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Analyse: Die Politik der Umbenennung: Nationsbildung und Straßennamen in der Ukraine | Ukraine-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Politik der Umbenennung: Nationsbildung und Straßennamen in der Ukraine

Lina Klymenko

/ 9 Minuten zu lesen

Mit der Umbenennung von Straßen und dem Abbau von Denkmälern im Zuge der Dekommunisierungsreform wird versucht, die politische Vergangenheit aufzuarbeiten und eine ukrainische Nationalidentität aufzubauen. Einige der vorgenommenen Änderungen sind jedoch nicht unumstritten.

Im Zuge der ukrainischen Dekommunisierungspolitik wurden zahlreiche Sowjetsymbole entfernt, wie hier eine Lenin-Statue im März 2016 in Saporischschja. (© picture alliance/AA)

Zusammenfassung

Seit der Einführung der Dekommunisierungsgesetze im Jahr 2015 berichten die ukrainischen Medien regelmäßig über politische Auseinandersetzungen um die Umbenennung von Straßen, die an die Zeit des Kommunismus bzw. an einzelne kommunistische Führungspersonen erinnern. Am Beispiel der zentralukrainischen Stadt Poltawa wird im Folgenden untersucht, welche neuen nationalen Werte die ukrainische Dekommunisierungspolitik befördert.

Einleitung

Im April 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament mit dem Dekommunisierungspaket vier Gesetze. Zwei dieser Gesetze enthalten Regelungen zum Gedenken an den Zweiten Weltkrieg sowie eine Liste von Organisationen, die als Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit bezeichnet werden, darunter die berüchtigte Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und die Ukrainische Aufständische Armee (UPA), die beide im Zweiten Weltkrieg aktiv waren. Die anderen zwei Gesetze regeln den Zugang zu den Archiven repressiver sowjetischer Institutionen und stellen eine öffentliche Leugnung des kriminellen Charakters des Nazi- wie des kommunistischen Regimes von 1917 bis 1991 sowie die öffentliche Verwendung von deren Symbolen unter Strafe. Zudem enthalten die Gesetze Regelungen über die Entfernung kommunistischer Symbole. Hier ist unter anderem vorgesehen, Straßen, Plätze und andere Orte umzubenennen und Denkmäler kommunistischer Führungspersonen, die für politische Repressionen und die Hungersnot 1932/33 in der Sowjetukraine verantwortlich waren, abzureißen.

Die ukrainische Dekommunisierungsreform der vergangenen Jahre steht im Zusammenhang mit den politischen und sozialen Transformationsprozessen, die das Land nach der Euromajdan-Revolution 2013/14, der russischen Annexion der Krim 2014 und der andauernden Unterstützung des separatistischen Aufstands im ukrainischen Donbas durch Russland erlebt hat. Im Zuge der Revolution wurde eine Neubewertung des kommunistischen Regimes in der Ukraine verstärkt Thema, für die politischen Eliten wie auch die Bevölkerung. Mit ihrer Dekommunisierungspolitik intensiviert die politische Führung des Landes das ukrainische Nationsbildungsprojekt. Sie setzt sich dafür ein, die Sowjetperiode als Phase in der ukrainischen Geschichte zu verstehen, in der um die Unabhängigkeit von Russland gekämpft wurde, und sie versucht damit, den Einfluss des russischen Integrationsprojekts "Russki Mir" zu begrenzen und die Annäherung der Ukraine an die EU zu fördern.

Bis Ende 2016 wurden laut dem staatlichen Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken 32 Städte, 955 Orte, 25 Rajone (Landkreise) und 51.493 Straßen, Parks und andere Orte in der Ukraine umbenannt. Darüber hinaus wurden 2.389 Denkmäler und Gedenktafeln demontiert, darunter 1.320 Lenin-Statuen. Eine Umfrage des Umfrageinstituts "Rating Group Ukraine" ergab allerdings, dass 57 Prozent der Ukrainer die Umbenennung von Straßen und Orten nicht gutheißen, während 35 Prozent das Vorgehen unterstützen. Sobald den Menschen erklärt wurde, dass die Umbenennung selektiv erfolgen kann, sank der Anteil derjenigen, die diesen Prozess ablehnten, auf 44 Prozent, während 7 Prozent der Befragten noch immer unentschieden waren.

Der politische Kampf um die Umbenennung von Straßen: das Beispiel Poltawa

Das Ukrainische Institut für Nationales Gedenken berichtete wiederholt, dass Poltawa eine der wenigen Städte in der Ukraine war, die die Dekommunisierungsreform gänzlich ignorierten. Zwischen der Zentralregierung in Kiew und dem lokalen Stadtrat entwickelte sich ein Konflikt um die Dekommunisierungspolitik. Nach der Euromajdan-Revolution wurde der ehemalige Bürgermeister von Poltawa Oleksandr Mamai, Vorsitzender der Partei "Gewissen der Ukraine" (einer sogenannten Partei der Macht) wiedergewählt. Er gewann die Wahl mit 62,9 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent.

Da der Bürgermeister die Dekommunisierung so zögerlich vorantrieb, begann die Verwaltung der Oblast Poltawa im Februar 2016 mit der Entfernung der kommunistischen Symbole in der Stadt. Etliche öffentliche Initiativen zur Umbenennung von Straßen entstanden in der Folge; zudem gründete auch der vom ukrainischen Präsidenten ernannte Leiter der Oblast-Verwaltung Walerij Holowko eine Arbeitsgruppe zur Straßenumbenennung. Julian Matwijtschuk, Mitglied der rechtsradikalen "Freiheitspartei" und Abgeordneter des Stadtrats, gründete ebenfalls eine eigene Arbeitsgruppe, und der Bürgermeister gab seinem politischen Verbündeten Andrij Matkowskyj, ehemaliger Bürgermeister und Mitglied des "Blocks Petro Poroschenko", den Auftrag, eine weitere Arbeitsgruppe zu gründen. Zu den Experten in den Arbeitsgruppen zählten Geschichtsprofessoren und Architekten, Abgeordnete des Stadtrats und des Oblast-Rats, Personen des öffentlichen Lebens und Angestellte des Staatsarchivs der Oblast Poltawa. Die Arbeitsgruppen betonten zudem, dass sie es (über soziale Medien) auch den Einwohnern von Poltawa ermöglichen würden, ihre Meinung zu den Straßenumbenennungen zu äußern.

Bürgermeister Mamai lehnte die Umbenennung von Straßen vollständig ab. In einem Interview im August 2015 begründete er dies an erster Stelle mit den Kosten, die seiner Meinung nach die Einwohner tragen müssten, da sie verpflichtet wären, ihre Ausweise zu ändern. Weiterhin argumentierte er, dass die neuen Straßennamen die Namen derjenigen tragen sollten, die bei Militäraktionen im Osten der Ukraine ihr Leben ließen. Der Standpunkt des Leiters seiner Arbeitsgruppe, Matkowskyj, wurzelte in dessen Unterstützung der Sowjetsymbole. Er sprach sich dafür aus, Straßennamen beizubehalten, die dem Internationalen Tag der Arbeit (1. Mai) und dem Internationalen Frauentag (8. März) gewidmet sind, da diese auch in der postsowjetischen Ukraine landesweite Feiertage sind. Überdies rief er zur Erinnerung an die Militärangehörigen und Zivilisten auf, die in der Sowjetunion als Helden des "Großen Vaterländischen Krieges" geehrt wurden.

Im Gegensatz dazu wollte der Abgeordnete der "Freiheitspartei" Matwijtschuk anhand der Abschaffung sowjetischer Straßennamen die Auffassung verbreiten, dass die Ukraine ihre eigene Geschichte habe, die sich von derjenigen Russlands unterscheide. Er argumentierte in diesem Zusammenhang, einige Straßen sollten ihre alten Namen zurückerhalten, sodass statt der russischen Imperialgeschichte die ukrainische Geschichte reflektiert werde. Entsprechend vertrat Matwijtschuk die Auffassung, die umzubenennenden Straßen sollten berühmten Persönlichkeiten gewidmet werden, etwa aus Poltawa stammenden Soldaten, die bei der Militäroperation der ukrainischen Regierung im Donbas gefallen sind, oder Personen, die die Entwicklung der Künste, der Wissenschaft und des Sports in der heutigen Ukraine befördert haben.

Der Leiter der Oblast-Verwaltung Holowko setzte sich für die Aufklärung der Öffentlichkeit über die politischen Repressionen der kommunistischen Ära und die als Holodomor bekannte menschengemachte Hungersnot von 1932/33 ein. Holowko bezeichnete die gegenwärtige russische Aggression als Fortsetzung der russischen Dominanz über die Ukraine zu Sowjetzeiten. In diesem Sinne unterstützte er die Sichtweise, dass die Straßenumbenennung den Prozess der ukrainischen Nationsbildung stärkt. Seiner Meinung nach sollten die Straßen der Stadt ihre historischen Namen aus der Zeit vor dem Kommunismus zurückerhalten, um den historischen wie auch den aktuellen Kampf der Ukraine um ihre Unabhängigkeit von Russland zu reflektieren.

Die Dekommunisierung der Straßennamen in der Praxis

2016 erstellte die Oblast-Verwaltung von Poltawa schließlich ein Verzeichnis der neuen Straßennamen (Externer Link: http://www.adm-pl.gov.ua/sites/default/files/upload/files/brochura_2016.pdf) und informierte die Öffentlichkeit darüber, dass in Poltawa 110 Straßen, Plätze und Parks sowie zwei Stadtteile umbenannt wurden. Das Verzeichnis der neuen Straßennamen zeigt exemplarisch die Bemühungen der ukrainischen Regierung, das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Bürgern zu stärken. Einige Straßen wurden nach berühmten Persönlichkeiten der ukrainischen Diaspora benannt, andere erhielten religiöse Namen, die sich auf die räumliche Nähe zu orthodoxen Kirchen bezogen. Wieder andere Straßennamen wurden durch Weglassung einer kommunistischen Konnotation nur abgeändert und manche erhielten letztlich neue Namen, die mit keiner bestimmten politischen Ideologie verknüpft sind.

Zahlreiche Straßennamen beziehen sich jedoch auf die Geschichte der ukrainischen Nations- und Staatsbildung, angefangen bei der Kiewer Rus (die als Prototyp des gegenwärtigen ukrainischen Staats angesehen wird und ins 9. bis 13. Jahrhundert zurückreicht) über die Ära der Kosaken (die mit dem Kampf der ukrainischen Kosaken gegen das Großfürstentum Moskau im 17. und 18. Jahrhundert verbunden wird) bis zur kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik (1917 bis 1921).

Einige Hauptstraßen erinnern an historische Personen – von denen die politische Führung der Ukraine die meisten schon lange als Nationalhelden im Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine von Russland sieht, während sie in der ukrainischen Bevölkerung umstritten sind. So wurde beispielsweise die Kalinin-Straße in Iwan-Masepa-Straße umbenannt. Masepa wird im Verzeichnis der neuen Namen als ukrainischer Kosaken-Hetman, Feldherr und Patron der Wissenschaft und der Kirche aufgeführt. Im Mai 2016 wurde mit Unterstützung des ukrainischen Präsidenten in der Altstadt von Poltawa ein Masepa-Denkmal enthüllt. Die Artem-Straße wurde in Symon-Petljura-Straße umbenannt. Petljura wird als berühmter ukrainischer Staatsmann, Publizist und Mitglied des Zentralrats von 1917 sowie als Generalsekretär des Militärwesens, oberster Ataman und Vorsitzender des Direktorats der Ukrainischen Volksrepublik beschrieben. Zu Sowjetzeiten galten sowohl Masepa als auch Petljura als Verräter; in der postsowjetischen Ukraine hingegen wurden sie zu Kämpfern für die ukrainische Souveränität erhöht.

Der Name einer weiteren zentralen Straße wurde zum Symbol der ukrainischen Einheit: Die Schowtnewa-Straße (Oktoberstraße) wurde in Sobornosti-Straße (Einheitsstraße) umbenannt. Im ukrainischen Kontext bezeichnet der Ausdruck sobornist, wie das Verzeichnis der neuen Straßennamen erklärt, die Vereinigung der Ukrainer in einem Nationalstaat. Laut Verzeichnis kann die Bedeutung von sobornist bis in die Zeit der Kiewer Rus und in die Ära der Kosaken zurückverfolgt werden; am offensichtlichsten ist jedoch der Bezug auf das frühe 20. Jahrhundert, als die Zentralna Rada im Januar 1919 einen vereinten ukrainischen Staat ausrief.

Darüber hinaus sollten die Namen der zentralen Straßen der Stadt das Ziel der Ukraine proklamieren, ein europäischer Staat zu werden. So wurde zum Beispiel die Lenin-Straße in Nebesnoji-Sotni-Straße (Straße der Himmlischen Hundert) umbenannt. Laut Verzeichnis wird damit der bei der Euromajdan-Revolution von 2013/14 zugunsten einer freien und europäischen Ukraine ums Leben Gekommenen gedacht. Des Weiteren erhielt die Frunse-Straße den Namen Jevropejska-Straße (Europäische Straße).

Bei der Wahl einiger anderer neuer Straßennamen wurde das Ziel der Oblast-Verwaltung, europäische Werte zu verbreiten, allerdings auf fragwürdige Weise umgesetzt. Besonders umstritten war die Benennung einiger – wenn auch kleinerer oder außerhalb des Zentrums gelegener – Straßen nach OUN- und UPA-Mitgliedern. Etliche Wissenschaftler riefen in Erinnerung, dass diese antisowjetische Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg massenhaft Gräueltaten beging und am Holocaust sowie ethnischen Säuberungen in Polen beteiligt war. Die Beschreibungen durch die Oblast-Verwaltung in dem Verzeichnis hinterlassen jedoch nicht den Eindruck, dass die Geschichte der OUN und der UPA kritisch bewertet wurde.

Den Vorschlag des Freiheitspartei-Abgeordneten Matwijtschuk, eine Straße UPA-Straße und eine andere Stepan-Bandera-Straße zu nennen, lehnte die Oblast-Administration zwar ab, an andere Mitglieder der bewaffneten antisowjetischen Widerstandsbewegung wird mit den neuen Straßennamen jedoch erinnert. So wurde beispielsweise die Pionerskyj-Straße (Straße der Pioniere) in Roman-Schuchewytsch-Straße umbenannt. Im Verzeichnis der neuen Straßennamen wird Schuchewytsch als hochrangige politische und militärische Führungsfigur und als Mitglied des galizischen Arms der OUN bezeichnet sowie als führendes Mitglied der UPA, als Generalsekretär des Obersten Ukrainischen Befreiungsrats von 1943 bis 1950 und als Kommandeur des ukrainischen Nachtigall-Bataillons in der Wehrmacht von 1941 bis 1942 aufgeführt, dem posthum der Titel "Held der Ukraine" verliehen wurde. Die Marschall-Konew-Straße wurde in Jewhen-Konowalez-Straße umbenannt, wobei Konowalez als berühmter Staatsmann, politische und militärische Führungsfigur und OUN-Mitbegründer beschrieben wird. Die Baumann-Straße wurde in Kyrylo-Osmak-Straße umbenannt, der im Verzeichnis als Mitglied des 1917 gegründeten Zentralrats, Mitglied des OUN und Vorsitzender des Obersten Ukrainischen Befreiungsrats geführt wird. Ein letztes Beispiel: Die ehemalige Dunditsch-Gasse erhielt den Namen von Mykola Lemik, der als Politiker, OUN-Mitglied und Leiter des ostukrainischen Arms der OUN bezeichnet wird.

Fazit

In der Ukraine wird mit den Mitteln der Dekommunisierungspolitik die kommunistische Vergangenheit auf lokaler Ebene neubewertet. Der Prozess der Dekommunisierung in der Ukraine ist nicht nur ein Mittel zur Aufarbeitung der politischen Repressionen der kommunistischen Ära, sondern veranschaulicht auch den staatlich organisierten Aufbau einer ukrainischen Nationalidentität. Zudem zeigen die Straßenumbenennungen in Poltawa die Machtverhältnisse – bezogen auf die Definition der ukrainischen Nationalgemeinschaft – zwischen zentraler und lokaler politischer Ebene. Die orthodoxe Religion, das Bestreben, die regionalen Grenzen innerhalb der Ukraine zu überwinden, die Annäherung an die EU und die Auffassung, dass die Ukrainer eine eigenständige, nicht mit Russland verbrüderte ethnonationale Gemeinschaft sind, sind die wichtigsten Kennzeichen der ukrainischen Nationalidentität. Einige Straßennamen, die zur Manifestation dieser Werte gewählt wurden, sind allerdings fragwürdig – besonders umstritten ist die Benennung von Straßen nach OUN- und UPA-Mitgliedern. Im Verzeichnis der neuen Straßennamen werden die Aktivitäten von OUN und UPA in Hinblick auf ihren Dienst für den Kampf um einen ukrainischen Nationalstaat dargestellt, ohne jedoch auf die von OUN und UPA massenhaft ausgeübte Gewalt hinzuweisen.

Bibliographie

  • Klymenko, Lina (2017) Cutting the Umbilical Cord: The Narrative of the National Past and Future in Ukrainian De-communization Policy, in Belavusau, U. und Gliszczyńska-Grabias, A. (eds) Law and Memory: Towards Legal Governance of History. Cambridge: Cambridge University Press, S. 310−328.

  • Klymenko, Lina (2014) World War II in Ukrainian School History Textbooks: Mapping the Discourse of the Past. Compare: A Journal of Comparative and International Education, Volume 44, Nr. 5, S. 756–777.

  • Shevel, Oxana (2016) Decommunization in Post-Euromaidan Ukraine: Law and Practice. Ponars Policy Memo 411, Externer Link: http://www.ponarseurasia.org/memo/decommunization-post-euromaidan-ukraine-law-and-practice.

Fussnoten

Lina Klymenko promovierte in Politikwissenschaft an der Universität Wien und ist Dozentin an der Tampere-Universität in Finnland. Die Schwerpunkte ihrer Forschung sind Außenpolitik, Erinnerungspolitik und Politik der nationalen Identität in postsowjetischen Ländern.