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Russland in der Ära Jelzin | Russland | bpb.de

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Russland in der Ära Jelzin 1992 - 1999

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder Hans-Henning Schröder

/ 9 Minuten zu lesen

Liberalisierung, Institutionenentwicklung, Privatisierung und Stabilisierung: Nach dem Ende der Sowjetunion reformierte Präsident Boris Jelzin das Land. Die Transformation brachte aber nicht nur Demokratie hervor, auch bestimmte Eliten gewannen an Macht.

Boris Jelzin während eines Krankenhausaufenthalts im November 1995. Eine Herzerkrankung machte es dem Präsidenten über lange Phasen immer wieder unmöglich machte, seinen Amtsgeschäften nachzugehen. (© AP)

Die Auflösung der Sowjetunion zum 31. Dezember 1991 bedeutete auch die Beseitigung von Planwirtschaft und Einparteiensystem und machte den Weg frei für den Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung und die Reform des politischen Systems. Die politische Umgestaltung vollzog sich in zwei Phasen: 1991 bis Dezember 1999 setzte Boris Jelzin eine Reform politischer und wirtschaftlicher Ordnung durch. Die Machtübernahme durch Wladimir Putin 1999/2000 leitete dann eine Konsolidierung des Regimes ein. Mängel der Anfangsjahre wurden überwunden und zugleich autoritäre Züge angenommen.

Wirtschaftsreform und "Doppelherrschaft": 1991 - Oktober 1993

Im März 1990 noch vor der Auflösung der UdSSR hatten in der russischen Unionsrepublik Wahlen zu einem Kongress der Volksdeputierten stattgefunden. Dabei gewannen Gruppierungen eine Mehrheit, die eine weitergehende Systemreform anstrebten. Im November 1991 räumte dieses Parlament Boris Jelzin, der im Juni 1991 zum russischen Präsidenten gewählt worden war, außerordentliche Vollmachten zur Durchführung von Wirtschaftsreformen ein und bestätigte die Berufung des jungen Reformers Jegor Gajdars an die Spitze der Regierung.

Die Auflösung der Sowjetunion machte den Weg endgültig für eine umfassende Reformpolitik frei. Diese umfasste vier Komponenten; Liberalisierung, Institutionenentwicklung, Privatisierung und Stabilisierung. Durch ein Dekret des Präsidenten wurden zum 2. Januar 1992 für 80 Prozent der Produktionsgüter und für 90 Prozent der Konsumgüter die Preise freigegeben. Parallel dazu wurde ein Privatisierungsprogramm vorbereitet, das im Juni schließlich auch vom Obersten Sowjet verabschiedet wurde. Die Umsetzung dieser Politik führte zu einem Inflationsschub - die Verbraucherpreise schnellten unmittelbar auf den zweieinhalbfachen Wert und stiegen bis Ende des Jahres auf das achtzehnfache - und schufen eine kleine Gruppe von Superreichen, während die Mehrheit der Bevölkerung sozial abstürzte. Kein Wunder, dass sich im Parlament Widerstand gegen die Reformen regte.

Indes trieben die Reformer die Privatisierung in aller Hast voran - auch mit dem Ziel eine Klasse von Eigentümern als Rückhalt für die Jelzinsche Politik zu schaffen. Bis Ende 1993 hatte man 70 Prozent der Kleinbetriebe in private Hand überführt und bis April 1994 80 Prozent der zur Privatisierung freigegebenen Groß- und Mittelbetriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt. Durch die Privatisierung wurde eine neue Besitzstruktur geschaffen, die für das Funktionieren der Marktwirtschaft unabdingbar war, zugleich aber auch eine neue soziale Ordnung schuf. Indes schwelte der Konflikt zwischen Präsident und Parlament weiter. Im Dezember 1992 kam es auf dem Volkskongress zu einer neuen Auseinandersetzung zwischen Präsident und Parlament, der Gajdar durch Tschernomyrdin ablöste, den letzten sowjetischen Erdgasminister. Der Versuch des Volkskongresses, Jelzin durch ein Impeachment-Verfahren abzusetzen scheiterte im März 1993.

Der Präsident griff schließlich zu einer radikalen Maßnahme, um die Blockade durch das Parlament zu brechen. Am 21. September löste er per Dekret den Volkskongress und den Obersten Sowjet auf. Damit hatte er seine Kompetenzen zweifellos überschritten. Doch die "Doppelherrschaft" von Präsident und Parlament hatte die Durchsetzung einer konsequenten und Erfolg versprechenden Reformpolitik 1992 und 1993 weitgehend verhindert. Da sich das Parlament weigerte, sich den Anweisungen des Präsidenten zu fügen und diesen seinerseits für abgesetzt erklärte, entstand eine Pattsituation. Sie löste sich Anfang Oktober, als das gewaltsame Vorgehen der Unterstützer des Parlaments in Moskau die militärische Führung schließlich dazu veranlasste, Partei zu nehmen und Truppen gegen den Obersten Sowjet einzusetzen. Die "Erschießung des russischen Parlaments" beendete die Phase der "Doppelherrschaft", in der zwei durch Wahlen legitimierte Verfassungsorgane miteinander konkurrierten und unterschiedliche Politiken durchsetzen wollten.

Die Verfassung von 1993

Unmittelbar nach der Erstürmung des Parlamentsgebäudes am 4. Oktober 1993 beschloss die Jelzinsche Führung rasch eine neue Verfassung auszuarbeiten, die dem Präsidenten wieder eine demokratische Legitimation verschaffen sollte. Der Entwurf wurde der Bevölkerung am 12. Dezember zur Abstimmung vorgelegt. 57 Prozent der Wähler (d.h. 31 Prozent der Wahlberechtigten) stimmten dem neuen Staatsgrundgesetz zu, das damit in Kraft trat.

Die - bis heute gültige - Verfassung definiert Russland als einen demokratischen, föderalen Rechtsstaat mit republikanischer Regierungsform und schreibt einen Grundrechtskatalog fest, der u. a. Gleichheit, Recht auf Leben, Menschenwürde, politische und persönliche Freiheitsrechte (u. a. Reisefreiheit, Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit), Mitwirkungsrechte (einschließlich des aktiven und passiven Wahlrechts), Gewerbefreiheit und Recht auf Eigentum, Recht auf Arbeit, Wohnung, auf Alterssicherung, Gesundheitsversorgung und eine gesunde Umwelt aufführt. Die Russländische Föderation besteht heute nach einer Gebietsreform und der völkerrechtlich nicht anerkannten Annexion der Halbinsel Krim aus 85 Föderationssubjekten ("Länder"; 1993 waren es noch 89). Zu den 85 werden auch die Republik Krim und die Stadt föderaler Bedeutung Sewastopol gezählt, deren Annexion völkerrechtlich nicht anerkannt sind. Jedes Föderationssubjekt verfügt über eine eigene Exekutive, an deren Spitze je nach regionaler Verfassung ein Gouverneur, Präsident usw. steht, und eine gewählte Vertretungskörperschaft.

Die politische Macht ist in der Hand des Präsidenten konzentriert, der die Richtlinien der Politik bestimmt, Russland nach außen und innen vertritt und qua Amt Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Der Präsident wird direkt gewählt und hat eine Amtszeit von sechs Jahren (vor 2012 vier Jahre). Er darf einmal wiedergewählt werden. Er ernennt - mit Zustimmung der Duma - den Ministerpräsidenten, er ernennt und entlässt die Regierung, die ihm, nicht dem Parlament verantwortlich ist. Der Präsident hat das Recht, Dekrete und Verordnungen zu erlassen, sofern diese nicht der Verfassung oder der Gesetzgebung widersprechen, er verfügt also de facto über eine legislative Kompetenz, die mit der Duma in Konkurrenz treten kann.

Außen- und Sicherheitspolitik ressortiert grundsätzlich beim Präsidenten, er bestätigt die russische Militärdoktrin und ernennt und entlässt die Spitzenmilitärs. Kurz, der Präsident führt und kontrolliert die Exekutive, auf die das Parlament nur mittelbar - über Gesetzgebung und Budgetrecht - Zugriff hat. Um diese umfangreiche Aufgabe zu lösen, verfügt der Präsident über einen eigenen Leitungsapparat, die Administration des Präsidenten, und ein kollegiales Organ, den Sicherheitsrat, dem der Ministerpräsident, die wichtigsten Minister und die Vorsitzenden der beiden Häuser des Parlaments angehören.

Gegenüber der Machtfülle des Präsidenten hat die Legislative nur beschränkte Möglichkeiten. Das Parlament - die Föderalversammlung - besteht aus zwei Häusern, der Duma und dem Föderationsrat. Duma mit 450 Abgeordneten wird alle fünf Jahre gewählt (vor 2011 alle vier Jahre). Ursprünglich wurde die Hälfte der Abgeordneten direkt, die andere Hälfte über Parteilisten gewählt. Seit der Putinschen Wahlreform werden alle Abgeordneten per Verhältniswahlrecht über Parteilisten bestimmt. Die Duma hat außer bei der Ernennung des Ministerpräsidenten, der sie zustimmen muss, auf die Exekutive keinen direkten Einfluss. Sie hat aber Gesetzgebungsrecht und entscheidet über den Staatshaushalt.

Das Oberhaus, der Föderationsrat, besteht aus 170 Vertretern, d.h. zwei aus jedem der 85 Föderationssubjekte (zu denen auch Sewastopol und die Krim gezählt werden, obgleich die Annexion völkerrechtlich nicht anerkannt ist). Im Jahr 2000 wurde die Vertretung per Gesetz neu geregelt. Von den zwei Repräsentanten wird seitdem ein Mitglied durch die regionale Exekutive bestimmt, das andere vom örtlichen Parlament. Das Verfahren zur Bildung des Föderationsrats wurde zuletzt am 3. Dezember 2012 angepasst. So darf der Präsident der Russländischen Föderation inzwischen zusätzlich bis zu zehn Prozent der Mitglieder des Föderationsrates selbst ernennen.

Es ist offenkundig, dass die Verfassung unter dem Eindruck der Konfrontation zwischen Präsident und Parlament entworfen wurde. Um künftig eine ähnliche Situation zu vermeiden wurde die Position des Präsidenten rechtlich so abgesichert, dass eine wirksame Kontrolle durch Parlament und Volk kaum noch möglich ist. Andererseits erkennt die Verfassung von 1993 erstmals die Menschenrechte, zu denen sie auch das Recht auf Privateigentum zählt, als konstitutiven Bestandteil russischen Rechts an, sie fixiert die Unabhängigkeit der Justiz und schafft für die russische Staatlichkeit einen föderalen Ordnungsrahmen. Insofern ist das russische Staatsgrundgesetz von 1993 ambivalent. In der Praxis ermöglichte es aber die Etablierung eines Systems präsidialer Alleinherrschaft, indem es die politische Macht in der Hand des Staatsoberhaupts konzentrierte, das seinerseits die regionalen Führungsgruppen und Teile der Finanz- und Wirtschaftseliten einband.

Das System Jelzin: Die Ausgestaltung der neuen politischen und wirtschaftlichen Ordnung, Dezember 1993-2000

Die Bestimmungen sahen vor, dass gleichzeitig mit dem Verfassungsreferendum am 12. Dezember 1993 das neue Parlament gewählt werden sollte. Präsident Jelzin selber hingegen sollte sein Amt noch weitere zweieinhalb Jahr ausüben und sich erst im Sommer 1996 einer Neuwahl stellen. Die Wahlen brachten eine Enttäuschung, die Wähler erteilten den Reformkräften eine Abfuhr. Eindeutiger Wahlsieger war die rechtsextreme Liberaldemokratische Partei Wladimir Schirinowskijs, die 22,9 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigen konnte. Insgesamt errangen Kommunisten und Nationalisten ca. 36 Prozent der Sitze, reformnahe Parteien gerade 30 Prozent. Von einem parlamentarischen Rückhalt für die Fortsetzung der Reformpolitik konnte keine Rede sein.

Politisch trat nach den Wahlen zunächst eine Phase der Ruhe ein, die zum einen der gegenseitigen Blockade konkurrierender Gruppen in der Führungsspitze geschuldet war, andererseits aber auch auf den Gewaltausbruch im Oktober 1993, der als Schock nachwirkte, und die wachsende Desillusionierung der Bevölkerung zurückgeführt werden muss, die nicht mehr bereit war, sich politisch zu engagieren. Der Kurssturz des Rubel im Oktober 1994, die folgende Regierungskrise und schließlich der Einmarsch in Tschetschenien, mit dem die Jelzin-Administration den Ersten Tschetschenienkrieg begann, der erst 1996 durch einen Waffenstillstand vorläufig beendet wurde, beschädigte das Ansehen Jelzins in der Bevölkerung. 1995 wurde die zweite Phase der Privatisierung eingeleitet, deren wichtigster Bestandteil der Verkauf von Aktienpaketen von Großunternehmen war. Die Großbanken boten an, dem Staat gegen die Verpfändung von Aktien Kredite zu gewähren. Entsprechend diesem Vorschlag kam es im November und Dezember 1995 zu einer Reihe von Auktionen, in deren Verlauf die Mehrzahl der großen Mineralölunternehmen und eine Reihe von Hüttenbetrieben an die großen Kapitalgruppen verpfändet wurden.

Die Dumawahlen im Dezember 1995 erbrachten für die Jelzin-Administration und die mit ihr verbundenen Kräfte abermals eine verheerende Niederlage. Da im Sommer 1996 die Präsidentschaftswahl anstand, kamen eine Reihe von Bankiers und Finanzmagnaten im Februar 1996 überein, Jelzin finanziell und organisatorisch zu unterstützen. In einer fulminanten Kampagne, die bei der Manipulation der Öffentlichkeit neue Maßstäbe setzte, gelang es, Jelzin im ersten Wahlgang eine knappe Mehrheit zu verschaffen: Mit 35 Prozent der abgegebenen Stimmen lag dieser vor dem kommunistischen Gegenkandidaten Gennadij Sjuganow (32 %). In der Stichwahl setzte sich Jelzin (53 %) gegen Sjuganow (40 %) durch, obwohl er kurz vor dem Wahltag schwer erkrankte. Das allerdings hatte man vor der Bevölkerung geheim gehalten. Auch nach dem Wahlsieg wurde die Öffentlichkeit von der Herzerkrankung des Präsidenten, die es ihm über lange Phasen immer wieder unmöglich machte, seinen Amtsgeschäften nachzugehen, nur unvollständig unterrichtet.

Die politische Situation dieser Jahre war durch wachsende Spannungen zwischen Regierung und Präsidialadministration gekennzeichnet. Im März 1998 wurde Ministerpräsident Tschernomyrdin entlassen. Sein Sturz leitete eine neue Phase der politischen Entwicklung ein, die durch den raschen Wechsel von Ministerpräsidenten und Kabinetten gekennzeichnet war. Von März bis August 1998 vertrauten Jelzin und seine Berater das Amt des Regierungschefs dem jungen Energieminister Sergej Kirienko an. Als dieser mit seinen Vorstellungen von Haushaltssanierung am Widerstand der großen Kapitalgruppen scheiterte und Russland im Herbst 1998 abermals in eine schwere Finanzkrise geriet, ließ der Präsident ihn fallen. Stattdessen optierte er für Außenminister Ewgenij Primakow, einen konservativen Politiker mit großem Rückhalt in Gesellschaft und Parlament. Acht Monate später, im Mai 1999, entließ er diesen wieder - vor allem wohl deshalb, weil er politisch zu mächtig geworden war und nicht verhindert hatte, dass die Staatsanwaltschaft eine Reihe von Korruptionsfällen verfolgte, die in die unmittelbare Nähe Jelzins führten. Primakows Nachfolger, Innenminister Sergej Stepaschin, wurde schon nach knapp fünf Monaten durch Geheimdienstchef Wladimir Putin ersetzt.

Dieses "Ringelspiel der Kabinette" war ein Reflex der wachsenden Unsicherheit innerhalb der Umgebung Jelzins, seiner Tochter, seinem engeren Stab und den Finanzgruppen, die mit ihm verbunden waren. "Die Familie", wie diese Gruppe in der Öffentlichkeit bezeichnet wurde, geriet angesichts des sich nähernden Endes der Amtszeit und der laufenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft in Sorge. Sie suchten nach einem möglichen Nachfolger, der ihnen einen Ausweg weisen und die persönliche Sicherheit garantieren konnte.

Die Bilanz der Ära Jelzin

Zwischen 1991 und 1999 hatten sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland fundamental verändert. Im Gefolge der Transformation der ökonomischen Ordnung - durch Liberalisierung, Stabilisierung und Privatisierung - verschoben sich die Gewichte innerhalb der Gesellschaft. Die Privatisierung schuf eine neue Oberschicht, die aktiv an der Gestaltung der neuen Sozial- und Wirtschaftsordnung mitwirkte. Sie konnte das erreichen, weil das politische System, das nach 1991 entstanden war, und mit der Verfassung von 1993 fixiert wurde, die Mitwirkungsmöglichkeiten breiter Schichten weitgehend ausschloss. Nach einer Anfangsphase, in der die Protagonisten Demokratie und Marktwirtschaft als Ziel proklamiert hatten, begannen daher bald neu hervortretende politische und ökonomische Führungsgruppen, insbesondere die "Oligarchen" und die regionalen Eliten, Einfluss auf Entscheidungsprozesse zu nehmen und die neue Wirklichkeit mitzugestalten. Ihnen ging es nicht so sehr um Durchsetzung demokratischer oder marktwirtschaftlicher Prinzipien, sondern um Konsolidierung eigener Positionen.

Prof. Dr. Hans-Henning Schröder ist Forschungsgruppenleiter der Forschungsgruppe Russland / GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Seine Forschungsschwerpunkte sind die aktuelle politische Entwicklung in Russland, die Geschichte der Sowjetunion sowie russische Außen- und Sicherheitspolitik.