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Selbstbestimmung und Verbraucherschutz in der Datenökonomie

Jörn Lamla

/ 14 Minuten zu lesen

Selbstbestimmung wird in der Datenökonomie zu einer Herausforderung. Wir sollten in die Lage versetzt werden, kritisch prüfen zu können, welche Werte in die Entscheidungsarchitekturen digitaler Infrastrukturen eingeschrieben sind.

Selbstbestimmung wird in der Datenökonomie zu einer Herausforderung, die die Kapazitäten der Einzelnen übersteigt und durch einen verbesserten Verbraucherschutz allein nicht zu meistern ist. Sie betrifft die Demokratie und Gesellschaft insgesamt und wirft grundlegende Gestaltungsfragen auf, die mit historischen Momenten der Verfassungsgebung verglichen werden können – geht es doch ebenso um die Formgebung von Grundrechten und politischen Basisinstitutionen. Eine Behandlung der Zukunftsfragen von Privatheit und Selbstbestimmung als individuelles Freiheits- und Abwehrrecht von Privatsubjekten, so zeigt der kritische Blick auf die Strukturdynamiken der Datenökonomie, kann dieser Aufgabe kaum gerecht werden. Dennoch ist eine solche Sichtweise, die auf Informationskontroll- und Einspruchsrechte sowie entsprechende Pflichten der Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Diensten zielt, im Daten- und Verbraucherschutz weiterhin verbreitet.

Angesichts der Asymmetrie von Kontrollpotenzialen und der Dezentrierung, die die Lebensführung unter den neuen soziotechnischen Bedingungen der Datenökonomie erfährt, sollte Selbstbestimmung nicht länger als Sache einzelner Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden. Verbraucherpolitik, so möchte ich in diesem Beitrag zeigen, muss sich zur "Verbraucherdemokratie" erweitern, die die Gestaltung von Regeln und Konventionen der Datenökonomie systematisch an Prozeduren öffentlicher Aushandlung rückbindet.

Im Folgenden werde ich dafür zunächst die Idee der Selbstbestimmung historisieren und soziologisch deuten, um darauf aufbauend neue Perspektiven aufzuzeigen und abschließend einige normative Schlussfolgerungen zu ziehen.

Autonomiefiktionen und Strukturdynamiken

Der Begriff "Selbstbestimmung" ist insofern widersprüchlich, als gesellschaftlich bedingt ist, was als Freiheit des Individuums erscheint und diesem sozial oder sogar als Wesenszug zugeschrieben wird. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich Individuen an den verantwortungsvollen Gebrauch subjektiver und politischer Freiheitsrechte gewöhnen oder sich den kalkulierenden Umgang mit ökonomischen Privatinteressen antrainieren. Die Idee subjektiver Selbstbestimmung befindet sich dann mit gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen des Rechtsstaats oder der Marktgesellschaft in einem Passungsverhältnis; der Widerspruch fällt nicht weiter auf. Gleichwohl handelt es sich aber um historische Konzepte der Selbstbestimmung, die im gesellschaftlichen Wandel an Kraft und Plausibilität verlieren können. Wenn sich die Einstellungen und Gewohnheiten der Menschen oder die institutionellen Rahmenbedingungen der Lebensführung grundlegend verschieben, wie es mit der Entfaltung der Datenökonomie mehr als wahrscheinlich wird, kann diese Freiheitsfähigkeit nicht nur ab-, sondern auch Schaden nehmen.

Um das Argument zu verdeutlichen, sei auf einen Klassiker der Soziologie verwiesen: David Riesman, Nathan Glazer und Reuel Denney beschrieben in ihrem Beststeller "The Lonely Crowd" ("Die einsame Masse") schon 1950, also noch fernab aller Digitalisierungsdynamiken, eine Entwicklung hin zu einer Gesellschaft von Verbraucherinnen und Verbrauchern, deren Charaktereigenschaften so deutlich von denen innengeleiteter Subjekte abweichen, dass sich das Problem der Autonomiegewinnung auf völlig neue Weise stelle. Der neue, zunehmend dominante Typus des außengeleiteten Charakters sei vor allem ein Informationssammler. Halt und Orientierung gewinne er nicht mehr aus verinnerlichten ethischen Prinzipien, die im turbulenten Leben wie ein in sich stabilisierter Kreiselkompass die Richtung anzeigen, sondern er suche die Umwelt wie mit einer Radaranlage permanent nach Hinweisen auf Hindernisse und Möglichkeiten ab, um seinen Kurs durchs Leben daran immer wieder neu auszurichten.

Die soziologische Qualität der Auseinandersetzung mit dieser Wandlungsdynamik besteht nun darin, dass Riesman und seine Kollegen die Entwicklung nicht nostalgisch verteufelten. Selbstbestimmung sei nicht fest an den Habitus der protestantisch geprägten, innengeleiteten Bürgerinnen und Bürger gebunden. Vielmehr müsse Autonomie immer in der Relation von individuellen Charaktereigenschaften oder Haltungen auf der einen und gesellschaftlichen Strukturbedingungen auf der anderen Seite gedacht werden. So könne das, was dem männlich geprägten bürgerlichen Privatsubjekt in bestimmten Zeiten den Glanz von Autonomie verleihe, etwa die ermöglichenden Normen, Rollenbilder und Routinen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Familie, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen zur inneren Geißel werden, die es in seiner Fähigkeit zur Veränderung, etwa zur Reduktion von Berufsarbeit, stark einschränke. Was einst als Wesenszug der Selbstbestimmung erschien, wird so zum Element starker bis suchtartiger Abhängigkeit. Umgekehrt bedeute die Abhängigkeit der Außengeleiteten von wechselnden und unberechenbaren Informationsströmen der Umwelt nicht per se den Verlust von Autonomie. Vielmehr gelte es, Selbstbestimmung zeitgemäß zu fassen und die Bedingungen hierfür zu klären.

Vor diesem Hintergrund verlieren Vorstellungen von Selbstbestimmung an Plausibilität, die Verbraucherinnen und Verbraucher überzeitlich als innengeleitete Privatsubjekte mit klaren Präferenzen und verantwortungsethischen Haltungen definieren. Solche Autonomievorstellungen finden sich bis heute keineswegs nur bei ausgewiesenen Anhängern des sogenannten Neoliberalismus, sondern ebenso mit Bezug auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder im europäischen Leitbild des mündigen Verbrauchers.

Erst in jüngerer Zeit mehren sich Versuche, solche Leitbilder zu relativieren und mit empirischen Bedingungen der Selbstbestimmung zu verzahnen. Die angebotenen Alternativen, die Verbraucherinnen und Verbraucher als verletzliche oder vertrauende und nur zum kleinen Teil verantwortungsvoll agierende Subjekte erscheinen lassen, tragen zwar der Komplexität und Unübersichtlichkeit heutiger Märkte sowie der ungleichen Ressourcenausstattung Rechnung. Zugleich verabschieden sie sich aber tendenziell von einer Neubestimmung und -gestaltung von Autonomie, die damit als leere bürgerliche Fiktion zurückbleibt.

Statt Selbstbestimmung durch staatlichen Verbraucherschutz zu ersetzen, käme es jedoch darauf an, Verbraucherschutz und Selbstbestimmung in neuer Weise zusammenzudenken. Das digitale Zeitalter bietet dafür reichlich Anlass: Mit der Entfaltung der Datenökonomie wird die Struktur der Außenlenkung derart auf die Spitze getrieben, dass sich das Problem hier in voller Schärfe stellt.

Selbstbestimmung durch Daten?

Ein (scheinbar) extremer Fall ist in diesem Zusammenhang die sogenannte Quantified-self-Bewegung. Deren Motto lautet: Selbstbestimmung durch Daten – womit vor allem quantifizierende Informationen über Körperzustände, Leistungsfähigkeiten, statistische Vergleichsmaße, Scores und so weiter gemeint sind. Ein gutes Beispiel ist das Fitnesstracking, das heißt die Nutzung von Apps wie Runtastic. Diese ermöglichen in Verbindung mit "smarter" Sensortechnologie in Mobiltelefonen oder speziellen Uhren beziehungsweise Fitnessarmbändern durch Auswertung von Körper- und Bewegungsdaten sowie den ständigen Vergleich mit anderen Personen, die eigene Fitness zu überwachen, anderen im sozialen Netzwerk zu demonstrieren und gezielt zu verbessern.

Eine Vielzahl von Tools verspricht heute Unterstützung dabei, self-tracking beziehungsweise lifelogging als Mittel der Selbsterkenntnis und -beherrschung zu nutzen. Der Typus des Informationssammlers erscheint dabei nicht länger als außengeleitet, sondern als selbstbestimmt und souverän im Umgang mit Informationen. Daten werden hierfür als Rohstoff gebraucht, und die für die Datenproduktion erforderliche Entäußerung der Person wird – entgegen der verbreiteten Assoziation des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung mit Datensparsamkeit – zur Notwendigkeit, wenn nicht gar zur allgemeinen Pflicht erklärt. Die gesteigerte Abhängigkeit von jenen Plattformunternehmen und Datendienstleistern, die diese Daten erheben, aufbereiten, klassifizieren, korrelieren, interpretieren, damit personenbezogene Profile erstellen und das soziale beziehungsweise algorithmisch generierte Feedback organisieren, wird dabei ausgeblendet. Dies wäre sicherlich nicht weiter beachtenswert, wenn es sich tatsächlich um eine Ausnahmeerscheinung handeln würde. In der Datenökonomie jedoch gewinnt dieses Modell der informationsbasierten Lebensführung paradigmatische Qualität.

Die Bestimmung des Selbst mittels digital aufbereiteter Daten und Informationen weist darin viele Facetten auf, die in ihrer Zusammenschau zu erkennen geben, wie sich die Autonomie der Individuen in Fremdbestimmung aufzulösen droht. In der Aufmerksamkeitsökonomie der sozialen Medien herrscht ein gesteigerter sozialer Druck zur Inszenierung des Selbst als singuläre und authentische Person. Die Angewiesenheit auf Feedback und Anerkennung durch andere macht es dabei erforderlich, ein feines Sensorium für Meinungsumschwünge zu entwickeln, und ein Großteil der Kommunikation dreht sich um aktuelle Trends und kulturelle Moden. Schon dies ist eine Form medial vermittelter Selbstbestimmung, die durch die datenökonomische Verwertbarkeit von Traffic und Nutzungszeiten, Netzwerkeffekten, Skalierungserfolgen und kulturellen Bedeutungen maßgeblich mitbestimmt ist. Diese vielfältigen Daten werden über die gezielt eingesetzten Bindungskräfte sozialer Netzwerke hinaus erfasst und verknüpft, um Verhalten zu beobachten und vorherzusagen, Nutzerprofile zu erstellen, neue Marktchancen zu erschließen, Erlebnisse zu personalisieren, vielleicht auch Preise zu individualisieren – alles mit dem Ziel, Zugriffschancen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher zu erhöhen.

Auch diese, häufig automatisierten Prozesse bestimmen das jeweilige Selbst mit, das sich in passgenauen (Werbe-)Angeboten wiedererkennen kann und soll. Empfehlungsalgorithmen von Musikstreamingdiensten wie Spotify etwa kombinieren Daten zu individuellen Hörgewohnheiten mit einem riesigen Datenpool, der statistische Klassifikationen von Musikstilen erlaubt. Damit unterstützt der Dienst die Verbraucherinnen und Verbraucher bei der Entwicklung ihres ganz eigenen Musikgeschmacks. Aber dieser Aspekt singulärer Identität ist dann kaum mehr als selbstbestimmt zu bezeichnen.

Die Kontrollpotenziale sind dabei asymmetrisch verteilt, und die Schere zwischen Nutzenden und Diensteanbietern öffnet sich weiter. Innengeleiteten Menschen, die nach eigenen Relevanzkriterien konsumieren und verhindern wollen, dass sich ihre Datenspuren ablösen und als Datenselbst ein Eigenleben entwickeln, bleibt oft nur die Selbstexklusion von Angeboten und Nutzungspraktiken. Jene, die der Ansicht sind, die Strategien kommerzieller Datenkraken taktisch durchkreuzen zu können, indem sie mit konstruierten Identitäten oder Falschinformationen spielen, unterschätzen indes die Möglichkeiten der Anbieter, Daten unterschiedlicher Quellen abzugleichen und in Beziehung zu setzen. Demgegenüber wird die Akzeptanz von Außenlenkung vermutlich noch zunehmen, wenn Unterstützungsangebote durch Datenreichtum, größere Rechenleistung und verbessertes machine learning immer treffsicherer werden. Es ist allerdings fraglich, ob der Komfort datenökonomischer Navigationshilfen, die bei identitätsrelevanten Problemen der Partnersuche oder der politischen Wahl ähnlich agieren wie beim Konsum oder Autofahren, den erlittenen Autonomieverlust ausgleichen kann.

Die derzeit führende Disziplin in der Entwicklung solch datenbasierter Navigationshilfen ist die Verhaltensökonomik, deren Expertise im "Anstupsen" (nudging) von Entscheidungen besteht: Durch Umgebungsreize, die bestimmte Emotionen auslösen sollen (affektives priming), oder gezielte Situationsrahmungen werden Bedeutungen und Attraktivitätswerte von Optionen verschoben, um das Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. Schon heute beschäftigen Unternehmen professionelle Verhaltensformer, die mit solcher Expertise die Kundenbindung und Zahlungsbereitschaft effektiv zu steigern versprechen. Beispielsweise werden über sogenanntes A/B-Testing verschiedene App-Versionen getestet, indem unbemerkt Nutzungsdaten erhoben und ausgewertet werden, um durch Designverbesserungen Nutzungszeiten und Umsätze zu erhöhen. Bei Online-Spielen wird auf diese Weise das Suchtpotenzial gezielt gesteigert. In der Datenökonomie entwickeln sich diese Techniken zum hypernudging, das durch umfassendes sensorgestütztes Monitoring, Big-Data-Analysen, verbesserte Vorhersagemodelle und die Möglichkeit zur Echtzeitreaktion, zum Beispiel abhängig von emotionalen Erregungszuständen, immer präzisere Verhaltensimpulse zu setzen vermag. Nicht nur Privatunternehmen und Krankenkassen, sondern auch Regierungen sind an solchem Beeinflussungswissen äußerst interessiert.

Widerspruch des libertären Paternalismus

Selbstbestimmung, verstanden als rekursiver Optimierungsprozess der Entäußerung und Freigabe persönlicher Daten, der maschinellen Verarbeitung und Verknüpfung solcher Daten durch Dritte, der Ableitung verborgener personalisierter Verhaltensimpulse und deren evidenzbasierter Erfolgsmessung, ist von Fremdbestimmung nicht mehr zu unterscheiden. Vertreterinnen und Vertreter der Verhaltensökonomik verweisen zur Verteidigung auf den Ansatz des libertären Paternalismus: Anstupser würden das Verhalten keineswegs so starr festlegen wie Vorschriften oder Zwangsmaßnahmen. Das handelnde Subjekt sei immer noch frei, sich anders zu entscheiden. Es könne in der Kantine weiterhin zu den zuckerhaltigen Riegeln greifen, nachdem die Obstschale prominenter platziert wurde; auch könne es die Bereitschaft zur Organspende zurückziehen, sollte das Verfahren auf "Opt-out" umgestellt werden. Doch für die Reproduktion jener Entscheidungsautonomie, die der libertäre Paternalismus hier unterstellt, wird mit seinen empirisch motivierenden Bindungstechniken nichts mehr getan. Vielmehr setzt er Kompetenzen voraus, die mit seiner erfolgreichen Ausbreitung verdrängt werden. Diese Kompetenzen zu stärken, wird daher zur Aufgabe für den Verbraucherschutz.

In der Verbraucherpolitik manifestiert sich der Widerspruch jedoch ebenso: Auch sie will Verbraucherinnen und Verbrauchern vermehrt mittels nudging helfen, ihre wohlverstandenen Interessen einschließlich ihrer informationellen Selbstbestimmungsansprüche zu realisieren. Nicht nur Lebensmittelampeln mit Signalwirkung, sondern auch gesetzlich vorgeschriebene Voreinstellungen im Bereich des Daten- und Privatheitsschutzes (Privacy by Default, Opt-in-Verfahren, erleichterte Verschlüsselung privater Kommunikation) sind hierfür typisch. Damit scheint es über die gesellschaftliche Nützlichkeit der Daten- und Verhaltensökonomie einen breiten Konsens zu geben. Lediglich über die Richtung der Verhaltenssteuerung und die zentralen Werte, die damit wirksam werden sollen, wird noch gestritten.

Dabei geht es nicht selten symbolpolitisch zu: Nicht um Profitanteile oder die Sicherung von politischen Einflusspotenzialen, sondern allein um Gesundheitsförderung oder nachhaltigen Konsum geht es dann – und Cookies dienen selbstverständlich ausschließlich der Serviceverbesserung. Doch nur wer eine unabhängige kritische Öffentlichkeit nicht mehr zu fürchten braucht, kann sich auf solche Muster der nachträglichen Rationalisierung datenökonomischer Praktiken und Geschäftsmodelle zurückziehen. Der Schutz und die politische Stärkung der Verbraucherinnen und Verbraucher könnten hier ansetzen: Diese müssten in die Lage versetzt werden, kritisch prüfen zu können, welche Werte und Präferenzen in die Entscheidungsarchitekturen der Datenökonomie eingeschrieben sind und ob es sich dabei tatsächlich um die ihres wohlverstandenen Interesses handelt. Sie dürften demnach den Verhaltensimpulsen nicht nur empirisch folgen, sondern müssten ihr Einverständnis auch nach kritischer Prüfung noch erteilen können. Doch was meint solche kritische Kompetenz in der Datenökonomie genau, und wie lässt sie sich unter deren Bedingungen entfalten?

An dieser Stelle hilft die Soziologie der Infrastrukturen weiter. Für die Verbraucherinnen und Verbraucher wirkt die verhaltensökonomisch eingerichtete und sich zunehmend automatisiert und in Echtzeit anschmiegende datenökonomische Umwelt – zumindest dort, wo sie erfolgreich eingerichtet ist – wie eine zweite Natur, eben "smart", aber damit auch undurchdringlich. Infrastrukturen ermöglichen Gewohnheitsbildung und stabilisieren gesellschaftliche Konventionen.

Ganz anders sieht es aus der Perspektive der Designerinnen und Designer dieser gebauten Umwelten aus: Sie erscheinen als Architektinnen und Architekten von Entscheidungsprozessen und legen willkürlich oder gegebenenfalls mit strategischem Kalkül fest, welche Konventionen und normativen Aspekte im Verbraucherverhalten prioritär gelten und verfolgt werden sollen. Das Verhalten läuft in infrastrukturellen Bahnen nicht zuletzt deshalb gerichtet ab, weil die Festlegung der Verhaltensausrichtung durch die Entscheidungsarchitektur irgendwann aus dem Blickfeld verschwindet. Problematisch ist aber, dass diese normativen und verhaltensnormierenden Vorentscheidungen unter den Gestaltungsbedingungen der Datenökonomie nicht länger mühsam politisch ausgehandelt werden müssen, sondern überhaupt nicht mehr in den Blick geraten.

Hier ist die Verbraucherpolitik gefordert: Um das Prinzip und die Möglichkeit der Selbstbestimmung gegen die Eigendynamik der Datenökonomie zu verteidigen, sollte zum einen gesetzlich festgeschrieben werden, dass Prozesse der digitalen Infrastrukturgestaltung nach demokratischen Prinzipien der kollektiven Selbstbestimmung und Aushandlung zu gestalten sind. Diese Prozesse dürfen nicht länger den verborgen operierenden Entscheidungsarchitektinnen und -architekten überlassen werden, die für die Gestaltungseliten der Digitalwirtschaft arbeiten. Zum anderen sollten die Infrastrukturen der Datenökonomie verpflichtend so gestaltet werden müssen, dass sie die Kompetenz zur kritischen Reflexion von normierenden Designentscheidungen erhalten oder sogar steigern.

Bewertungskompetenz: Verbraucherschutz als digitale Infrastrukturgestaltung

Genauso wie die Hierarchisierung der Werte in der autogerechten Stadt aus umweltpolitischer Sicht kritikwürdig erscheint, müsste der politische Gehalt infrastruktureller Vorfestlegungen auch im digitalen Zeitalter öffentlich präsent gehalten werden. Man denke nur an die Planungsfantasien für eine umfassende Verhaltenslenkung und Überwachung in "Smart Cities". Der Verbraucherschutz sollte mithin dabei helfen, die Bedingungen demokratischer Selbstbestimmung langfristig zu sichern, anstatt mit den gleichen Steuerungsmitteln um Anteile an den "Verhaltensterminkontraktmärkten" der Datenökonomie zu kämpfen.

Hierzu müsste die Verbraucherpolitik ein neues, alternatives Gestaltungsparadigma der "Verbraucherdemokratie" entwickeln und im Bereich datenökonomischer Infrastrukturen zur Anwendung bringen. Dieses könnte und sollte den informationsabhängigen Verbraucherinnen und Verbrauchern die kritische Reflexion und Evaluation infrastruktureller Vorfestlegungen von Wertordnungen und Bewertungsprozeduren erleichtern, aber auch abverlangen. Hierfür müsste nicht länger die fragwürdig gewordene Gegebenheit innengeleiteter Subjekte vorausgesetzt oder angestrebt werden. Vielmehr würde die Autonomie an Strukturen und Prozeduren kritischer Evaluation gebunden, die auch kollektive Praktiken und Möglichkeiten professioneller Unterstützung und Stellvertretung einschließen. Sogar nudging und gamification könnten eine Rolle spielen, wenn diese Techniken statt von moralischer Reflexion zu entlasten, durch Framing, soziales Feedback oder emotionale Gratifikationen umgekehrt Prüfungen ermuntern, inwiefern Algorithmen, Plattformen oder Interfaces diskriminieren, manipulieren oder sich Einsprüchen entziehen.

Eine Schwierigkeit dieses neuen Ansatzes liegt nun darin, dass Praktiken der Bewertung und Evaluation bereits als fester Bestandteil verhaltensökonomischer Entscheidungsarchitekturen in den digitalen Infrastrukturen verbreitet sind. Nahezu überall werden Verbraucherinnen und Verbraucher mit der Vergabe von Sternchen, mit Rankings und Ratings konfrontiert, werden ihnen Testergebnisse und Empfehlungen angeboten und sind sie zugleich aufgefordert, sich selbst durch Kommentare, Likes oder authentische Erfahrungsberichte an solchen Bewertungsprozeduren zu beteiligen.

Insofern – so könnte man meinen – erfüllt die Datenökonomie doch längst das Kriterium, Kritik anzuregen und kritische Kompetenzen der Verbraucherinnen und Verbraucher zu schulen. Eine solche Einschätzung übersieht jedoch, dass diese Bewertungspraktiken die Äußerung von Kritik als Element einer verhaltensökonomisch gestalteten Bewertungslandschaft mit programmierten Verhaltensroutinen ununterscheidbar verschmelzen. Die menschlichen und maschinellen Bewertungen und Empfehlungen dienen maßgeblich der sozialen Einbettung von digitalen Märkten und datenökonomischen Geschäftsmodellen, indem sie Vertrauen, Loyalität und Akzeptanzbereitschaft generieren. Das Resultat aber ist eine hybride Intelligenz, die Kritik nur noch in vorgezeichneten Bahnen zulässt und gegenüber den architektonischen Vorentscheidungen ihre Distanz und unabhängige Urteilskraft verliert.

Soll ein solcher gesellschaftlicher Digitalisierungspfad vermieden werden, muss in die fortschreitende Hybridisierung von menschlicher und künstlicher Intelligenz eine Sollbruchstelle, in das rekursive, datenbasierte Trainieren von Menschen und Maschinen eine Unwucht eingebaut werden. Erforderlich sind Infrastrukturen, die eine kritische Bewertung und Evaluation der Rahmengestaltung von Algorithmen und Bewertungsordnungen initiieren und wachhalten. Transparenzpflichten hinsichtlich der mit Algorithmen- und Interfacegestaltung verbundenen Normierungsabsichten allein reichen dafür nicht aus, da auch die nicht beabsichtigten Folgen und Diskriminierungseffekte Beachtung finden müssen. Vielmehr sollten Prozesse der Informationstechnikgestaltung gezielt und wiederkehrend mit der Pluralität möglicher Konventionen und Bewertungsordnungen konfrontiert werden, um kritische Reflexionen über deren infrastrukturelle Priorisierung anzuregen.

Diese Praxis müsste zudem mit den Bewertungs- und Entscheidungsroutinen der Verbraucherinnen und Verbraucher verzahnt werden. Denn es macht einen Unterschied, ob diese in den Bahnen der Schnäppchenjagd oder sozialen Statuskonkurrenz, der Bequemlichkeit oder gesundheitspolitischer Fitnessideale, der ästhetischen Anmutung, kulturellen Diversität oder ökologischen Nachhaltigkeit verlaufen. Die Kontroversen, mit denen die Verbraucherpolitik in Bereichen wie Energie, Wohnen, Verkehr, Tourismus, Ernährung oder Kosmetik laufend konfrontiert ist, können eine solche Pluralität präsent halten. Die Kompetenz zur Selbstbestimmung in der Datenökonomie bildet und erhält sich dann in dem Maße, wie die Verbraucherinnen und Verbraucher ebenso wie die Designerinnen und Designer lernen, die Pluralität und prinzipielle Offenheit von Wert- und Bewertungsordnungen in den Alltagsroutinen und technischen Infrastrukturen nicht länger verdrängen zu müssen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer, Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Hamburg 1958, insb. S. 251ff.

  2. Vgl. Anthony Giddens, Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: ders./Ulrich Beck/Scott Lash, Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/M. 1996, S. 113–194, insb. S. 129ff. sowie ders., Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1993, insb. S. 86ff.

  3. Vgl. Riesman/Denney/Glazer (Anm. 1), S. 272.

  4. Vgl. Hans-Werner Micklitz et al., Der vertrauende, der verletzliche oder der verantwortungsvolle Verbraucher? Plädoyer für eine differenzierte Strategie in der Verbraucherpolitik. Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und Ernährungspolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Berlin 2010; Christoph Strünck, Der mündige Verbraucher. Ein populäres Leitbild auf dem Prüfstand, in: Christian Bala/Klaus Müller (Hrsg.), Abschied vom Otto Normalverbraucher. Moderne Verbraucherforschung: Leitbilder, Informationen, Demokratie, Essen 2015, S. 19–28.

  5. Vgl. Ramón Reichert, Die Vermessung des Selbst. Self-Tracking in der digitalen Kontrollgesellschaft, in: Michael Friedewald/Jörn Lamla/Alexander Roßnagel (Hrsg.), Informationelle Selbstbestimmung im digitalen Wandel, Wiesbaden 2017, S. 91–107.

  6. Vgl. Steffen Mau, Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017, S. 167.

  7. Vgl. Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017, insb. S. 225ff.

  8. Vgl. Jonathan Kropf, Recommender Systems in der populären Musik. Kritik und Gestaltungsoptionen, in: ders./Stefan Laser (Hrsg.), Digitale Bewertungspraktiken. Für eine Bewertungssoziologie des Digitalen, Wiesbaden 2018, S. 127–163.

  9. Vgl. Jörn Lamla/Carsten Ochs, Selbstbestimmungspraktiken in der Datenökonomie: Gesellschaftlicher Widerspruch oder "privates" Paradox?, in: Birgit Blättel-Mink/Peter Kenning (Hrsg.), Paradoxien des Verbraucherverhaltens, Wiesbaden 2019, S. 25–39, hier S. 31ff.

  10. Vgl. Richard H. Thaler/Cass R. Sunstein, Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2011.

  11. Vgl. Nir Eyal, Hooked. Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen, München 2014.

  12. Vgl. Katharina Zweig et al., Kontinuierliches A/B-Testing zur Optimierung von Spielerbindung und Monetarisierung bei "Freemium"-Spielen, in: Birgit Blättel-Mink/Peter Kenning (Hrsg.), Paradoxien des Verbraucherverhaltens, Wiesbaden 2019, S. 43–57.

  13. Vgl. Karen Yeung, "Hypernudge": Big Data as a Mode of Regulation by Design, in: Information, Communication & Society 1/2017, S. 118–136.

  14. Vgl. etwa Susan Leigh Star/Karen Ruhleder, Steps Toward an Ecology of Infrastructure: Design and Access for Large Information Spaces, in: Information System Research 1/1996, S. 111–134.

  15. Vgl. Thaler/Sunstein (Anm. 10), S. 118ff.

  16. Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt/M.–New York 2019, S. 25. Siehe auch den Beitrag von Zuboff in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  17. Vgl. Jörn Lamla, Verbraucherdemokratie. Politische Soziologie der Konsumgesellschaft, Berlin 2013.

  18. Vgl. ebd., S. 278ff.

  19. Vgl. Luc Boltanski/Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jörn Lamla für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Kassel, Mitglied im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forum Privatheit sowie Sprecher des Koordinierungsgremiums im bundesweiten Netzwerk Verbraucherforschung.
E-Mail Link: lamla@uni-kassel.de