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Vom Reich zur Republik: die "kemalistische Revolution" | Türkei | bpb.de

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Vom Reich zur Republik: die "kemalistische Revolution"

Heinz Kramer

/ 12 Minuten zu lesen

Die Gründung der Republik Türkei im Oktober 1923 bedeutete eine tiefgehende Zäsur für die dort lebenden Menschen. Von ihrem Schöpfer Mustafa Kemal wurde sie als fundamentaler Bruch mit der Vergangenheit des Osmanischen Reiches gestaltet und in autoritärer Weise durchgesetzt.

Kemal Atatürk, der Bergünder der modernen Türkei. Das Aufnahmedatum ist unbekannt. (© picture-alliance/AP)

Einleitung

Das Osmanische Reich hatte im Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands und seiner Verbündeten gegen die Alliierten (England, Frankreich, Russland und ihre Verbündeten) gekämpft. Es gehörte folglich zu den Verlierern dieses Krieges. Die Alliierten unter britischer Führung besetzten große Teile Anatoliens. Sie ließen aber die Regierung unter Sultan Mehmet VI., die nach der Flucht der jungtürkischen Kriegsregierung von Enver Pasa (Pascha) nach Deutschland im Herbst 1918 an die Macht gekommen war, im Amt und verzichteten auf die Errichtung eines Besatzungsregimes in Istanbul. Politisch blieb das Reich also in den von den Alliierten gesetzten Grenzen handlungsfähig.

Es nahm daher auch an den Friedensverhandlungen bei Paris teil, mit denen 1919/1920 der Krieg offiziell beendet wurde. Dabei konnte und wollte die osmanische Regierung den alliierten Forderungen wenig entgegensetzen und unterzeichnete am 10. August 1920 nach anfänglichen Protesten die Bedingungen des Vertrages von Sèvres. Er sah vor, Anatolien bis auf ein relativ kleines Gebiet im Zentrum weitgehend unter den Siegermächten Frankreich, Italien, Griechenland und Russland aufzuteilen. Als diese Pläne im Sommer 1919 Gestalt annahmen, rührte sich Widerstand, der vor allem von in den Untergrund gegangenen jungtürkischen Gruppierungen getragen wurde.

Aus diesem Widerstand sollte die Republik Türkei hervorgehen, deren Gründung vorwiegend das Werk von Mustafa Kemal (Atatürk) war und einen radikalen Bruch mit dem osmanischen Staat und seiner Gesellschaft bedeutete. Grundlegender politischer und institutioneller Wandel stand so schon am Anfang des neuen Staates. Die nachfolgende Entwicklung der Republik bis heute kann als Anpassung an die damals vorgenommenen Umwälzungen gesehen werden, die immer noch nicht vollständig bewältigt wurde.

Mustafa Kemal und die Gründung der Republik

Mit der Proklamation der Republik am 29. Oktober 1923 trat die "kemalistische Revolution" in ihre entscheidende Phase: Nach der völkerrechtlichen Konsolidierung des neuen Regimes durch den Vertrag von Lausanne vom Juli 1923, der den Vertrag von Sèvres ersetzte, ging es nun darum, den neuen türkischen Staat gemäß den Vorstellungen seines Schöpfers Mustafa Kemal (1881-1938) aufzubauen. Dieser verfolgte eine Politik des radikalen Bruchs mit der Vergangenheit. Alles, Staat und Gesellschaft, sollte grundlegend neu geschaffen werden. Vorbild dafür waren die "moderne" europäische "Zivilisation" jener Tage und die national-staatszentrierte europäische politische Ideologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Die kemalistische Reformpolitik war jedoch nicht ohne Voraussetzungen. Insbesondere die jungtürkische Herrschaft ab 1908 und die ihr zugrunde liegenden politischen Ideen haben Mustafa Kemal und seine politische Weltsicht und damit auch sein politisches Wirken als "Vater" (Atatürk) der modernen Republik Türkei entscheidend geprägt. Damit sind aber auch - gewollt oder ungewollt - die Traditionslinien osmanischer Modernisierungspolitik seit dem frühen 19. Jahrhundert in das Projekt der Republik Türkei eingeflossen. Europa wurde zum umfassenden Vorbild für einen großen Teil der kulturellen, aber auch der politischen und militärischen Eliten des Osmanischen Reiches.

Mustafa Kemal war ein Kriegsheld. Der General genoss im Kreise der Armee und darüber hinaus hohes Ansehen. Außerdem war er ein Angehöriger des jungtürkischen "Komitees für Einheit und Fortschritt", das als militärischer Geheimbund seit seinem ersten revolutionären Auftreten 1908 zur wesentlichen Triebkraft der politischen Umwälzungen des Osmanischen Reiches vor und während des Ersten Weltkriegs geworden war. Mustafa Kemal war völlig vom national-säkularistischen Gedankengut des Komitees durchdrungen, und dessen autoritärer Politikstil fand ebenfalls seine Billigung. Für ihn war deshalb der neue türkische Staat nur als einheitlicher Nationalstaat auf der Grundlage einer strikten Trennung von Staat und Religion vorstellbar und musste notfalls auch gegen den Widerstand des Volkes oder oppositioneller Kräfte durchgesetzt werden.

Unter den Führungspersonen des nationalen Widerstandes gegen die europäischen Siegermächte war Mustafa Kemal der bei weitem politisch energischste, zielstrebigste und skrupelloseste. Er hatte ein klar umrissenes politisches Programm - die Wiederherstellung des Vaterlandes als türkischer Nationalstaat unter seiner Führung -, das er unnachgiebig verfolgte. Darin hatte das osmanische Fürstenhaus nur noch einen taktischen, aber keinen grundsätzlichen Platz mehr. Mustafa Kemal war nicht bereit, sich in das Istanbuler Herrschaftssystem einzuordnen. Dieses sollte durch sein eigenes, neues abgelöst werden.

Er konzentrierte sich darauf, den nationalen Widerstand in den nicht von alliierten Truppen besetzten Gebieten des Reiches, das heißt in Ost- und Zentralanatolien sowie entlang der Schwarzmeerküste, zu organisieren. Sein politisches Programm wurde im Sommer 1919 auf verschiedenen von Mustafa Kemal in anatolischen Provinzzentren organisierten Kongressen des Widerstandes im "Nationalpakt" konkretisiert. In ihm wurden die Grenzen des neuen türkischen Staates bestimmt. Dieser sollte weitgehend auf das anatolische Gebiet des Reiches mit einem Teil des europäischen Thrakiens beschränkt sein. Gleichzeitig wurde die türkische Nation als Souverän zum ideellen Träger des neuen Staates erklärt, der über die volle nationale Unabhängigkeit verfügen sollte.

Die Führung des Widerstandes, das "Komitee der Repräsentanten" der "Gesellschaft zur Verteidigung der Rechte Anatoliens und Rumeliens" unter der Leitung von Mustafa Kemal, verlegte ihr Hauptquartier im Dezember 1919 in die kleine Stadt Ankara, die ein zentralanatolischer Knotenpunkt im Telegrafen- und Eisenbahnnetz war. Seine fast dauerhafte Anwesenheit in Ankara machte Mustafa Kemal zum "natürlichen" Zentrum des politischen Geschehens.

Im März 1920 besetzten die Briten Istanbul und lösten das osmanische Parlament auf, in dem inzwischen die Kräfte des Widerstandes den Ton angaben. Mustafa Kemal lud daraufhin die Abgeordneten nach Ankara ein, wo sich am 23. April 1920 die Große Nationalversammlung konstituierte. Damit entstand ein zweites voll funktionsfähiges und legitimiertes politisches Zentrum, das sofort die politische Souveränität für sich beanspruchte. Entscheidungen der Istanbuler Regierung des Sultans wurden von Ankara nicht mehr anerkannt. Zur Stärkung seiner Position in der recht heterogen zusammengesetzten Nationalversammlung sammelte Mustafa Kemal im Mai 1921 seine engeren Anhänger in der "Gruppe zur Verteidigung der Rechte", der Vorläuferorganisation der späteren Republikanischen Volkspartei (CHP).

Als Vorsitzender der Nationalversammlung und Chef der von ihr gestellten Regierung stellte er zunächst die Befreiung des Vaterlandes von den europäischen Besatzern und die Revision des Vertrages von Sèvres in den Vordergrund seiner Anstrengungen. Die Berufung auf diese nationalen Ziele half ihm, sich auch in kritischen Situationen gegen Widerstand in der Versammlung durchzusetzen.

Hauptaktivität der nationalen Unabhängigkeitsbewegung war der Kampf gegen die griechischen Besatzungstruppen in Westanatolien. Die französischen und italienischen Truppen hatten vorher die von ihnen besetzten Gebiete im Süden aufgrund der in der europäischen Bevölkerung nach den Pariser Friedensschlüssen (1919/1920) um sich greifenden Kriegsmüdigkeit freiwillig geräumt. Russland hatte schon im Anschluss an die bolschewistische Revolution (1918) einen Ausgleich mit Ankara gesucht. Das führte zur Konsolidierung und Befriedung an den Nord- und Ostgrenzen. Mit dem Sieg über die griechische Armee in Westanatolien Anfang September 1922 wurde der natio-nale Befreiungskampf erfolgreich beendet. Faktisch war damit Anatolien in den Grenzen des Waffenstillstandes von 1918 nunmehr von fremden Truppen, aber auch von "fremder", das heißt vor allem griechischer und armenischer Bevölkerung "befreit".

Im Anschluss an den Vertrag von Lausanne (1923) fand ein vertraglich vereinbarter Bevölkerungstausch statt, bei dem die gesamte griechisch-orthodoxe Bevölkerung Anatoliens, mit Ausnahme der Griechen Istanbuls, nach Griechenland und die gesamte muslimische Bevölkerung Griechenlands, mit Ausnahme der Muslime Westthrakiens, in die Türkei umgesiedelt wurden. Insgesamt zogen in den Jahren von 1912 (Beginn der Balkankriege) bis zum Abschluss des Austausches 1924 circa 400000 Muslime aus Griechenland in die Türkei und etwa 1,2 Millionen Griechen in die Gegenrichtung.

Zu Beginn der Republik bestand deren Bevölkerung nunmehr zu 98 Prozent aus Muslimen. Nicht-muslimische Minderheiten gab es praktisch nicht mehr: Die griechische Bevölkerung war von circa zwei Millionen auf 120000 (vorwiegend in Istanbul lebend) geschmolzen, die Armenier von über 1,5 Millionen auf 65000 (ebenfalls überwiegend in Istanbul). Letztere waren vor allem der gezielten Vernichtungspolitik der jungtürkischen Führung in der Frühphase des Ersten Weltkriegs 1915 zum Opfer gefallen.

Der nationale Widerstand unter der Führung Mustafa Kemals hatte das "Diktat von Sèvres" vollständig revidiert. Gleichzeitig war in Ankara das politische Zentrum einer neuen Türkei entstanden, deren Leitbild die nationale Unabhängigkeit war. Ebenso waren die ethnischen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die islamische Religion zu einem natürlichen Identitätsfaktor der künftigen türkischen Nation werden konnte. Zunächst jedoch kam es Mustafa Kemal darauf an, den militärischen Erfolg politisch zu konsolidieren und die Türkei auch zu einem anerkannten, gleichberechtigten Mitglied der Staatengemeinschaft Europas zu machen. Das geschah mit dem Vertrag von Lausanne im Juli 1923.

Aus türkischer Sicht ist am Lausanner Vertrag vor allem bemerkenswert, dass damit das neue Regime in Ankara international anerkannt wurde. Die Türkei verhandelte in ihrer Wahrnehmung zudem nicht als eine Verliererin des Ersten Weltkriegs über die endgültige Friedensregelung, sondern als Siegerin des nationalen Befreiungskampfes über die internationale Anerkennung der Grundsätze des Nationalpakts. Mit Lausanne wurde die Türkei in dieser Perspektive ein vollkommen gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatenwelt.

Das neue türkische Regierungssystem blieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch unverändert: Der Präsident der Republik war das Zentrum der Macht. Der Ministerpräsident war sein exekutiver Arm. Die Gesetze wurden im geschlossenen Kreis der CHP-Führung erörtert und dann der Nationalversammlung zur formalen Verabschiedung vorgelegt. Damit war das Instrumentarium geschaffen, mit dem Mustafa Kemal seine neue Türkei aus dem vom ununterbrochenen zehnjährigen Krieg (1912-1922) und seinen Folgen ruinierten Anatolien bauen wollte. In den Augen seiner Anhänger und zahlreicher Landsleute hatte er es vor der Vernichtung durch die europäischen Mächte gerettet.

"Europäisierung" und Säkularisierung

Mit dem Lausanner Vertrag und der Ausrufung der Republik war die Hülle des türkischen Nationalstaats entstanden. Allerdings fühlte sich nur eine Minderheit der Bewohner Anatoliens als Türken im Sinne eines Staatsvolks. Die Idee der Volkssouveränität mochte zwar in der Verfassung der Republik zum Ausdruck gebracht werden, in den Köpfen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger war sie nicht vorhanden. Dies zu ändern, war eines der erklärten Ziele von Mustafa Kemals Reformpolitik.

Der erste Schritt war die Abschaffung des Kalifats am 3. März 1924 und die anschließende Ausweisung aller Angehörigen der Herrscherfamilie. Ihm folgte die Verabschiedung der Verfassung am 20. April 1924, mit der die Republik konsolidiert wurde und die bis 1961 im Wesentlichen unverändert blieb. Im Anschluss ging Mustafa Kemal daran, die türkische Bevölkerung von bestimmten islamischen Traditionen zu "befreien".

Den Anfang machte das Hutgesetz vom 25. November 1925, mit dem der Fez verboten und der Hut ab November 1928 als Kopfbedeckung der Männer vorgeschrieben wurde. Die Bekleidung der Frauen wurde jedoch nicht reglementiert, insbesondere wurde der "Schleier" nicht verboten, wenngleich er in den Augen Mustafa Kemals und seiner Anhänger verpönt war. Am 30. November 1925 wurden die Konvente der Derwischorden aufgelöst und die traditionelle Verehrung von Sultans- und Heiligengräbern verboten. Das war ein Schlag gegen den in Anatolien weit verbreiteten Volksislam. Jenseits der Moscheen gab es keine zulässigen Stätten religiöser Verehrung mehr. "Religiöse Kleidung" durfte nur von Geistlichen und nur bei religiösen Anlässen getragen werden.

Die heute in der Türkei hoch aktuelle Auseinandersetzung über das "Kopftuch" (türban) der gläubigen Studentinnen zeigt, dass mit dem Hutgesetz die Frage der Bekleidung als Merkmal türkischer Identität keineswegs abschließend geregelt werden konnte. Zwar arrangierten sich die Männer mit dem neuen Gesetz, indem sie in der großen Mehrzahl die flache Schirmmütze zur neuen "typischen" Kopfbedeckung erkoren und auch sonst im Laufe der Zeit die europäische Bekleidung annahmen. Doch zeigt sich bis heute an der "Kleiderfrage" der Frauen die große Bedeutung, die das äußere Erscheinungsbild für die muslimische Identität besitzt: Die Bekleidung ist unter anderem ein Element, mit dem sich die Gläubigen von den Ungläubigen unterscheiden können.

Im Jahre 1926 wurde mit der Übernahme des Schweizer Zivilgesetzbuchs und des italienischen Strafgesetzbuchs die Grundlage der Rechtsbeziehungen in der Republik säkularisiert. 1928 wurde der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen.

Am 3. November 1928 verabschiedete die Nationalversammlung das Gesetz, mit dem ab dem 1. Januar 1929 das türkische (lateinische) Alphabet zur offiziellen Schriftsprache der Republik erklärt und die Benutzung der alten osmanischen Schrift verboten wurde. Im selben Jahr wurde auch die islamische Zeitrechnung durch den Gregorianischen Kalender und der Freitag durch den Sonntag als Wochenfeiertag abgelöst. Damit war auch die letzte Verbindung zur alten Ordnung und ihren religiösen Grundlagen gekappt.

Die Folgen waren aus heutiger Sicht zwiespältig. Für die breite Masse der Bevölkerung wurde die Überwindung des Analphabetentums wesentlich erleichtert, ja überhaupt erst ermöglicht. Binnen weniger Jahre verdoppelte sich die Zahl der Personen, die des Lesens und Schreibens mächtig waren, von zehn auf 20 Prozent bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 16 Millionen Menschen. Durch die Sprachreform wurde der Anschluss der Türkei an die "westliche Zivilisation" erheblich erleichtert, da die Schriftbarriere wegfiel.

Die mit den kemalistischen Reformen verbundene Säkularisierung setzte sich jedoch für lange Zeit nur in den städtischen Gebieten und bei der Mehrzahl der in der öffentlichen Verwaltung Beschäftigten durch. Es entstand eine kemalistische Elite, die sich die Durchsetzung und später dann die Bewahrung der Reformen zur Aufgabe machte. In den Anfängen war diese Elite weitgehend mit jenen Gruppen identisch, die auch schon in der jungtürkischen Zeit die Geschicke des Reiches gesteuert hatten: den Vertretern des Staatsapparates, der Militärführung sowie den Angehörigen der säkularen Bildungseliten. Anders als die jungtürkischen Reformen vor dem Ersten Weltkrieg konnte die kemalistische Aufpfropfung der westlichen Zivilisation aber konsolidiert werden, weil die Republik von äußeren Herausforderungen weitgehend verschont blieb.

Hinzu kam, dass Mustafa Kemal von Beginn an den staatlichen Machtapparat skrupellos zur Unterdrückung jeden gesellschaftlichen Widerstandes gegen die säkularisierende Reformpolitik einsetzte. Wesentliche Instrumente waren dabei ein Ausnahmerecht und auf seiner Grundlage eingesetzte "Unabhängigkeitsgerichte", die ihre Urteile unter weitgehender Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze nach Maßgabe politischer Willkür fällten. So war Anfang der 1930er-Jahre jeder Widerstand im Innern ausgeschaltet und die Einparteienherrschaft der CHP unter Mustafa Kemals Führung endgültig etabliert.

Die Republik Türkei ging aus dem nationalen Befreiungskampf und den kemalistischen Reformen als ein autoritäres politisches System mit "europäischem Aussehen" hervor, dessen Geschicke im Wesentlichen von der "zweiten Generation" der jungtürkischen Bewegung bestimmt wurden. Sie unterschied sich von den zeitgleichen totalitären Regimen in Europa vor allem dadurch, dass ihre Führung weitgehend darauf verzichtete, eine totale Gleichschaltung der Gesellschaft durchzusetzen. Die Anhänger einer eher liberalen Reformpolitik blieben jedoch ebenso auf der Strecke wie die Vertreter islamistischer Strömungen. Beide sollten bis Anfang der 1950er-Jahre keine Rolle mehr spielen.

So gesehen war die "kemalistische Revolution" vor allem eine grundlegende Änderung des institutionell-politischen Überbaus (Republik) und die Vorgabe eines gesellschaftlichen Idealbildes ("westliche Zivilisation") der Türkei, nicht jedoch eine fundamentale soziale Umwälzung. Staatspolitik und Gesellschaft waren nach dem Abschluss der kemalistischen Reformpolitik für lange Zeit noch nicht vollständig kongruent. Doch war die Machtposition der Reformeliten so weit konsolidiert, dass es ein Zurück hinter die kemalistische Säkularisierung von oben nicht mehr geben konnte. Die Republik Türkei war damit von ihrem Gründer, wenn auch mit mitunter höchst zweifelhaften Methoden, auf einen Modernisierungspfad gesetzt, der sie zum heute am weitesten entwickelten Land ihrer Region machen sollte.

Die kemalistischen Prinzipien

Die politischen Umwälzungen Atatürks kamen, wie alle derartigen revolutionären Prozesse, nicht ohne einen ideologischen Überbau aus. Aus den zahlreichen Reden Atatürks wurden im Diskurs der intellektuellen Zirkel der CHP die sechs Prinzipien des Kemalismus herausgearbeitet. Sie versinnbildlichten die programmatische Grundlage der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Modernisierung der Türkei. Zugleich waren sie das ideologische Konstrukt, mit dem die Maßnahmen der kemalistischen Elite zur konkreten Umsetzung dieses Programms rechtfertigt wurden. Die Prinzipien wurden 1931 in das Programm der CHP aufgenommen und als die "sechs Pfeile" auch in das Parteiemblem übernommen.

Diese Prinzipien sind:

  • 1. Republikanismus als Ausdruck des Prinzips der Volkssouveränität als Grundlage aller politischen Entscheidungen. Damit ist gleichzeitig die Absage an die in der Figur des Sultans verkörperte personale Herrschaft des Osmanischen Reiches verbunden. Dabei wurde großzügig darüber hinweggesehen, dass das Volk im politischen Prozess keine Stimme hatte: Im Parlament fanden sich handverlesene Gefolgsleute der CHP.

  • 2. Populismus als Ausdruck der Gleichheit der türkischen Staatsbürgerinnen und -bürger, was die Herrschaft einer Klasse über andere ausschließt. Die autoritäre Einparteienherrschaft der CHP sprach dem ebenso Hohn wie die faktische Diskriminierung aller Minderheiten.

  • 3. Etatismus als Ausdruck einer staatlichen Beeinflussung der Wirtschaft, die allerdings nicht die Verstaatlichung der Produktionsfaktoren vorsah;

  • 4. Revolutionismus/Reformismus als Ausdruck der Notwendigkeit, die Modernisierungspolitik von oben kontinuierlich fortzusetzen;

  • 5. Laizismus als Ausdruck der Trennung von Staat/Politik und Religion sowie

  • 6. Nationalismus als Ausdruck für das Zusammengehörigkeitsgefühl der neuen türkischen Bürgerinnen und Bürger.

Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für die weitere Entwicklung verdienen die unter 1., 5. und 6. aufgeführten Prinzipien eine eigene Betrachtung (siehe das folgende Kapitel).

Diese sechs Prinzipien wurden erst im Laufe der Entwicklung der Republik, insbesondere nach Atatürks Tod, von der Führung der Staatspartei und den sich auf den Kemalismus berufenden neuen republikanischen Eliten dogmatisiert. Ihre Verankerung als Artikel 2 in der türkischen Verfassung im Jahre 1937 hat sie kanonisiert. Seitdem wurden sie von allen Regierungen zur Begründung ihrer jeweiligen Politik herangezogen, und alle Parteien berufen sich bis heute in ihren Programmen mehr oder weniger deutlich auf sie. Doch ihre konkrete Bedeutung und damit auch das vorherrschende Verständnis von Kemalismus sind abhängig von den jeweiligen gesellschaftlich-politischen Machtkonstellationen und den ihnen zugrunde liegenden Einflussgrößen.