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Mexiko und die USA: zwischen NAFTA-Partnerschaft und Zweckgemeinschaft

Günther Maihold

/ 16 Minuten zu lesen

Wirtschaftskrise, Migration und Drogenökonomie dominieren die Agenda in den Beziehungen zwischen Mexiko und den USA. Von der angestreb­ten "geteilten Verantwortung" sind beide Länder noch weit entfernt.

Einleitung

Geteilte Verantwortung" war das zentrale Stichwort von US-Außenministerin Hillary Clinton bei ihrer ersten Reise nach Mexiko im neuen Amt im März 2009. Diese zunächst nur auf den sogenannten Drogenkrieg gemünzte Verortung der Beziehungen zum südlichen Nachbarn wurde dort als Chance begriffen, zu einem neuen Verhältnis untereinander zu gelangen. Doch rasch machte auch in den USA die Einordnung Mexikos als failed state die Runde. Die mexikanische Regierung hat darauf mit einer energischen Kampagne geantwortet, um zu verdeutlichen, dass sich das Land von diesem Zustand weit entfernt sieht. Das Ausmaß der Gewalt an der Grenze zu den USA hebt in einem weiteren Politikfeld den hohen Grad an Interdependenz zwischen beiden Ländern im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) hervor. Auch wenn sich in Mexiko kein allgemeines Staatsversagen feststellen lässt, so sind doch Räume begrenzter Staatlichkeit zu erkennen, die bei weitem nicht das ganze Land erfassen, aber mit deutlichen Einschränkungen bei der Gewährleistung grundlegender staatlicher Leistungen verbunden sind.

Der Problemhaushalt im bilateralen Verhältnis geht insoweit über die Regelung bloßer Nachbarschaftsbeziehungen hinaus: An der gemeinsamen Grenze und im Grenzraum beider Länder kristallisieren sich Sicherheitsprobleme, Migrationsfragen, wirtschaftliche Dynamiken und Krisen, Transport- und Logistiknotwendigkeiten, Energie- und Umweltkonflikte sowie Urbanisierungsfolgen. Diese "Hyper-Grenze" definiert das Verhältnis beider Länder offensichtlich mehr als es den Politikern lieb ist, obwohl sie das Geschehen an der Grenze natürlich auch als politische Bühne zu nutzen wissen.

Leben an und jenseits der Grenze

Mexiko als Ursprungs-, Transit-, Ziel- und Rückkehrland von Migranten hat diese vielfältige Eigenschaft lange nur eindimensional in seinem Verhältnis zu den USA wahrgenommen. Dafür spricht die hohe Zahl von jährlich rund 550.000 Staatsbürgern, die die Grenze nach Norden illegal überqueren, zu denen aber noch jährlich etwa 140.000 Migranten aus Zentralamerika stoßen, die über Mexiko den Weg in die USA suchen. Auch wenn viele von ihnen dabei nicht erfolgreich sind und von den US-Behörden wieder abgeschoben werden, so ist doch das Migrationsphänomen inzwischen in seiner Süd-Nord-Dimension konstitutiv für einen großen Teil der Beziehungen zwischen Mexiko und den USA geworden, ohne dass die von Mexiko mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens 1994 erwartete Entspannung in diesem Bereich eingetreten wäre. Die wirtschaftlichen Asymmetrien haben sich nicht signifikant verändert; die Motivation zum Verlassen des Heimatlandes hat zwar durch die Wirtschaftskrise in den USA konjunkturbedingt nachgelassen, aber in der Substanz sind die push- und pull-Faktoren, die das Migrationsgeschehen bestimmen, dieselben geblieben (Unsicherheit und eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten in Mexiko, Erwartung auf erhöhten Lebensstandard und Familienzusammenführung in den USA).

Doch die restriktiven Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt der USA im Rahmen der Migrationskontrolle haben die zirkulären und temporären Wanderungsbewegungen mexikanischer Arbeitskräfte eingeschränkt. Von den rund 30 Millionen Mexikanern, die heute in den USA leben, sind 11,8 Millionen in Mexiko geboren, 18,5 Millionen sind sogenannte Mexican Americans, also in den USA zur Welt gekommen. Damit stellen sie zehn Prozent der Bevölkerung der USA und dominieren mit einem Anteil von zwei Dritteln die Gruppe der Hispanics, der aus Lateinamerika bzw. Spanien stammenden Bevölkerungsgruppe. Dank dieser Präsenz in den USA flossen 2010 mehr als 21 Milliarden US-Dollar an Überweisungen an Familienmitglieder nach Mexiko - ein Devisenzufluss, der 2006 noch über 26 Milliarden Dollar betragen hatte. Damit liegt diese Summe noch immer deutlich über den ausländischen Direktinvestitionen in Mexiko, die 2010 etwa 18 Milliarden Dollar erreicht hatten. Wer sich vor Augen führt, dass sowohl bei den privaten Rücküberweisungen als auch bei den Auslandsinvestitionen der Anteil aus den USA bei über 85 Prozent liegt, kann erahnen, dass die Wirtschaftskrise in den USA auch in Mexiko deutliche Auswirkungen hatte.

Von NAFTAplus zu Post-NAFTA

Mit dem Jahr 2010 sind die meisten der auf den Freihandel ausgerichteten Regelungen des NAFTA-Abkommens in die Realität umgesetzt. Damit ist die ursprüngliche Agenda dieses Abkommens weitgehend abgearbeitet, und die schon früher lancierten Überlegungen einer erweiterten Kooperationsagenda zwischen Kanada, Mexiko und den USA haben an Bedeutung gewonnen. Dahinter steht nicht nur die Frage nach der Konsolidierung einer Wirtschaftsgemeinschaft in Nordamerika, sondern auch die Überlegung, dass Themen wie die Energieversorgung und die Gewährleistung von Sicherheit auf die gemeinsame Agenda gesetzt werden sollten. Diese schon im Jahr 2000 vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox (2000-2006) propagierte Idee eines NAFTAplus zielt vor allem auf das Thema Migration, das für Mexiko auch weiterhin höchste Priorität besitzt, aber gleichzeitig mit dem Partner USA seit Jahrzehnten kaum befriedigend zu bearbeiten ist. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 sind die Spielräume hierfür noch weiter geschrumpft, da das Thema der Grenzsicherung in den USA hohe innenpolitische Priorität gewann. Mit der 2005 zwischen den Regierungschefs bzw. Präsidenten der Mitglieder des NAFTA-Verbunds vereinbarten Partnerschaft für Sicherheit und Prosperität (Security and Prosperity Partnership of North America, SPP) wurde zwar eine Erweiterung der Kooperationsagenda vereinbart, in deren Rahmen über verschiedene Arbeitsgruppen zu Themen wie Transport, Energie, Umwelt oder Finanzdienstleistungen konkrete Schritte vereinbart werden sollten, aber schon 2009 war diese SPP-Initiative wieder eingeschlafen. Erneut erwies sich, dass die USA, aber auch Kanada, nur sehr begrenzt Interesse daran hatten, über den Freihandel hinaus Vereinbarungen zu treffen und den von Wissenschaftlern immer wieder geforderten Weg zur Nordamerikanischen Gemeinschaft in Anlehnung an den europäischen Integrationsprozess einzuschlagen.

Für die USA wie für Kanada sind offensichtlich Kooperationsmuster attraktiver, die den trilateralen Rahmen des NAFTA-Abkommens für hinreichend ansehen, um unter diesem Dach multiple bilaterale Übereinkommen abzuschließen. Ein solcher themen- und politikfeldbezogener Ansatz enthebt einerseits die Mitgliedstaaten von der Notwendigkeit, bestimmte Verhandlungen sofort im Dreierformat führen zu müssen und kommt andererseits dem Interesse der USA an einem multiplen Bilateralismus entgegen. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung der Migrationspolitik, bei der Kanada kein Interesse daran hat, die herausgehobene Position seiner Bürger bezüglich des Zugangs zum US-Arbeitsmarkt durch gemeinsame Verhandlungen mit Mexiko zu schmälern. Entsprechend haben sich auch US-amerikanische Wirtschaftsvertreter gegen das NAFTAplus-Konzept ausgesprochen und betont, dass ihnen eher an einer Gestaltung der bilateralen Beziehungen in einer Post-NAFTA-Ära gelegen ist. Dabei wird vor allem die Vereinfachung der Grenzkontrollverfahren für den Güterverkehr gefordert, um schließlich zu einer "Modellgrenze im Weltmaßstab" zu gelangen. Grundlage hierfür ist die enge Verflechtung beider Staaten: Jedes in den USA verkaufte Produkt aus Mexiko enthält 64 Prozent Input aus den USA. Insofern - so wird argumentiert - müssten die Abfertigungsbedingungen an der Grenze so gestaltet werden, dass die Versorgungsketten der Unternehmen nicht beeinträchtigt werden und den Unternehmen keine Verluste durch Staus und umständliche Verfahren drohen. Allein der Wert der US-Exporte nach Mexiko hat sich von 28 Milliarden Dollar im Jahr 1990 auf 163 Milliarden Dollar im Jahr 2010 erhöht, und neben dem Import von saisonalen Konsumgütern (Früchte, Gemüse) wird weiteres dynamisches Wachstum durch grenzübergreifende Produktionsprozesse im Bereich der Lohnveredelungsindustrie (Maquila ) erwartet, so dass eine Erweiterung des bestehenden Verbindungsnetzes dringend geboten sei.

Wenn allerdings die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen im NAFTA-Raum jenseits des erreichten Niveaus des Freihandels auf die Ebene reiner Nachbarschaftspolitik zurückfallen sollten, dann wird insbesondere für Mexiko die Erwartung auf eine tiefer gehende Partnerschaft langfristig enttäuscht. Gegenwärtig macht der Handel innerhalb Nordamerikas 36 Prozent am Gesamthandelsvolumen dieser Region aus, seit dem Jahr 2001 ist eine abnehmende Tendenz auszumachen. Die Bindung Mexikos an den nördlichen Nachbarn beschränkt insoweit die eigenen Politik- und Entwicklungsoptionen - eine Situation, die man gerade mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens hatte überwinden wollen. Das Denken in der Post-NAFTA-Kategorie statt eines Hoffens auf den Ausbau einer NAFTAplus-Agenda ist angesichts der Präferenzen der nördlichen Nachbarn wohl unausweichlich, ein konzeptioneller Neusatz für die nordamerikanische Idee dringend gefragt.

Druck auf die Grenze: Migration und Gewalt

Gewalt ist an der Grenze zwischen Mexiko und den USA zu einem alltäglichen Phänomen geworden. Dabei variieren die Gewalterfahrungen von Entführungen, Raub, Erpressung und sexueller Gewalt bis zur Ermordung durch Drogenkartelle, Schmuggler oder sogar korrupte Mitglieder der mexikanischen Sicherheitsorgane. Die Entdeckung von Massengräbern mit 72 Ermordeten im August 2010 und 145 Toten im April 2011 im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas hat erneut verdeutlicht, dass der (illegale) Grenzübertritt in die USA nicht nur durch die Umweltbedingungen (Durchquerung von Wüsten und Gewässern) mit dem Tod enden kann, auch die Versuche der Drogenkartelle, die Migranten zu Kurierdiensten zu zwingen und dadurch ihr eigenes Geschäft gewaltsam zu befördern, hat vielen verzweifelten Menschen aus Mexiko und Zentralamerika das Leben gekostet.

Die Daten weisen ein paradoxes Bild aus: Während die Zahl der Aufgriffe illegaler Migranten an der Südgrenze der USA im Zeitraum von 2004 bis 2009 um mehr als 50 Prozent zurückgegangen ist, hat sich die Zahl der Toten an der Grenze im gleichen Zeitraum um 28 Prozent erhöht. Obwohl nach Umfragen 80 bis 95 Prozent der illegalen Einwanderer auf Dienste von Schmugglerorganisationen zurückgreifen, um ihre Zukunft in den USA zu suchen, weist das mexikanische Außenministerium beinahe einen Toten pro Tag an der Grenze aus, trotz der Wirtschafts- und Finanzkrise in den USA, die zu einem deutlichen Rückgang der Migrantenzahlen geführt hat. Gegenwärtig sind 22.000 Grenzpolizisten entlang der 3.200 Kilometer langen Grenze zwischen den USA und Mexiko zur Überwachung eingesetzt, gleichwohl nehmen viele US-Bürger die illegale Migration als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit wahr. Nicht zuletzt ist dies auf die zunehmende Verquickung der illegalen Migration mit dem organisierten Verbrechen zurückzuführen, was in hohem Maße gewaltförmigen Ausdruck gefunden hat.

Neben die traditionellen Menschenschmuggler (coyotes, polleros), die den Migranten für rund 2.500 US-Dollar "sichere" Wege über die Grenze versprechen, sind die Drogenkartelle getreten, denen es vor allem um den Transport ihrer Ware und deren Vermarktung auf dem größten Konsumentenmarkt der Welt geht. Dabei gehen sie gewaltsam gegen jene Migranten vor, die sich weigern, diese Dienste zu übernehmen, wobei sich insbesondere die Gruppe der Zetas als besonders gewalttätig erwiesen und Massenexekutionen vorgenommen hat. Damit vermengen sich die Problemfelder Migration und Drogenökonomie im ohnedies schwierigen Beziehungsfeld zwischen Mexiko und den USA. Die Sicherheitsinteressen beider Nationen werden damit politisch schwer zu managen, und in der politischen Auseinandersetzung gewinnen Vorurteile und Ängste an Präsenz.

Menschenschmuggel und Drogenhandel sind heute die maßgeblichen Kennzeichen des illegalen Grenzverkehrs zwischen Mexiko und den USA, zunehmend gerät auch der intensive grenzüberschreitende Warenaustausch in die Reichweite dieser kriminellen Aktivitäten. Dies ist nicht weiter verwunderlich angesichts einer Grenze, die heute als die meistüberschrittene gilt. Nach Daten der US-Regierung überquerten im Jahr 2010 165,7 Millionen Personen in Autos oder zu Fuß die Grenze nach Mexiko, mehr als 4,5 Millionen Container wurden per LKW ins Nachbarland verbracht. Die Frage der Sicherung und gleichzeitigen Offenheit der Grenze erhält damit zentrale Bedeutung.

Grenzsicherung - zwischen Liberalisierung und Kriminalisierung

Kontrollverlust ist das zentrale Schlagwort, das von Seiten der USA zur Beschreibung der Lage an ihrer Südgrenze benutzt wird. Dieses Argument, das schnell zu einer Erzählung von der Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Migration und Drogenökonomie ausgebaut werden kann, dominiert das beiderseitige Verhältnis und ist dazu angetan, die jeweilige innenpolitische Debatte anzuheizen. Obwohl das staatliche Handeln in beiden Problembereichen weitgehend nur reaktiven Charakter besitzt und seine Steuerungswirkung damit sehr eingeschränkt ist, ist die symbolische Besetzung des Grenzthemas durch die Politik extrem wichtig. Zwar bestand auch in historischer Perspektive nie eine auch nur annähernd erfolgreiche Kontrolle über den Grenzbereich, aber die Sicherung der Südgrenze hat in den USA mit dem Bau eines 1.000 Kilometer langen Grenzzauns verbunden mit technologischer Aufrüstung an der Grenzlinie einen neuen Höhepunkt erlangt. Mit Kameras und Sensoren sowie der personellen Aufstockung der Grenzpolizei (Border Patrol) soll eine Abschreckungswirkung erzielt werden, die potenzielle Migranten von einer illegalen Überquerung der Grenze abhalten soll. Gleichzeitig soll auch der Schmuggel von Menschen und Drogen eingeschränkt werden, um dem Sicherheitsbedürfnis der im Grenzraum wohnenden Bevölkerung entgegenzukommen.

So wird der Aufbau gemeinsamer Grenzsicherungsteams zwischen Mexiko und den USA (Border Enforcement Security Task Forces, BEST), die auch lokale, bundes- und zentralstaatliche Sicherheitsagenturen einschließen, als sehr erfolgreich angesehen, da damit die gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit an der Grenze wahrgenommen werde. Mit speziellen Aktionen wie der "Operation in Plain Sight" versuchen die US-Sicherheitsbehörden bei Transportunternehmen im grenznahen Bereich (Bundesstaat Arizona) den Weitertransport von Migranten, denen der illegale Übertritt in die USA gelungen ist, zu unterbinden. Zugleich leiten die betroffenen US-Bundesstaaten zunehmend eigene Schritte gegen die illegale Migration ein. Besonders bekannt geworden ist dabei die Arizona Senate Bill 1070, die ein hartes Vorgehen gegen illegale Migranten und jene Unternehmen vorsieht, die diese beschäftigen oder transportieren. Mit diesem repressiven Zugang soll geltendes Recht konsequenter umgesetzt werden, um die Bürger des Staates besser zu schützen - eine Forderung, die in den USA sehr populär ist, so dass diese Initiative - obwohl sie gegenwärtig aufgrund eingereichter Klagen noch nicht vollständig in Kraft getreten ist -, in anderen Bundesstaaten bereits Nachahmer gefunden hat.

Alternative Überlegungen zur Regulierung des Migrantenflusses, etwa in Gestalt von Gastarbeiterprogrammen oder Legalisierungsmaßnahmen unterschiedlicher Art für die illegal im Land befindliche Bevölkerung mexikanischen Ursprungs finden gegenwärtig keine Akzeptanz unter den Meinungsführern im amerikanischen Kongress. Da sich dieser zudem bereits am Beginn des (parteiinternen) Wahlkampfes befindet, sind für die kommenden Jahre keine über Wahlversprechen hinausgehenden Initiativen zu erwarten.

Mexikos Südgrenze - die dritte Grenze der USA

Das sicherheitspolitische Argument hat bezüglich der Grenzen Mexikos eine Erweiterung erfahren, denn zunehmend rückt auch die mexikanische Südgrenze in das Zentrum der US-amerikanischen Aufmerksamkeit. Nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Verlagerung von Aktivitäten der Drogenkartelle nach Zentralamerika wird immer deutlicher, dass sich die mexikanische Politik einseitig nach Norden orientiert und der Entwicklung der Beziehungen zu den südlichen Nachbarn nur sehr begrenzt gewidmet hat. Gerade in Bezug auf Zentralamerika bleiben die Leistungen Mexikos deutlich hinter den verbalen Solidaritätsbekundungen zurück.

Bis heute hat sich Mexiko schwer damit getan, seine Situation als Transitland für Migranten anzunehmen und eine entsprechende Politik zum Schutz der betroffenen Personen zu entwickeln. 2010 wurden laut nationalem Einwanderungsinstitut (Instituto Nacional de Migracion) 62.141 illegale Migranten aufgegriffen und abgeschoben, was nicht einmal einem Fünftel aller Migranten entsprechen dürfte. Diese "Migranten, die nicht wichtig sind" oder als "unsichtbare Opfer" aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt sind, erhalten in Mexiko kaum Schutz durch staatliche Einrichtungen, vielmehr müssen Nichtregierungsorganisationen sie bisweilen sogar vor Übergriffen der Sicherheitsorgane bewahren. Das Bild einer "unsicheren Grenze" wiederholt sich insoweit auch im Süden des Landes: Die 1.000 Kilometer lange Südgrenze Mexikos mit Guatemala und Belize ist nur schwer zu kontrollieren, so dass viele Festnahmen auf den Transitstrecken in Richtung Norden vollzogen werden. Die vielfach genutzten Güterzüge erweisen sich dabei häufig als Falle für die Migranten, da die blinden Passagiere nicht nur den Gefahren der Reise selbst, sondern auch der Ausbeutung und Entführungen durch kriminelle Gruppen, Mitglieder der Sicherheitsorgane und Jugendbanden (maras) ausgesetzt sind.

Die Entführung von Migranten und die Erpressung von Lösegeld von ihren Verwandten für die Freilassung hat sich zu einem lukrativen Wirtschaftszweig des organisierten Verbrechens entwickelt, dessen Ertrag von der mexikanischen Menschenrechtskommission (Comision Nacional de Derechos Humanos) bei rund 18.000 vermuteten Entführungsfällen auf 50 Millionen US-Dollar pro Jahr geschätzt wird. Da die Betroffenen fürchten, unmittelbar abgeschoben zu werden, erfolgt meist keine Anzeige; entsprechend hoch ist die Dunkelziffer. Dies gilt in noch viel höherem Maße für die sexuelle Ausbeutung von Migrantinnen und Kindern, die zu Opfern des Menschenhandels werden. Auch in diesem Bereich hat sich ein Markt herausgebildet, der von den Akteuren des organisierten Verbrechens versorgt wird und in Lateinamerika und der Karibik jährlich mehr als 16 Millionen US-Dollar Umsatz verspricht. Mit der Initiative eines Migrationsgesetzes hat die mexikanische Regierung 2011 versucht, den Missständen in der Behandlung zentralamerikanischer Migranten zu begegnen und ihnen grundlegende Rechte zuzuerkennen, ohne dass sie in die Falle einer Kriminalisierung illegal im Lande befindlicher Personen geraten müssen. Gleichwohl haben mehrere Skandale mit Übergriffen staatlicher Funktionäre im nationalen Migrationsinstitut verdeutlicht, dass das entscheidende Hindernis für eine Verbesserung der Situation vor allem im Bereich der Umsetzung zu suchen ist.

Problemdreieck aus Migration, Drogen und Waffenhandel

Bislang hat der mexikanische "Drogenkrieg", den Präsident Felipe Calderon mit seinem Amtsantritt im Dezember 2006 erklärt hat, rund 40.000 Menschenleben gefordert. Trotz der Ausschaltung führender Köpfe aus den verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden Drogenkartellen ist kein Rückgang der Gewalt in Sicht, jeden Tag werden neue Grausamkeiten bekannt. Die mexikanische Gesellschaft zeigt Zeichen der Erschöpfung angesichts der andauernden Kämpfe. Die "Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde" (Movimiento de Paz con Justicia y Dignidad), die vom Dichter Javier Sicilia angeführt wird, dessen Sohn von kriminellen Banden getötet wurde, hat in den vergangenen Monaten versucht, die Perspektive der Opfer stärker in das nationale Bewusstsein zu rücken und Regierung sowie Parlament zu einem Dialog über den eingeschlagenen Weg des "Drogenkrieges" zu bewegen. Die Zweifel am Einsatz des Militärs gegen die Drogenmafia wachsen, führende Politiker des Landes fordern einen Strategiewechsel von der Regierung, und gleichzeitig rüsten die USA an der gemeinsamen Grenze auf und wollen bis zu 1.200 Mann der Nationalgarde dort einsetzen. Die ohnedies schwierige bilaterale Agenda endet hier nicht: Der massive Waffenimport aus den USA bereitet der mexikanischen Seite große Schwierigkeiten. So wurden in Mexiko im Zeitraum von 2006 bis 2009 über 50.000 Schusswaffen kleinen und großen Kalibers beschlagnahmt, zudem 4.000 Handgranaten und mehr als sechs Millionen Schuss Munition - ein Hinweis darauf, wie hoch der Grad der Bewaffnung der Gewaltakteure im Lande ist. Nach Schätzungen des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) beläuft sich der illegale Waffenhandel nach Mexiko pro Jahr auf über 20 Millionen Dollar; viele Waffen werden in den 6.700 Waffenläden entlang der Grenze auf US-Seite über Strohmänner oder auf sogenannten gun shows legal erworben und dann über die Grenze geschmuggelt. Nicht nur die mexikanische Polizei, auch die Armee ist der Feuerkraft der Kartelle oftmals deutlich unterlegen, zumal mit Hinblick auf den Modernitätsgrad der Waffen. Gleichzeitig reißt der Strom illegaler Kleinwaffen aus Zentralamerika, die dort noch aus Bürgerkriegszeiten in klandestinen Waffenlagern aufbewahrt und an kriminelle Abnehmer verkauft werden, nach Mexiko nicht ab.

Das Problemdreieck aus Migration, Drogen- und Waffenhandel wird mit Einzelmaßnahmen nicht gelöst werden können. Nationale Strategien der Bekämpfung der organisierten Kriminalität gelangen schnell an ihre Grenzen, das erweist gerade die bilaterale Agenda Mexikos mit den USA. Ein koordiniertes Vorgehen beider Staaten sollte mit der 2008 vereinbarten Mérida Initiative eingeläutet werden, ein von Washington finanziell mit 400 Millionen Dollar pro Jahr unterstütztes Programm zur technischen Ausrüstung und Ausbildung der mexikanischen Sicherheitsorgane. Insgesamt werden dafür 1,8 Milliarden Dollar bereitgestellt, wovon über 90 Prozent der Mittel auf Mexiko entfallen, der Rest geht an die anderen zentralamerikanischen Länder. Bislang sind die Maßnahmen jedoch nur schleppend angelaufen, so dass sich die von der Regierung Obama offiziell erklärte gemeinsame Verantwortung für das Drogenproblem für Mexiko noch nicht ausgezahlt hat. Der Mehrwert eines kooperativen Handelns lässt damit noch auf sich warten, die "geteilte Verantwortung" ist bislang kaum konkret geworden - selbst bei Problemen mit klarer transnationaler Dimension. Die NAFTA-Partner Mexiko und USA haben bislang nicht bewiesen, auf der Höhe der aktuellen Herausforderungen zu sein; kurzfristige Zweckgemeinschaften dominieren das Bild. Bislang ist es beiden Ländern nicht gelungen, die Kraft aufzubringen, auch jenseits der großen "nordamerikanischen Idee" nachhaltige Lösungen für dringende Probleme wie Migration und Sicherheit zu finden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. George Grayson, Mexico, Narco-Violence and a Failed State?, New Brunswick, NJ 2010.

  2. Vgl. hierzu das Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs 700 "Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit" an der Freien Universität Berlin, online: www.sfb-governance.de (22.7.2011).

  3. Vgl. Fernando Romero, Hyperborder. The Contemporary U.S.-Mexico Border and its Future, New York 2008.

  4. Vgl. Sidney Weintraub, Unequal Partners. United States and Mexico, in: Issues in International Political Economy, Nr. 124 (April 2010), online: www.csis.org/files/publication/issues
    201004.pdf (22.7.2011).

  5. Vgl. Carlos Heredia Zubieta, La migracion mexicana y el debate en Estados Unidos. A la sombra del Tea Party, in: Nueva Sociedad, 233 (2011), S. 132-149, hier: S. 134.

  6. Vgl. Roberto González Amador, BdeM: las remesas no retoman los montos anteriores a la crisis, in: La Jornada vom 2.2.2011, S. 26, online: www.jornada.unam.mx/2011/02/02/
    economia/026n1eco (22.7.2011).

  7. Vgl. Günther Maihold, Auf dem Weg zum "anderen" Mexiko: Eine Bilanz der Amtszeit von Vicente Fox, in: Peter Birle (Hrsg.), Lateinamerika im Wandel, Baden-Baden 2010, S. 139-164.

  8. Paradigmatisch dafür steht Robert A. Pastor, Toward a North American Community: Lessons From the Old World for the New, Washington, DC 2001; sowie jüngst ders., The North American Idea. A Vision of a Continental Future, Oxford 2011.

  9. Vgl. American Chamber Mexiko/U.S. Chamber of Commerce, Steps to a 21st Century U.S.-Mexico Border. A U.S. Chamber of Commerce Border Report, o.J., online: www.uschamber.com/sites/default/files/
    reports/mexicoreportfullbook.pdf (22.7.2011).

  10. In sogenannten Maquila(dora)-Betrieben im Norden Mexikos werden aus (zollfrei) importierten Bauteilen günstig Produkte gefertigt, die anschließend reexportiert werden.

  11. Vgl. Bryan Roberts et al., An Analysis of Migrant Smuggling Costs along the Southwest Border, Washington, DC (U.S. Department of Homeland Security) 2010, S. 4.

  12. Vgl. Direccion General Adjunta de Políticas de Proteccion - DGPME/Secretaría de Relaciones Exteriores, Migrantes mexicanos fallecidos en la frontera sur de EUA en su intento por internarse sin documentos 2004-2010, México, DF 2010.

  13. Vgl. Emma Aguila et al., United States and Mexico. Ties that Bind, Issues that Divide, Santa Monica 2010, S. 141ff.

  14. Vgl. Research and Innovative Technology Administration, Bureau of Transporation Statistics, online: www.bts.gov/programs/international/
    transborder/TBDR_BC/TBDR_BCQ.html (22.7.2011).

  15. Vgl. Günther Maihold, Die neue (Ohn-)Macht der Grenze: Mexiko-USA, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/ders. (Hrsg.), Grenzen der Macht - Macht der Grenzen: Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/M. 2005, S. 39-76.

  16. Vgl. Peter Andreas, Border Games. Policing the U.S.-Mexico Divide, Tihaca-London 2009, S. 7.

  17. Vgl. Beschreibung auf der Seite des U.S. Immigration and Customs Enforcement: www.ice.gov/best/(22.7.2011).

  18. Vgl. U.S. Immigration and Customs Enforcement, Fact Sheet "Operation in Plain Sight" - Targeting Arizona Smuggling Operations, 15.4.2010, online: www.ice.gov/doclib/news/library/factsheets/
    doc/plain-sight.doc (22.7.2011).

  19. Der genaue Name des Gesetzes lautet: "Support Our Law Enforcement and Safe Neighborhoods Act".

  20. Vgl. Audrey Singer, Could Arizona's Immigration Law Go National?, 14.5.2010, online: www.brookings.edu/opinions/2010/0514_
    immigration_singer.aspx (22.7.2011).

  21. Vgl. E. Aguila et al. (Anm. 13), S. 131ff.

  22. Vgl. George W. Grayson, Mexico's Southern Flank: A Crime-ridden "Third U.S. Border", Washington, DC 2003.

  23. Vgl. Günther Maihold, Mexikos Drogenkampf eskaliert. Gelingt die Kontrolle der Gewaltdynamik? SWP-Aktuell A 64, Berlin, September 2010.

  24. Vgl. Marianne Braig/Christian U. Baur, Mexikos Süden: Grenzüberschreitungen und die Schleusen hemisphärischer Sicherheit, in: M. Braig et. al. (Anm. 15), S. 181-206.

  25. So der Titel des Bandes von Óscar Martínez, Los migrantes que no importan. En el camino con los centroamericanos indocumentados en México, Barcelona 2010.

  26. Vgl. Amnesty International, Invisible Victims. Migrants on the Move in Mexico, London 2010.

  27. Der mexikanische Filmemacher Pedro Ultreras hat dies in seinem Dokumentarfilm "La Bestia" (2011) anschaulich dargestellt.

  28. Vgl. Comision Nacional de Derechos Humanos, Informe Especial de la Comision Nacional de los Derechos Humanos sobre los casos de secuestro en contra de migrantes, México, DF 2009, S. 12.

  29. Vgl. Günther Maihold, Der Mensch als Ware - Konzepte und Handlungsansätze zur Bekämpfung des globalen Menschenhandels, SWP-Studie, Berlin 2011.

  30. Vgl. Amy Risley, Sex Trafficking: The "Other" Crisis in Mexico?, in: The Latin Americanist, 54 (2010) 1, S. 99-117; Clare Ribando Seelke, Trafficking in Persons in Latin America and The Caribbean. Congressional Research Service Report RL 33200, Washington, DC, Dezember 2010.

  31. Vgl. Ley de Migracion, online: www.dof.gob.mx/nota_detalle.php?codigo=5190774&fecha=25/05/2011 (22.7.2011)

  32. Vgl. United States Government Accountability Office, Firearms Trafficking: U.S. Efforts to Arms Trafficking to Mexico Face Planning and Coordination Challenges, Washington, DC, Juni 2009, online: www.gao.gov/new.items/d09709.pdf (22.7.2011); Dianne Feinstein/Charles Schumer/Sheldon Whitehouse, Halting U.S. Firearms Trafficking to Mexico, Washington, DC, Juni 2011, online: www.feinstein.senate.gov (22.7.2011).

  33. Vgl. Congressional Research Service, U.S.-Mexican Security Cooperation: the Mérida Initiative and Beyond, Washington, DC, Februar 2011, online: www.fas.org/sgp/crs/row/R41349.pdf (22.7.2011).

Dr. phil., geb. 1957; Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin; stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), gegenwärtig Wahrnehmung des Alexander und Wilhelm von Humboldt Sonderlehrstuhls am Colegio de México und der Nationaluniversität UNAM/Mexiko-Stadt; SWP, Ludwigkirchplatz 3-4, 10719 Berlin. E-Mail Link: guenther.maihold@swp-berlin.org