte Kategorien wie Herkunft, Nationalität oder Glaube. Diese wiederum sind auch in den USA sehr wirkmächtig und überlagern sich hüben wie drüben mit whiteness. "Identitätspolitik", diagnostizierte der Soziologe Armin Nassehi Ende 2016, "ist kein Privileg akademischer Mittelschichten, sondern inzwischen die entscheidende Politikform geworden".Jene, die sich "besorgte Bürger" nennen, betreiben Identitätspolitik mittlerweile leidenschaftlicher als alle anderen.

Geschichte der Gegenwart

In diesem Beitrag verorte ich Identitätspolitik historisch, betrachte sie aus lang- wie kurzfristiger Perspektive und ziehe Linien zur Gegenwart. Bleiben wir dafür in den USA. Denn die USA gelten als das Land, in dem Identitätspolitik vor rund einem halben Jahrhundert erfunden wurde, nämlich als Strategie gegen die anhaltende Ungleichheit in der amerikanischen Politik und Gesellschaft. Afroamerikaner, Frauen, Schwule und Lesben kämpften dafür, endlich das Gleichheitsversprechen der Unabhängigkeitserklärung von 1776 umzusetzen, alle Menschen hätten ein Recht "auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück". Identitätspolitik schien das beste Mittel zu sein, die Jahrhunderte der politischen und gesellschaftlichen Privilegierung weißer, straighter Männer zu beenden. Allerdings, so wird zu sehen sein, muss diese Privilegierung als Effekt einer hegemonialen Identitätspolitik verstanden werden, die es schon seit der Gründung der USA gibt und die dann ab den 1970er Jahren noch forciert wurde, um Erbhöfe zu verteidigen, um deren Verlust man fürchtete. Hegemonie meint hier, privilegiert an Gesellschaft partizipieren zu können, den besten Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen zu haben und dies als im allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Interesse liegend darzustellen.

Um sich in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen über Identitätspolitik als Instrument und Praxis kritisch positionieren zu können, bedarf es einer historischen Perspektivierung. Denn nur die kann zeigen, "auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und (…) Denkweisen" politische und gesellschaftliche Praktiken und Konfigurationen gründen und wie diese in der Geschichte Gestalt angenommen haben. Sich kritisch zu positionieren meint demnach nicht, "dass man lediglich sagt, die Dinge seien nicht gut so, wie sie sind", sondern dass man deren Genealogie aufzeigt und damit auch die Möglichkeit eröffnet, die Bedingungen der eigenen Existenz zu verstehen und politisch zu intervenieren. Im vorliegenden Fall verlangt dies, die Genealogie von Identitätspolitik als politische Praxis zu reflektieren. Insbesondere gilt es zu zeigen, wie hegemoniale Identitätspolitik schon seit langer Zeit ein zentrales politisches Instrument war und wie sie dann in einer Art Backlash gegen die sozialen Bewegungen an Virulenz gewann. Deutlich wird damit, dass Identitätspolitik nicht nur ein Instrument gesellschaftlicher Randgruppen oder eine angeblich verbohrte akademische Sprach- und Verhaltenspolizei ist. Auch hat Donald Trump hegemoniale Identitätspolitik nicht erfunden – ebenso wenig wie den Populismus. Vielmehr kulminiert in seiner Präsidentschaft eine Politik, deren Spuren Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte zurückreichen.

Identität, Macht und Gesellschaft

Im Zuge der Auseinandersetzungen nach der Trump-Wahl hat Katherine Franke Identität so kurz wie treffend als "status-based power" definiert, also als eine Form der Macht, die in gesellschaftlichem Status gründet. Frankes Identitätsdefinition liegt ein Verständnis von Macht und Gesellschaft zugrunde, wie es sich seit den 1970er Jahren herausgebildet hat. Macht ist demnach sowohl als Effekt wie auch als Motor einer gesellschaftlichen Konfiguration zu verstehen, in der verschiedene Individuen und Gruppen mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Teilhabe, Einflussnahme und Anerkennung ausgestattet sind. Identität ist Macht. Sie ist das Vehikel, über das Individuen und Gruppen unterscheidbar gemacht werden und das ihre Positionierungen und Partizipationsmöglichkeiten in Gesellschaft reguliert; nicht ausschließlich, aber doch wesentlich und gemeinsam mit Faktoren wie Einkommen und Besitz. Es geht also nicht nur um das Binnen-I, den Unterstrich oder Unisex-Toiletten, sondern auch um Bildungschancen, Arbeitsmöglichkeiten, Zugang zu Wohnraum und damit auch um das, was man in der Tasche und auf dem Tisch hat. Identität und Gesellschaftsordnung sind untrennbar ineinander verschränkt, und Identitätspolitik ist das Instrument, dieses Verhältnis zu gestalten.

Identitätspolitik historisieren – I

Folgt man der klassischen Erzählung, in die sich auch Mark Lilla mit seiner Kritik an der Demokratischen Partei und ihren politischen Prioritäten einschreibt, so ist Identitätspolitik eine Erfindung der sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Im April 1977 haben afroamerikanische lesbische Feministinnen des Combahee River Collective das Konzept der Identitätspolitik dann explizit in die politischen Auseinandersetzungen eingeführt. Identitätspolitik sei, wie sie in ihrem Manifest schreiben, das beste Mittel, um gegen "rassische, sexuelle, heterosexuelle und Klassenunterdrückung" und deren vielfache Überlagerungen anzukämpfen. Afroamerikanische Frauen seien einem Konglomerat verschiedener Unterdrückungserfahrungen ausgesetzt, würden etwa innerhalb der weiß dominierten Frauenbewegung als schwarz marginalisiert und innerhalb der männlich dominierten afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung als weiblich. Infolgedessen seien sie politisch weitgehend unsichtbar, ihre spezifischen Interessen ließen sich – wenn überhaupt – nur in unzureichendem Maße auf die gesellschaftliche und politische Agenda setzen. Um dem zu begegnen, bedürfe es einer Form der Politik, die sich konsequent aus der eigenen Identität speise. Gut zehn Jahre darauf hat die Rechtwissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw für die komplexen, sich kreuzenden, überlagernden und wechselseitig beeinflussenden Wirkungsweisen verschiedener Identitätsmarkierungen den Begriff der Intersektionalität geprägt.

Die Geschichte der Identitätspolitik so zu erzählen, ist gewiss nicht falsch. Identitätspolitik wird dabei als Erfindung und Instrument derjenigen beschrieben, die sich "auf der Seite der Schwächeren wiederfinden" und die nun endlich das historische Gleichheitsversprechen eingelöst haben wollen. Außerdem präsentiert diese Art der Erzählung afroamerikanische Frauen nicht als passive Opfer der Geschichte, sondern stellt deren aktives Engagement im Kampf gegen ihre gesellschaftliche und politische Marginalisierung heraus. Versucht man historisch zu verstehen, welche Bedeutung Identitätspolitik in den aktuellen Konflikten westlicher Demokratien und insbesondere in den USA hat, so erzeugt diese Erzählung jedoch ein verzerrtes Bild, das größerer Tiefenschärfe bedarf. Dafür gilt es, der Geschichte hegemonialer Identitätspolitik auf die Spur zu kommen.

Identitätspolitik historisieren – II

Bereits seit dem Zeitalter der atlantischen Revolutionen waren die Machtverhältnisse der neuen, sich als freiheitlich und egalitär generierenden Gesellschaften identitär geprägt, auch wenn sich ein entsprechendes analytisches Verständnis erst im späten 20. Jahrhundert herausbilden sollte. Männlich, weiß sowie straight und in aller Regel protestantisch zu sein, waren die Voraussetzungen dafür, einen Platz im politischen und gesellschaftlichen Zentrum beanspruchen zu können. Die entsprechende Gesellschaftsordnung nahm für sich gern ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit in Anspruch, auch wenn wir heute wissen, dass diese Selbstverständlichkeit ein Effekt sich allmählich verfestigender, "sedimentierender" Diskurse und Praktiken ist und damit eben alles andere als selbstverständlich. So avancierte der "weiße Mann" zum angeblich generischen politischen Wesen, dessen Hegemonie keiner Erklärung zu bedürfen schien, da sie angeblich der Natur der Dinge entsprang und damit als vorpolitisch galt. Erklären mussten "die Anderen", wenn sie politisch partizipieren wollten und Ansprüche formulierten. Insofern lassen sich Weiß- und Männlichsein auch als unmarkierte Kategorien bezeichnen, da sie als Standard galten und sie als solche und in ihrer historischen Gewordenheit lange unhinterfragt blieben. Erst seit den 1990er Jahren haben die interdisziplinären Weißseins-, Männlichkeits- oder Heterosexualitätsstudien damit begonnen, auch hegemoniale gesellschaftliche Identifizierungen, Positionen und Privilegien und deren historische Genese zu untersuchen.

Identitätspolitik historisieren – III

Dies bedeutet aber nicht, dass Weißsein oder Männlichsein als Faktoren politischer und gesellschaftlicher Ordnungsbildung in der Geschichte durchgängig unmarkiert gewesen wären. Schon im Gründungsmoment der neuen amerikanischen Republik waren sie Gegenstand der Diskussion über die Verteilung politischer Macht in der neuen Gesellschaft, die es zu formen galt. Exemplarisch sei ein Briefwechsel zwischen Abigail und John Adams herangezogen. Aus Boston schreibend, ermahnte Abigail im April 1776 ihren Ehemann John, der in Philadelphia mit anderen weißen Gründervätern zusammensaß und über die Unabhängigkeit und Zukunft eines möglichen amerikanischen Staates diskutierte, er möge die Frauen nicht vergessen, wenn er eine neue politische und rechtliche Ordnung für ein dann unabhängiges Amerika schaffe. "Our Struggle", antwortete John Adams daraufhin, habe schon Ungehörigkeiten von Kindern und Lehrjungen ausgelöst, Aufmüpfigkeiten von Indigenen und Anmaßungen von schwarzen Sklavinnen und Sklaven gegenüber ihren "Masters". Und jetzt habe er auch noch zum Ausdruck der Unzufriedenheit unter weißen Frauen geführt. In John Adams’ Augen war der einzig legitime Kampf um Unabhängigkeit derjenige der weißen (erwachsenen) Männer, und das neue politische System, so betonte er weiter, müsse männlich sein und bleiben. Alles andere sei lächerlich. Der Briefwechsel enthält zahlreiche Facetten identitätspolitischer Machtkonflikte, wie wir sie bis heute kennen: die Kritik von Seiten politisch Marginalisierter; die ausdrückliche Ausgrenzung all derjenigen von legitimer politischer Teilhabe, die keine weißen Männer sind; ergänzt durch einen Verweis auf Männlichkeit als Grundvoraussetzung politischer Partizipation, die dabei zugleich als über jeden Zweifel erhabener Standard behauptet wird (und deshalb eigentlich gar keiner Erwähnung bedürfe).

In den folgenden zwei Jahrhunderten wurden Weißsein und andere Marker hegemonialer Identität immer wieder bewusst aktiviert, um eine spezifische gesellschaftliche und politische Machtordnung zu begründen. Vor allem in Zeiten der – wirklichen oder geglaubten – Gefährdung bestehender gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zielten hegemoniale Identitätspolitiken offensiv darauf ab, diese Kräfteverhältnisse zu konservieren oder zu restaurieren. Beispielsweise ist der Ku-Klux-Klan nach dem Ende der Sklaverei als militant-politische Bastion weißer Männlichkeit gegründet worden, als diese ihre Hegemonie durch die Emanzipation schwarzer Sklavinnen und Sklaven gefährdet sah. Als Bastion weißer protestantischer Vorherrschaft wurde der Klan auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehrfach mobilisiert. Der Klan war dabei mehr als eine gewaltbereite klandestine Organisation, denn sein Kampf für die Herrschaft des Weißseins wirkte offen in den gesellschaftlichen Alltag und bis in die Spitzen der Politik hinein. Überhaupt ist die gesamte Segregation als eine Form der Politik zu lesen, die das Weißsein mobilisiert, um daraus politische und gesellschaftliche Hegemonie abzuleiten. Das passing, also der Versuch, die Ordnung rassistischer Privilegierung zu unterwandern und als weiß durchzugehen, um beispielsweise einen besseren Job zu bekommen, wäre im Gegensatz dazu als eine Identitätspolitik eigener Nicht-Sichtbarmachung zu deuten.

Auch hat der White Anglo-Saxon Protestant (WASP), um hier noch ein weiteres Beispiel anzuführen, als Kernfigur angeblich generischen Amerikanischseins erst im späten 19. Jahrhundert seine schärfste Gestalt angenommen, als ein angelsächsischer Nativismus um sich griff. Dessen Kontext war eine ebenso ausgeprägte wie diffuse weiße, protestantische Angst vor ethnischen und religiösen Verschiebungen innerhalb der US-Bevölkerung infolge ansteigender süd- und osteuropäischer, jüdischer und katholischer Einwanderung. Zwar baute man damals keine Grenzmauer, führte aber verschiedene Grenzkontrollen ein und erließ letztlich ein Einwanderungsgesetz, das ausdrücklich eine anhaltende Dominanz des Weißseins sowie des Protestantismus in den USA gewährleisten sollte.

Identitätspolitik historisieren – IV

An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass die sozialen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre innerhalb einer gesellschaftlichen und politischen Konfiguration agierten, die zwei Jahrhunderte lang Macht und Teilhabe über Identitätskategorien reguliert hatte. Mit dem Instrument der Identitätspolitik größere Gleichheit erreichen und die weiße, männliche, heterosexuelle Hegemonie aufbrechen zu wollen, war insofern nur folgerichtig. Zugleich kann nur wenig überraschen, dass ein weißer, männlicher, heteronormativer Backlash gegen die sozialen Bewegungen nicht lange auf sich warten ließ. Was schon 1968 unter Präsident Richard Nixon begonnen hatte, nämlich das Bemühen um die Restauration weißer, christlicher, kernfamilienorientierter Amerikaner im gesellschaftlichen Zentrum, sollte dann im Zeitalter Ronald Reagans zu voller Blüte gelangen. Denn die 1980er Jahre waren nicht nur durch die Entfaltung postmoderner, pluraler, flüchtiger, flexibler Gesellschaften ohne festes Zentrum geprägt, sondern auch durch ein zunehmend reaktionäres Streben nach politischer wie identitärer Stabilität und Statik. Reaktionär zu sein, bedeutet hier, eine politische Vision zu haben, die sich aus der Vergangenheit speist, aber eben auf die Zukunft richtet. Die Erfolge der sozialen Bewegungen wurden als Ursache eines gesellschaftlichen Verfalls der USA präsentiert, dem es eine weiß, heteronormativ wie christlich-konservativ re-zentrierte Vision des Landes entgegenzustellen gelte. Bald sahen sich reaktionäre Kräfte in einen Kulturkampf mit linksliberalen Progressiven verwickelt und um "die Seele des wahren Amerika" ringen, so der Politiker Patrick Buchanan 1992. Und während ausgangs des 20. Jahrhunderts einige progressiv-liberale Positionen kritisch fragten, ob man das Konzept der Identität nicht endlich hinter sich lassen solle, weil es die Unterscheidung zwischen "uns" und "den Anderen" erst hervorgebracht habe, strebten reaktionäre Positionen eine identitäre Stabilisierung des gesellschaftlichen Zentrums als politisches Ziel an.

"Make America white again"

Im 21. Jahrhundert hat eine Reihe weiterer Erfahrungen diese hegemoniale Identitätspolitik zusätzlich befeuert. Zunächst ist da das diffuse Gefühl vor allem (aber nicht nur) der weißen Arbeiterklasse, zu den großen Verlierern von Globalisierung und flexiblem Kapitalismus zu gehören. Dabei wissen wir, dass der "toxische Politikmix" aus weniger Sozialstaat und mehr Strafen vor allem für die afroamerikanische Community katastrophale Folgen hat. Weiterhin hat der 11. September 2001 für zusätzliche Skepsis und Angst vor all den Menschen gesorgt, die nicht sofort als weiß und christlich erkennbar scheinen. Dies hat dazu beigetragen, dass die entsprechenden identitätspolitischen Stimmen in zunehmendem Maße von einem ethnonationalen Grundton getragen sind, wenn sie von amerikanischer Größe sprechen. Hierzulande nimmt dieser Grundton gern eine völkische Prägung an.

Für die womöglich größte Irritation sorgten jedoch die Wahl Barack Obamas und damit der Einzug der ersten schwarzen Familie ins Weiße Haus. Obamas Wahl 2008 schien wie der politische und symbolische Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung und damit einer pluralistischen Identitätspolitik, doch zugleich bedeutete sie eine neuerliche Dynamisierung des weißen Backlashes. Konservative Gruppen "zorniger weißer Männer" riefen dazu auf, "sich das Land zurückzuholen", also einen als ursprünglich und rechtmäßig erachteten Zustand weißer Hegemonie wiederherzustellen. Die Nähe zur Rhetorik der AfD ist frappierend. Die anhaltend, vor allem auch von Donald Trump kolportierte Behauptung, Obama sei nicht in den USA geboren und/oder ein Moslem, verdeutlicht auch, wie stark das Echo des 11. Septembers in der heutigen hegemonialen Identitätspolitik nachhallt. Es scheint tatsächlich ein vorrangiges politisches Ziel der Trump-Präsidentschaft zu sein, die Spuren seines Vorgängers aus der Geschichte auszuradieren. "Make America Great Again" heißt nicht nur, nach innen wie nach außen aggressiv aufzutreten, ohne Rücksicht und immer den scheinbaren Vorteil Amerikas im Auge habend. "Make America Great Again" ist auch als Aufforderung und als Versprechen zu verstehen, offensiv hegemoniale Identitätspolitik zu betreiben und vor allem die Hegemonie des Weißseins wiederherzustellen. Das Szenario, gleich nach dem ersten Afroamerikaner die erste Frau als Präsidentin zu haben, hat die Konjunktur hegemonialer Identitätspolitik noch weiter verstärkt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Mark Lilla, The End of Identity Liberalism, in: New York Times, 20.11.2016, S. SR1; ders., The Once and Future Liberal. After Identity Politics, New York 2017.

  2. Vgl. Katherine Franke, Making White Supremacy Respectable. Again, 21.11.2016, Externer Link: http://blog.lareviewofbooks.org/essays/making-white-supremacy-respectable; Vann R. Newkirk II, This Is Who We Are. The Election of Donald Trump to the Presidency Reveals the True Character of America, November 2016, Externer Link: http://www.theatlantic.com/politics/archive/2016/11/trump-election-race-essay/507428.

  3. Vgl. Nell I. Painter, What Whiteness Means in the Trump Era, in: New York Times, 13.11.2016, S. SR4. Siehe auch dies., The History of White People, New York 2010.

  4. Vgl. Ta-Nehisi Coates, The First White President. The Foundation of Donald Trump’s Presidency Is the Negation of Barack Obama’s Legacy, October 2017, Externer Link: http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/10/the-first-white-president-ta-nehisi-coates/537909. Siehe auch ders., We Were Eight Years in Power. Eine amerikanische Tragödie, Berlin 2018.

  5. Armin Nassehi, Schwarz und Weiß. Wer ist schuld am Rechtspopulismus?, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.2016, S. 11. Vgl. auch Michael Wildt, Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburg 2017.

  6. Diese von Antonio Gramsci inspirierte Lesart des Hegemoniekonzepts ist vor allem von Raewyn Connell in die Forschung zu Geschlechtern, Gesellschaft und Macht importiert worden. Vgl. Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000; zusammenfassend Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt/M. 20182, S. 46ff., S. 65–74.

  7. Michel Foucault, Ist es also wichtig, zu denken? (1981), in: Daniel Defert/François Ewald (Hrsg.), Michel Foucault. Schriften in vier Bänden – Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 219–223, hier S. 221.

  8. Ebd. Siehe auch Martin Saar, Genealogische Kritik, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hrsg.), Was ist Kritik? Frankfurt/M. 2009, S. 247–265; Jürgen Martschukat, Eine kritische Geschichte der Gegenwart, in: WerkstattGeschichte 61/2013, S. 15–27; Joan W. Scott, Geschichte schreiben als Kritik, in: Historische Anthropologie 23/2015, S. 93–114.

  9. Franke (Anm. 2).

  10. Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I (1976), Frankfurt/M. 1983; ders., Subjekt und Macht (1982), in: Defert/Ewald (Anm. 7), Bd. IV: 1980–1988, Frankfurt/M. 2005, S. 269–294.

  11. Vgl. Walter Benn Michaels, The Trouble with Diversity. How We Learned to Love Identity and Ignore Inequality, New York 2006, der einen Gegensatz von Klasse und Identität sieht; ders. et al., What Is the Left Without Identity Politics? Four Writers Consider the Question Dividing the Democratic Party, 16.12.2016, Externer Link: http://www.thenation.com/article/what-is-the-left-without-identity-politics.

  12. Combahee River Collective Statement, April 1977, Externer Link: https://americanstudies.yale.edu/sites/default/files/files/Keyword%20Coalition_Readings.pdf.

  13. Vgl. Kimberlé Crenshaw, Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in: Stanford Law Review 43/1991, S. 1241–1299.

  14. Vgl. Patricia Purtschert, It’s #identity politics, stupid!, 22.1.2017, Externer Link: https://geschichtedergegenwart.ch/its-identity-politics-stupid.

  15. Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 32.

  16. Vgl. Daniel Wickberg, Heterosexual, White, Male. Some Recent Inversions in American Cultural History, in: Journal of American History 92/2005, S. 136–159.

  17. Brief von Abigail Adams an John Adams, 31. März 1776, sowie Brief von John Adams an Abigail Adams, 14. April 1776, Externer Link: http://www.masshist.org/digitaladams/archive/browse/letters_1774_1777.php.

  18. Vgl. Linda Gordon, The Second Coming of the KKK: The Ku Klux Klan of the 1920s and the American Political Tradition, New York 2017; Kristoff Kerl, Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er–1920er Jahre, Köln 2017.

  19. Vgl. Allyson Hobbs, A Chosen Exile. A History of Racial Passing in American Life, Cambridge MA 2014.

  20. Vgl. David Roediger, Working Toward Whiteness. How America’s Immigrants Became White. The Strange Journey from Ellis Island to the Suburbs, New York 2005.

  21. Vgl. Susan Jeffords, The Remasculinization of America. Gender and the Vietnam War, Bloomington 1989; Susan Faludi, Backlash. The Undeclared War Against American Women, New York 1991; Jeremy D. Mayer, Nixon Rides the Backlash to Victory. Racial Politics in the 1968 Presidential Campaign, in: Historian 64/2002, S. 351–366; Jürgen Martschukat, Die Ordnung des Sozialen. Väter und Familien in der amerikanischen Geschichte seit 1770, Frankfurt/M. 2013, S. 327–354.

  22. Vgl. Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998; Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003.

  23. Vgl. Mark Lilla, The Shipwrecked Mind. On Political Reaction, New York 2016.

  24. Patrick J. Buchanan, Culture War Speech. Address to the Republican National Convention, 17.8.1992, Externer Link: http://voicesofdemocracy.umd.edu/buchanan-culture-war-speech-speech-text. Vgl. Doug Rossinow, The Reagan Years. A History of the 1980s, New York 2015; Andrew Hartman, A War for the Soul of America. A History of the Culture Wars, Chicago 2015.

  25. Vgl. Stuart Hall, Wer braucht Identität? (1996), in: ders. (Hrsg.), Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften, Bd. 4, Hamburg 2004, S. 167–187; Felix Krämer, Moral Leaders. Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre, Bielefeld 2015.

  26. Donna Murch, The Clintons’ War on Drugs. When Black Lives Didn’t Matter, 9.2.2016, Externer Link: https://newrepublic.com/article/129433/clintons-war-drugs-black-lives-didnt-matter.

  27. Vgl. Henry Louis Gates Jr., In Our Lifetime. From Toiling as White House Slaves to President-Elect Barack Obama, We Have Crossed the Ultimate Color Line, in: The Root, 5.11.2008; Thomas J. Sugrue, Not Even Past. Barack Obama and the Burden of Race, Princeton 2010.

  28. Michael Kimmel, Angry White Men. American Masculinity at the End of an Era, New York 2013.

  29. Vgl. Coates (Anm. 4).

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ist Professor für Nordamerikanische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Erfurt. E-Mail Link: juergen.martschukat@uni-erfurt.de