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Forschung am Menschen

Prof. Dr. Bert Heinrichs

/ 12 Minuten zu lesen

Durch die Gräueltaten der Nationalsozialisten hat das Wort "Humanexperiment" bis heute eine negative Konnotation. Doch Forschung am Menschen ist wichtig – sie hat in Deutschland aber bestimmten ethischen und rechtlichen Ansprüchen zu genügen. Dem Würdeprinzip des GG folgend soll man Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck ansehen.

Jedes Medikament muss nach umfangreichen Voruntersuchungen auch am Menschen getestet werden. (© picture-alliance, PhotoAlto)

Die Entwicklung von Arzneimitteln und Medizinprodukten ist ein aufwendiger und langwieriger Prozess. Nach umfangreichen Voruntersuchungen muss eine neue Substanz an lebenden Organismen (einzelnen Zellen, Tieren) und schließlich auch an Menschen getestet werden. Die Testung am Menschen bezeichnet man als "Humanexperiment" oder "klinische Studie". Man unterscheidet dabei vier Phasen: In Phase I wird die Verträglichkeit eines Wirkstoffs zunächst an einer kleinen Zahl gesunder Probanden untersucht. In Phase II geht es dann darum, die Wirksamkeit (bspw. gegen eine Krankheit) zu testen. Dies erfolgt wiederum erst an einer kleinen Gruppe von Probanden. Wenn die Phasen I und II erfolgreich abgeschlossen werden konnten, erfolgt in Phase III die Prüfung der Wirksamkeit und Verträglichkeit an einer großen Gruppe von Probanden. Die Anzahl der Probanden muss so groß sein, dass statistisch belastbare Ergebnisse erzielt werden können. Zur Absicherung der Resultate gibt es in den Phasen II und III Kontrollgruppen, die nicht die neue Substanz, sondern einen etablierten Wirkstoff oder ein Placebo erhalten. Die Phase IV dient dazu, ein neues Medikament oder Medizinprodukt nach seiner Zulassung weiter zu untersuchen, etwa um seltene Nebenwirkungen aufzuspüren. Humanexperimente gibt es nicht nur in der Arzneimittelforschung, sondern auch in anderen Bereichen der Medizin. In der Chirurgie beispielsweise müssen neue Operationstechniken mit alten verglichen und getestet werden.

Darüber hinaus gibt es weitere Disziplinen, die menschliche Probanden verwenden, um wissenschaftliche Fragestellungen zu beantworten. Vor allem in der Psychologie sind Humanexperimente verbreitet. Die ethische Auseinandersetzung mit Humanexperimenten beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit wird versucht, Bedingungen zu formulieren, unter denen medizinische Humanexperimente ethisch vertretbar sind. Zwar enthält schon das 'Corpus Hippocraticum' (entstanden etwa zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n.Chr.) mit dem 'Hippokratischen Eid' einen wichtigen Beitrag zur medizinischen Ethik. Die Ausbildung einer eigenen Ethik der Forschung am Menschen in der Medizin setzt aber erst viel später ein. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die naturwissenschaftlich-experimentelle Methodik, die durch Galileo Galilei, Francis Bacon und andere ab dem 16. Jahrhundert entwickelt worden ist, lange Zeit kaum Beachtung in der Medizin findet. Anders als etwa in der Physik bleibt das kontrollierte Experiment zur Überprüfung von Forschungshypothesen in der Medizin des 18. Jahrhunderts weitgehend bedeutungslos. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts setzt es sich als methodischer Standard durch (Bernard 1961). Allerdings entwickelt sich die Übernahme der experimentellen Methode nicht ohne Probleme. Zweifelhafte und zum Teil verbrecherische Experimente haben die medizinische Forschung am Menschen immer wieder belastet und zum Teil nachhaltig diskreditiert. Vor allem durch die Gräueltaten in deutschen Konzentrationslagern in der Zeit des Nationalsozialismus haftet dem Begriff "Humanexperiment" nach wie vor ein abschreckender und bedrohlicher Unterton an (Mitscherlich und Mielke 2004).

Heute geht man in der Forschungsethik zumeist von einigen abstrakten Prinzipien aus, deren Geltung als verbürgt angesehen wird. Dieser Ansatz findet sich in dem für die Ethik der biomedizinischen Forschung am Menschen einflussreichen Belmont Report und, an diesen anknüpfend, in den Principles of Biomedical Ethics von Tom Beauchamp und James Childress (2013). Dort werden vier grundlegende ethische Prinzipien formuliert, nämlich "Respekt vor dem Selbstbestimmungsrecht von Personen" ("respect for persons" oder "respect for autonomy"), "Wohltun" ("beneficence"), "Nichtschaden" ("nonmaleficence") und "Gerechtigkeit" ("justice"). Von diesen Prinzipien ausgehend werden schrittweise konkretere Regeln und Normen begründet. Der erste wichtige Schritt in der Übertragung dieser "Prinzipien mittlerer Reichweite" auf den Bereich der Humanexperimente besteht darin, die informierte Einwilligung ("informed consent"), die Risiko-Nutzen-Analyse ("assessment of risks and benefits") sowie die gerechte Probandenauswahl ("selection of subjects") als konkrete Handlungsregeln zu benennen. Weitere inhaltliche Bestimmungen und kontextabhängige Spezifizierungen folgen dann in weiteren Anwendungsschritten.

Die Geltung dieser Prinzipien lässt sich – abweichend vom Belmont Report bzw. den Principles – aus dem Gedanken der Menschenwürde entwickeln (Heinrichs 2006). Dieser Auffassung zufolge sollten wir andere Menschen niemals ausschließlich als Mittel zur Realisierung unserer eigenen Zwecke verwenden. Die Idee der personalen Würde, die Immanuel Kant (1785) in seiner Moralphilosophie maßgeblich entwickelt hat, hat Eingang in nationale Verfassungen gefunden, wie beispielsweise in das Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1, und in internationale Dokumente, nicht zuletzt in die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Sie kann als ein weithin anerkanntes normatives Fundament für spezifischere Regeln und Normen gelten. Als eine operationalisierte Form des Würdeprinzips kann man das Instrumentalisierungsverbot begreifen, das besagt, man solle Menschen niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck ansehen.

Daraus ergeben sich unmittelbar Konsequenzen für den Umgang mit Menschen im Rahmen von Humanexperimenten. Humanexperimente zeichnen sich nämlich gerade dadurch aus, dass die daran beteiligten Probanden als Mittel zum Erkenntnisgewinn herangezogen werden. Dies ist nach den vorangegangenen Überlegungen moralisch dann – und nur dann – nicht zu beanstanden, wenn die beteiligten Probanden nicht vollständig darauf reduziert werden, Mittel im experimentellen Vollzug zu sein, also nicht vollständig instrumentalisiert werden. Die Probanden werden zwar in gewisser Weise als Mittel genutzt, jedoch sollen sie dabei stets als Person geachtet werden und bleiben immer zugleich auch Teil des angestrebten Zwecks. Die entscheidende Frage der Ethik der Forschung am Menschen lässt sich demnach auch folgendermaßen formulieren: Was muss getan werden, damit Probanden im Rahmen von medizinischen Humanexperimenten nicht vollständig instrumentalisiert werden? Die vier genannten Prinzipien von Beauchamp und Childress können als erste Antwort auf diese Frage verstanden werden. Sie sind aber nicht spezifisch genug, um zu klären, welche konkreten Regeln und Normen bei Humanexperimenten zu beachten sind, wenn sie in Einklang mit der Würde der Probanden eingesetzt werden. Auch wenn man diesen Begründungsansatz wählt, muss also ein weiterer Anwendungsschritt folgen, der zu den bereits genannten konkreteren Regeln der Forschungsethik führt: (1) die informierte Einwilligung, (2) eine sorgfältige Schaden-Nutzen-Abwägung und (3) eine gerechte Probandenauswahl. Diese Regeln sind unmittelbar bei der praktischen Durchführung von Humanexperimenten bedeutsam. Im Folgenden sollen sie ausführlicher dargestellt werden.

(1) Die informierte Einwilligung

Das Prinzip der Selbstbestimmung fordert, dass jeder Mensch in einem Kernbereich freie Entscheidungen treffen kann. Damit knüpft es an die Fähigkeit des Menschen an, sich selbst Zwecke zu setzen und diese aktiv zu verfolgen. Allerdings findet das Recht auf Selbstbestimmung des Einen seine Grenze am Recht auf Selbstbestimmung des Anderen. Das Prinzip der Selbstbestimmung hat also sowohl eine freiheitsermöglichende als auch eine freiheitslimitierende Dimension. Wenn nun ein Forscher eine Person ohne deren Wissen als Teilnehmer an einem Forschungsvorhaben aufnehmen würde, dann würde dies gegen das Recht auf Selbstbestimmung verstoßen. Die Entscheidung über die Teilnahme muss, nach den gerade angestellten Überlegungen, der Person selbst überlassen sein. Der Forscher muss die betreffende Person also fragen, ob sie sich als Teilnehmer zur Verfügung stellen möchte oder nicht. Das allein reicht aber noch nicht aus. Es muss darüber hinaus sichergestellt sein, dass auch eine ablehnende Antwort vom Forscher akzeptiert wird und keine negativen Konsequenzen nach sich zieht. Anders formuliert: Die Einwilligung muss freiwillig sein, um wirklich als Realisierung des Rechts auf Selbstbestimmung gelten zu können. Es gilt aber, noch einen weiteren Aspekt zu berücksichtigen: Selbst wenn die Person aus freien Stücken zustimmt, ist noch nicht hinreichend sichergestellt, dass es wirklich ihrem Willen entspricht, an der Studie teilzunehmen. Möglicherweise ist ihr nicht klar geworden, dass die Teilnahme mit gewissen Risiken und Belastungen verbunden ist. Womöglich hätte sie auf der Grundlage eines umfassenderen Verständnisses des in Rede stehenden Experiments ihre Teilnahme verweigert. Die unvermittelte Einwilligung wäre dementsprechend nicht als tatsächliche Realisierung des Selbstbestimmungsrechts aufzufassen. Als weitere Bedingung verlangt man daher, dass die Einwilligung informiert ist. Voraussetzung für eine solche informierte Einwilligung (informed consent) ist, dass potenzielle Teilnehmer über "Wesen, Bedeutung und Tragweite" – diese Formulierung hat der Bundesgerichtshof in verschiedenen Entscheidungen zum Thema Arzneimittelforschung geprägt – eines Experiments vorab informiert werden. Dabei sind (i) die Freiwilligkeit, (ii) das Recht auf Widerruf sowie (iii) der Umgang mit einwilligungsunfähigen Personen besonders hervorzuheben:

(i) Freiwilligkeit

Neben der Informiertheit besteht, wie bereits kurz erwähnt, eine zweite wichtige Komponente einer vollgültigen Einwilligung in der Freiwilligkeit. Nun dürfte es (im Schutz einer freiheitlich demokratischen Gesellschaftsordnung) selten vorkommen, dass eine Person direkt zur Teilnahme an einem Forschungsvorhaben gezwungen wird. Durchaus realistisch sind aber subtilere Formen von Druck, die die Entscheidung der Person beeinflussen könnten. So ist ein potenzieller Proband beispielsweise häufig zugleich auch Patient. Als Patient könnte er fürchten, nicht mehr oder zumindest mit weniger Engagement behandelt zu werden, wenn er seine Teilnahme an dem ihm angetragenen Forschungsvorhaben verweigert. Auf diese Weise könnte der Patient sich zur Teilnahme genötigt fühlen. Im Rahmen der Aufklärung muss also deutlich vermittelt werden, dass eine Ablehnung der Teilnahme keinerlei negative Konsequenzen nach sich ziehen wird. Auch durch positive Anreize kann die Freiwilligkeit der Teilnahme beeinträchtigt werden, etwa durch eine hohe finanzielle Aufwandsentschädigung oder gar eine Bezahlung.

(ii) Recht auf Widerruf

Eine Person, die sich durch eine informierte Einwilligung bereiterklärt hat, an einem Forschungsvorhaben teilzunehmen, verpflichtet sich dadurch keineswegs unwiderruflich. Es handelt sich bei der Einwilligung nicht um einen Vertrag, der Forscher und Probanden zur gegenseitigen Erbringung von Leistungen verpflichtet. Eine Einwilligung kann dementsprechend zurückgenommen werden, und zwar jederzeit und ohne Angabe von Gründen. Das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet mithin auch das Recht auf jederzeitige Rücknahme einer einmal erteilten Einwilligung. Auf dieses Recht muss der Proband im Zuge der Aufklärung ausdrücklich aufmerksam gemacht werden. Auch muss wiederum explizit klargestellt werden, dass ein vorzeitiges Ausscheiden keinerlei negative Konsequenzen nach sich zieht.

(iii) Einwilligungsunfähige Personen

Ein Problem im Hinblick auf die informierte Einwilligung ergibt sich bei potenziellen Probanden, die nicht in der Lage sind, eine vollgültige informierte Einwilligung zur Teilnahme an einem Humanexperiment zu erteilen, wie etwa geistig Behinderte, Demenzpatienten oder auch Minderjährige. Während eine Minderheit argumentiert, dass aus diesem Grund (rein fremdnützige) Forschung mit Minderjährigen ethisch grundsätzlich nicht vertretbar ist, geht die überwiegende Mehrheit heute davon aus, dass es Möglichkeiten gibt, die fehlende Einwilligung zu kompensieren. Vor allem die Einwilligung eines gesetzlichen Vertreters kann eine solche kompensierende Funktion übernehmen. Unter bestimmten Bedingungen kann auch eine Vorabeinwilligung an die Stelle einer normalen Einwilligung treten, etwa dann, wenn ein progressiver Krankheitsverlauf dazu führt, dass die Einwilligungsfähigkeit voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt verloren geht.

(2) Die Schaden-Nutzen Abwägung

Neben dem Prinzip der Selbstbestimmung ist oben das Nichtschadenprinzip als besonders wichtiges ethisches Prinzip benannt worden. Näher besehen stehen beide Prinzipien in einem Spannungsverhältnis zueinander, da das Recht auf Selbstbestimmung sich auch auf selbstschädigendes Handeln erstrecken kann. Und tatsächlich ist die Teilnahme an einem Humanexperiment, das mit Risiken für die Gesundheit der Probanden verbunden ist, eine Handlung, bei der der Handelnde zumindest eine mögliche Schädigung seiner psychophysischen Integrität selbstbestimmt in Kauf nimmt. Dennoch wäre es falsch, unter Verweis auf das Nichtschadenprinzip solche Handlungen grundsätzlich zu verbieten. Denn ein solches Vorgehen würde bedeuten, dass das Nichtschadenprinzip dem Selbstbestimmungsprinzip grundsätzlich übergeordnet und damit das genannte Spannungsverhältnis einseitig aufgelöst wird. Eine differenziertere Herangehensweise besteht darin, beide Prinzipien zugleich in ihrer Geltung anzuerkennen, was praktisch bedeutet, dass sich beide Prinzipien wechselseitig begrenzen. So sind Forschungsvorhaben mit menschlichen Probanden bei Vorliegen einer informierten Einwilligung der Probanden grundsätzlich ethisch nicht bedenklich, allerdings muss sichergestellt sein, dass der mögliche Schaden, der mit den Forschungsmethoden verbunden ist, "angemessen" ist. Was aber bedeutet hier "angemessen"? Zunächst wird man fordern, dass Experimente mit Beteiligung menschlicher Probanden in Bezug auf die wissenschaftliche Fragestellung als Methode alternativlos sind, dass es also keine alternativen Forschungsmethoden gibt, die vergleichbare Ergebnisse produzieren können. Überdies muss das wissenschaftliche Design eines Versuchs, etwa die Wahl der statistischen Auswertungsmethoden und davon abhängig die festgelegte Anzahl von Probanden, einwandfrei sein. Ist dies nicht der Fall, dann ist der Erkenntnisgewinn, zu dessen Zweck ein Experiment durchgeführt wird, nicht gewährleistet. Folglich wird man selbst eine geringe Gefährdung der Probanden ablehnen müssen. Schließlich wird man verlangen, dass die Experimente mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu schweren oder dauerhaften Schäden der Probanden oder sogar zu deren Tod führen werden. Bei allen drei Bedingungen handelt es sich gewissermaßen um absolute Grenzen, die unabhängig von der Beschaffenheit eines konkreten Experiments gelten.

Vor dem Hintergrund des Nichtschadenprinzips gibt es zusätzlich noch eine relative Grenze zu beachten: Der erwartete Nutzen, der mit einem Experiment verbunden ist, muss in einem ausgewogenen Verhältnis zu möglichen Schädigungen der beteiligten Probanden stehen. Hierbei ist sowohl der allgemeine Erkenntnisgewinn als auch der direkte Nutzen für den Probanden zu beachten. Allerdings muss zwischen beiden klar unterschieden werden. Steht nämlich ein gewichtiger direkter medizinischer Nutzen für die Probanden in Aussicht – etwa weil für ihr Leiden keine Standardtherapie zur Verfügung steht –, dann wird man sicher ein höheres Gefährdungsrisiko für akzeptabel halten als bei gesunden Probanden, die etwa im Rahmen von Grundlagenforschung als Vergleichsgruppe herangezogen werden. Nicht nur die Art des zu erwartenden Nutzens muss hier ins Kalkül gezogen werden, sondern auch der Status der beteiligten Probanden. Handelt es sich beispielsweise um Minderjährige oder Demenzpatienten, dann muss man deutlich engere Grenzen anlegen. Wo genau diese Grenzen verlaufen, lässt sich nur schwer festlegen. Hier ist das sorgfältige Urteil von Forschern und Experten in den Ethik-Kommissionen gefragt, die im Einzelfall entscheiden müssen, ob die Risiken ethisch zu rechtfertigen sind.

Eine wichtige Unterscheidung ist bisher noch nicht zur Sprache gekommen, nämlich die zwischen Schäden und Belastungen. Während man unter den Begriff "Schäden" (eher "objektive") negative Auswirkungen auf die Gesundheit eines Probanden fasst, bezeichnet der Begriff "Belastungen" (eher "subjektive") Störungen des Gesamtbefindens. Diese müssen bei der Bewertung eines Humanexperiments unbedingt gesondert in Rechnung gestellt werden. Es ist nämlich möglich, dass mit einem Experiment kaum oder gar keine Gefahren verbunden sind, dass die Belastung für Versuchsteilnehmer aber durchaus erheblich ist. So können etwa langwierige Untersuchungen als höchst unangenehm empfunden werden. Eine Fokussierung allein auf mögliche "objektive" Schäden ist daher unzureichend.

(3) Die gerechte Probandenauswahl

Das Gerechtigkeitsprinzip fordert, dass Nutzen und Lasten innerhalb eines Gemeinwesens "fair" verteilt werden müssen. Mit Bezug auf Humanexperimente heißt das zunächst einmal, dass auch hier Nutzen und Lasten nicht einseitig verteilt werden dürfen. Für eine weitere Spezifizierung dieser Forderung im Hinblick auf medizinische Humanexperimente ist es sinnvoll, zwei Ebenen zu unterscheiden: Auf einer "individuellen" Ebene fordert das Gerechtigkeitsprinzip, dass bei der Probandenauswahl nur sachliche Erwägungen (und nicht etwa Sympathieerwägungen des Forschers) zum Tragen kommen. Die Entscheidung darf allein aufgrund von Einschluss- und Ausschlusskriterien gefällt werden, die vor Rekrutierungsbeginn im Studienprotokoll niedergelegt werden müssen. Auf einer "sozialen" Ebene gestaltet sich die Spezifizierung schwieriger: Fraglich ist, ob es bestimmte gesellschaftliche Gruppen gibt, die bevorzugt an Humanexperimenten beteiligt werden sollten oder die generell unberücksichtigt bleiben müssen.

Eine Antwort auf diese Frage kann anhand der folgenden Regel erfolgen: Probanden die unter einem besonderen Schutz stehen, wie etwa Kinder oder Schwangere, also Probanden aus sogenannten "vulnerablen Gruppen", sollen nur dann an Humanexperimenten beteiligt werden, wenn das experimentelle Design dies zwingend erforderlich macht. So sollte man Kinder nur zu Experimenten heranziehen, die speziell Kinderkrankheiten oder Entwicklungsstörungen in der Kindheit gewidmet sind und die auch nur an dieser Gruppe erforscht werden können. Handelt es sich hingegen um einen Versuch, der ebenso gut mit einwilligungsfähigen Erwachsenen durchgeführt werden kann, dann ist es ethisch geboten, das Humanexperiment mit Erwachsenen durchzuführen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom Subsidiaritätsprinzip. Es zielt also darauf ab, dass die Lasten biomedizinischer Forschung soweit möglich durch die belastbaren Mitglieder einer Gesellschaft getragen werden und nur für den Fall, dass eine solche Lastenverteilung aus wissenschaftlichen Gründen unmöglich ist, die Rekrutierung von Probanden aus vulnerablen Personenkreisen erfolgt.

Die beschriebenen forschungsethischen Prinzipien und Spezifizierungen bilden in groben Konturen das heute weitgehend akzeptierte Rahmenwerk zur ethischen Bewertung von Forschungsvorhaben mit Menschen. Es findet sich in einer Reihe von internationalen Dokumenten, z. B. der "Deklaration von Helsinki" der World Medical Association oder dem "Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, concerning Biomedical Research" des Europarates. Viele Länder haben zudem gesetzliche Regelungen für die Forschung am Menschen in Geltung gesetzt. In Deutschland finden sich entsprechende Regelungen vor allem im Arzneimittelgesetz (§§ 40-42b) und im Medizinproduktegesetz (§§ 20-22). Trotz dieser Regelungen gibt es nach wie vor Probleme, für die nach adäquaten Lösungsansätzen gesucht wird, insbesondere im Hinblick auf die Forschung mit Menschen aus vulnerablen Gruppen.

Auch außerhalb der Medizin folgt die Forschung am Menschen im Wesentlichen den beschriebenen Grundsätzen. Wissenschaftliche Fachverbände, wie etwa der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V., haben Richtlinien erarbeitet, in denen auf die Besonderheiten des jeweiligen Faches eingegangen wird.

Literatur

Beauchamp, Tom L., Childress, James F. (2013): Principles of Biomedical Ethics. 7. ed. Oxford: Oxford University Press.

Bernard, Claude (1961): Einführung in das Studium der experimentellen Medizin. Leipzig: Johann Ambrosius Barth.

Heinrichs, Bert (2006). Forschung am Menschen. Elemente einer ethischen Theorie biomedizinischer Humanexperimente. Berlin: De Gruyter.

Kant, Immanuel (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg: Meiner, 1999.

Mitscherlich, Alexander / Mielke, Fred (Hrsg.) (2004): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. 16. Auflage. Frankfurt am Main: S. Fischer.

Dokumente, Richtlinien und Gesetzte

Externer Link: Arzneimittelgesetz.

Externer Link: Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. / Deutschen Gesellschaft für Psychologie e.V. (2016): Berufsethische Richtlinien.

Externer Link: Europarat (2005): Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, concerning Biomedical Research.

Externer Link: Medizinproduktegesetz.

Externer Link: World Medical Association (2013): Declaration of Helsinki – Ethical Principles for Medical Research Involving Human Subjects.

ist Professor für Ethik und Angewandte Ethik am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) der Universität Bonn. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe "Repräsentation und Modell" im Institut für Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8) am Forschungszentrum Jülich.