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Reformen der Chruschtschow-Jahre | Russland | bpb.de

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Reformen der Chruschtschow-Jahre (1953 - 1964)

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder Hans-Henning Schröder

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Nikita Chruschtschow stieß viele Reformen des stalinistischen Systems an: vor allem in der Wirtschaftspolitik, aber auch im repressiven System der Sowjetunion und außenpolitischen Zielsetzungen. Nicht alle Reformen waren erfolgreich.

Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy bei ihrem ersten Treffen im Juni 1961 in Wien. (© picture-alliance)

Nach Stalins Tod setzte sich Nikita Sergejewitsch Chruschtschow in den Nachfolgekonflikten durch (1953-1964). Chruschtschow hatte in den Dreißigerjahren als Parteisekretär von Moskau und der Ukraine, nach 1949 als Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, stets Spitzenstellungen innegehabt. Berija wurde verhaftet und hingerichtet. Die "kollektive Führung", die das personale Regiment Stalins ablöste und in der Chruschtschow als primus inter pares agierte, stand vor der schwierigen Aufgabe, den repressiven Charakter des Stalinistischen Systems zu überwinden, ohne die Einparteiherrschaft, die zentrale Planwirtschaft und das Primat des Marxismus-Leninismus zu gefährden. Die Geheimpolizei, die unter Stalin und Berija politische Macht gewonnen hatte, wurde wieder dem Parteiapparat untergeordnet. Die Gesellschaft, tief gespalten und durch die Massenrepressionen traumatisiert, musste versöhnt und sozial integriert werden. Der politische, ökonomische und militärische Wettbewerb mit dem "Kapitalismus" - mit den Konsumgesellschaften westlichen Typs - erforderte eine Beschleunigung der Technologieentwicklung, die Restrukturierung der Wirtschaft und die Steigerung der wirtschaftlichen Wachstumsraten.

Charakteristika der Chruschtschow-Ära waren daher fortgesetzte, oft übereilte Reformen im Innern und international das Hervortreten der Sowjetunion als Führungsmacht des "sozialistischen Lagers", die im Rahmen der Entkolonialisierungsbewegung auch weltweit agierte. Die Integration der durch Repression, Krieg und Industrialisierung zerrissenen Gesellschaft sollten ein umfassendes Sozialprogramm sowie die Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Stalin-Zeit gewährleisten. Die Kritik hatte allerdings Grenzen: Zwar wurde das Lagersystem nach 1953 verkleinert und eine große Zahl von Häftlingen entlassen, doch vermied es Chruschtschow, der Stalin in einer Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 scharf verurteilte, seine Kritik auf die Parteiführung, die Partei und den Polizeiapparat auszudehnen. Das politische System als solches wurde nicht infrage gestellt.

In der Industriepolitik setzte die Chruschtschowsche Führung weiter auf den beschleunigten Ausbau des Produktionsgütersektors und des Rüstungsbereichs. Hier wurden beachtliche Fortschritte erzielt, und 1957 konnte die westliche Öffentlichkeit mit dem Start des ersten Erdsatelliten ("Sputnik-Schock") überrascht werden. In anderen Wirtschaftsbereichen, insbesondere bei der Erzeugung von Konsumgütern, blieben die Leistungen aber deutlich hinter den Erwartungen zurück, und wiederholte Reformen der Industrieverwaltung führten nicht zu besseren Ergebnissen. Die radikale Reorganisation der Partei 1962/63 - der Parteiapparat wurde in einen industriellen und einen agrarischen Zweig unterteilt - provozierte im mittleren und oberen Parteimanagement Unwillen und trug nicht unwesentlich zum Sturz Chruschtschows bei. Auch die umfassende Neuordnung des Agrarbereichs und die Erschließung von Neuland in Mittelasien erbrachten letztlich keine nachhaltigen Leistungsverbesserungen.

Insgesamt hinterließ die Reformpolitik dieser Zeit einen ambivalenten Eindruck: Zwar unternahm die Führung ernsthaft den Versuch, die Schwächen der Wirtschafts- und Sozialorganisation zu überwinden, doch griffen viele der Maßnahmen zu kurz. Zudem brachte der hektische Rhythmus der Reformen immer wieder Unruhe in die Verwaltung. So wuchs innerhalb von Partei und Verwaltungsapparat allmählich die Opposition gegen die Chruschtschowsche Führung.

Auch die Bilanz der sowjetischen Außenpolitik war widersprüchlich. Zwar war es gelungen, die Regime sowjetischen Typs in Ostmitteleuropa nach den Aufständen 1953 in der DDR sowie 1956 in Ungarn und Polen zu konsolidieren und in eine straff organisierte Wirtschafts- und Militärallianz einzubinden. Doch 1960 kam es mit China, dem anderen großen sozialistischen Staat, in der "Polemik über die Generallinie" zu einem tief gehenden ideologischen Zerwürfnis.

Gegenüber den USA konnte die UdSSR ihre Position in der Phase der Entkolonialisierung ausbauen, die "Korrelation der Kräfte" in der Welt schien sich zugunsten der Sowjetunion zu verschieben. Die Spannung zwischen den beiden Weltmächten führte immer wieder zu Krisen wie dem U-2-Zwischenfall 1960, als ein amerikanisches Spionageflugzeug über sowjetischem Territorium abgeschossen wurde, oder dem Mauerbau in Berlin 1961. Als Chruschtschow aber 1962 versuchte, im Interessenbereich der USA auf Kuba Mittelstreckenraketen zu stationieren und das Territorium der USA direkt zu bedrohen, provozierte er scharfe Reaktionen der Kennedy-Administration und musste einen Rückzieher machen. Die Gefahr eines atomaren Vernichtungskriegs gab aber Anlass, das Konzept einer "friedlichen Koexistenz" der konkurrierenden Systeme in den Vordergrund zu stellen, und so suchte die Chruschtschowsche Führung das Gespräch mit den USA.

Der außenpolitische Misserfolg in Kuba verstärkte die Unzufriedenheit in den Führungskreisen der Partei, die durch die übereilten Reformen von Partei und Verwaltung ohnehin irritiert waren. Am 14. Oktober 1964 setzte das Zentralkomitee Chruschtschow ab und wählte Leonid Breschnjew (1964-1982) - Mitglied des Politbüros und seit 1960 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets sowjetisches Staatsoberhaupt - zu seinem Nachfolger in der Parteiführung. Die Form des Machtwechsels - durch Mehrheitsentscheidung im zuständigen Parteigremium - verdeutlicht, wie sehr sich die Sowjetunion in der Ära Chruschtschow verändert hatte. Das repressive Mobilisierungsregime der Stalin-Zeit war durch die gefestigte Herrschaft einer Monopolpartei abgelöst worden, in der politische Prozesse in regelhaften Bahnen verliefen.

Auszug aus: Hans-Henning Schröder: Vom Kiewer Reich bis zum Zerfall der UdSSR, in: Russland (Informationen zur politischen Bildung, Heft 281), Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2003, S. 8ff., aktualisiert 2018.
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Fussnoten

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder ist Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe Russland / GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seine Forschungsschwerpunkte sind die aktuelle politische Entwicklung in Russland, die Geschichte der Sowjetunion sowie russische Außen- und Sicherheitspolitik.