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24. Juli 1923: 100 Jahre Vertrag von Lausanne | Hintergrund aktuell | bpb.de

24. Juli 1923: 100 Jahre Vertrag von Lausanne

Redaktion

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Am 24. Juli 1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet. Er regelt die bis heute gültigen Grenzen der Türkei zu seinen europäischen Nachbarn und hatte gravierende Folgen für die Situation von Minderheiten auf türkischem Staatsgebiet.

Von November 1922 bis Juli 1923 verhandelten die Delegationen über den Vertrag von Lausanne. Für die Türkei leitete İsmet İnönü (fünfter von links) die Gespräche. (© picture-alliance)

Der Vertrag von Lausanne kann als später Teil derInterner Link: Pariser Vorortverträge gesehen werden, die den Ersten Weltkrieg formal beendeten. Unterschrieben wurde der Vertrag am 24. Juli 1923 von der Türkei einerseits und dem Britischen Reich, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen andererseits. Der Vertrag gilt als ein Ausdruck der geopolitischen Machtverhältnisse , die nach Interner Link: der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und dem daran anschließenden sogenannten Türkischen Befreiungskrieg inklusive des Griechisch-Türkischen Kriegs entstanden waren.

Die im Vertrag von Lausanne festgelegten Grenzen der Türkei zu seinen Nachbarstaaten gelten größtenteils noch heute. Außerdem hatte er weitreichende Folgen für die Situation der Minderheiten in dem neuen Staat. So regelt der Vertrag im Rahmen eines „Bevölkerungsaustausches“ zwischen Griechenland und der Türkei umfangreiche Umsiedlungen und legitimierte damit bereits erfolgte Vertreibungen. Die armenische und kurdische Bevölkerung konnte ihren Wunsch nach Autonomie und einem eigenen Staat in dem Vertrag nicht durchsetzen. Zudem definierte der Vertrag, wer als Minderheit in der Türkei anerkannt werden sollte und legte ihre Rechte fest.

Der Weg zum Vertrag von Lausanne

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war das Osmanische Reich geschwächt. Von seiner Interner Link: größten Ausdehnung im 17. Jahrhundert hatte der Vielvölkerstaat große Gebiete unter anderem an europäische Kolonialmächte verloren. Die Niederlagen in den Balkankriegen von 1912-1913 führte schließlich zum Verlust fast aller europäischen Gebiete. Zusätzlich erstarkte ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die nationalistische Gruppierung der Jungtürken, welche den Sultan unter Druck setzte und für eine konstitutionelle Monarchie kämpfte. Der Eintritt des Osmanischen Reichs in den Ersten Weltkrieg war unter anderem mit der Hoffnung verbunden, Gebiete wie Makedonien und Thessalien zurückzuerobern.

Im August 1914 schloss das Interner Link: Osmanische Reich ein Bündnis mit dem Deutschen Kaiserreich und der österreich-ungarischen Doppelmonarchie und trat bald darauf in den Krieg ein. Dieser endete im Oktober 1918 mit einer Niederlage für das Osmanische Reich, nachdem das Britische Reich, Frankreich und Italien sein Gebiet besetzt hatten.

Friedensvertag von Sèvres wurde nie umgesetzt

Als Interner Link: Resultat der Pariser Friedensverhandlungen unterschrieb Sultan Mehmet VI., der die Türkei seit Juli 1918 regierte, am 10. August 1920 den Externer Link: Vertrag von Sèvres, der allerdings nie umgesetzt wurde. Darin teilten die Alliierten das Reich auf:

  • Armenien wurde nach dem Völkermord in den Jahren 1915/16 ein eigener Staat zugestanden

  • Griechenland erhielt das Gebiet um Izmir und Thrakien

  • Frankreich und Italien erhielten Interessengebiete auf dem anatolischen Festland

  • Für die kurdischen Gebiete sollte ein Modell einer lokalen Autonomie mit Perspektive zur Unabhängigkeit erarbeitet werden

  • Die Hauptstadt Konstantinopel, das heutige Istanbul, wurde von den Alliierten besetzt

Nach den Plänen des Vertrags von Sèvres hätte das Osmanische Reich als selbstständiger Staat nur noch im Zentrum Anatoliens bestanden. Der Vertrag von Sèvres wurde von der türkischen Bevölkerung als diktierter Frieden wahrgenommen.

Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung hatte sich die Situation im Land jedoch bereits gewandelt. Der Sultan hatte an Rückhalt in der muslimischen Bevölkerung verloren. Als die Vertragspläne 1919 konkreter wurden, formierte sich im Osmanischen Reich eine Nationalbewegung, die den Vertrag ablehnte. General Interner Link: Mustafa Kemal, der als späterer türkischer Staatsgründer den Namen Atatürk erhielt, organisierte den als Türkischen Befreiungskrieg bekannten Unabhängigkeitskrieg. Sein Ziel war es, alle anatolischen Gebiete unter türkische Kontrolle zu bringen und einen muslimisch-anatolischen Nationalstaat zu gründen.

Türkischer Befreiungskrieg und Kleinasiatische Katastrophe

Der sogenannte Türkische Befreiungskrieg begann im Mai 1919 als Partisanenkrieg der türkischen Nationalen Kräfte gegen die griechische Armee, die Izmir besetzt hatte. Dieser wurde zum am längsten andauernden Teilkonflikt des Krieges. Hier versuchte das griechische Militär, die Gebiete Anatoliens, in denen sich ein Großteil als Griechen identifizierte, von türkischer Vorherrschaft zu befreien und weiter Richtung Ankara zu expandieren.

Im Sommer 1922 wurden sie von Kemals Truppen geschlagen. Beide Armeen begingen Verbrechen an der Zivilbevölkerung, indem sie Dörfer und Städte niederbrannten, ihre Einwohner töteten und vergewaltigten. Im September 1922 eroberte die türkische Armee auch Izmir zurück, in den Tagen danach starben allein dort schätzungsweise 40.000 Menschen bei anti-griechischer Übergriffen der türkischen Truppen. In Griechenland werden das Ende des Krieges und seine Konsequenzen, insbesondere die massenhaften Ermordungen und Vertreibungen der griechischen Bevölkerung von der kleinasiatischen Westküste, heute als "Kleinasiatische Katastrophe" bezeichnet. Der Waffenstillstand von Mudanya von Oktober 1922 beendete diesen Krieg an der Westfront formal.

An der Ostfront des Türkischen Befreiungskrieges gingen die türkischen Truppen militärisch gegen die Gebietsabtretungen vor, die der Vertrag von Sèvres an Armenien vorsah. Bis zum Ende des türkisch-armenischen Krieges im Dezember 1920 wurden die armenischen Truppen in den Nordosten zurückgedrängt. Vertraglich wurde festgehalten, dass Armenien den Vertrag von Sèvres aus seiner Sicht für ungültig erklärt.

Im Süden stimmten die französischen Besatzer nach Kämpfen mit den türkischen Truppen bereits im Mai 1920 einem Waffenstillstand zu. Ein Jahr später verzichteten Italien und Frankreich auf ihre Ansprüche im Süden der Türkei.

Innenpolitischer Umbruch in der Türkei

Zeitgleich zum Türkischen Befreiungskrieg Interner Link: durchlief das politische System der Türkei einen Wandel: Im April 1920 gründeten die Unterstützer Mustafa Kemals die „Große Nationalversammlung der Türkei“ in Ankara, den Vorläufer des heutigen Parlaments, mit ihm als Vorsitzenden. Diese Versammlung unterstützte den Unabhängigkeitskrieg und ernannte eine eigene zweite Regierung in Ankara gegen den Sultan und die Besatzer.

Diese Große Nationalversammlung erklärte am 1. November 1922 alle seit 1920 von der Regierung in Istanbul unterzeichneten Verträge für ungültig und beschloss das Ende des Sultanats.

Vertrag von Lausanne legt neue Grenzen und Umsiedlungen fest

Nach dem Ende des Türkischen „Befreiungskrieges “ und den innenpolitischen Umwälzungen in der Türkei luden dieInterner Link: Alliierten am 13. November 1923 zu einer Friedenskonferenz in Lausanne ein. Dort sollte die politische Ordnung in der Region besprochen und vertraglich geregelt werden.

Das Ergebnis war der Externer Link: Vertrag von Lausanne, der am 24. Juli 1923 unterzeichnet wurde. Hier erkannten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges sowie die europäischen Nachbarländer der Türkei die neuen Realitäten nach dem Ende des Türkischen Befreiungskrieges an. Der Vertrag von Lausanne markiert für die Türkei den Eintritt in die Staatengemeinschaft als international anerkannte, souveräne Nation. Die damals festgelegten Grenzen sind bis heute weitgehend gültig, mit Ausnahme der Region Hatay an der Grenze zu Syrien, die der Türkei 1939 zugesprochen wurde. Frankreich verzichtete endgültig auf Kilikien, Italien auf das Interessengebiet in der Südwesttürkei. Die Türkei gab Syrien und den Irak auf, ebenso das bereits 1914 von Großbritannien annektierte Zypern und außerdem alle Ansprüche in Ägypten und im Sudan. Griechenland behielt Westthrakien.

Ein weiterer Kern der Gespräche und Beschlüsse war ein als solcher bezeichneter Interner Link: Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei, der einen auf ethnischer und religiöser Homogenität basierenden Nationalgedanken umsetzen sollte. Etwa 1,5 Millionen Menschen christlichen oder christlich-orthodoxen Glaubens mussten die Türkei verlassen. Umgekehrt mussten etwa 350.000 Menschen muslimischen Glaubens ihre griechische Heimat aufgeben. Ausgenommen waren die Christen in Istanbul und die Muslime in Westthrakien in Griechenland. Eine entsprechende Konvention wurde am 30. Januar 1923 in Lausanne unterzeichnet. Für viele Betroffene waren die Zwangsumsiedlung und der Verlust ihrer Heimat, ihrer Häuser und Grundstücke eine traumatische Erfahrung. Auch die Sprache ihres neuen Wohnortes sprachen viele der Umgesiedelten nicht.

Bedeutung des Vertrags für Minderheiten in der Türkei

Der Übergang vom Osmanischen Reich hin zur türkischen Republik war begleitet von Vertreibungen, Massakern und einem Genozid. Bei dem von den Jungtürken organisierten Völkermord kam 1915/16 mehr als Interner Link: die Hälfte der bis zu zwei Millionen osmanischen Armenier ums Leben, ebenso etwa 200.000 assyrische Christen. Die Internationale Liga für Menschenrechte berichtete den Vereinten Nationen, dass in den Jahren vor 1923 bereits 350.000 Griechen bei Todesmärschen und Massakern starben. Diese Gewalttaten verfolgten das Ziel, Kleinasien zu einem homogenen muslimischen Siedlungsgebiet zu machen.

Für die verbleibenden Minderheiten in der Türkei war der Vertrag von Lausanne ein Einschnitt. Von den Versprechen auf Selbstbestimmung, welche der Vertrag von Sèvres enthalten hatte, war im drei Jahre später unterschriebenen Vertrag von Lausanne wenig übrig. Konflikte sollten durch die Trennung der Volksgruppen gelöst werden. Als die armenische Delegation bei den Verhandlungen vorsprach, verließ die türkische Delegation aus Protest den Saal. Die Kurden waren noch nicht einmal mit einer eigenen Delegation vertreten, sie wurden von den Verhandlungsmächten wie alle muslimischen Volksgruppen nicht als Minderheit angesehen.

Zwar sah der Vertrag in den Artikeln 37 bis 44 den Schutz von Minderheiten vor, diese bezogen sich jedoch nur auf die nicht-muslimische Bevölkerung der Armenier, Griechen und Juden. Hier verpflichtete die Türkei sich, das Leben und die Freiheiten von allen Bewohnern der Türkei zu schützen, unabhängig von „Geburt, Nationalität, Sprache, Rasse oder Religion“. Ferner soll jeder Bewohner der Türkei frei von Repressionen sein, wenn er im privaten wie im öffentlichen Leben eine andere Sprache verwendet. Explizite Regelungen für den Schutz der kurdischen Minderheit enthält der Vertrag nicht.

Nachwirkungen des Vertrags

Der Umgang mit Minderheiten gilt in der Türkei bis heute als Problem. Amnesty International beklagt etwa eine „strukturelle Diskriminierung“ der alevitischen Glaubensgemeinschaft. Angehörige religiöser Minderheiten würden zwar nicht gesetzlich, aber „de facto“ diskriminiert.

Kurdinnen und Kurden bilden mit bis zu 20 Prozent der Bevölkerung die größte Minderheit in der Türkei. Viele sahen sich durch die Politik der Türkei im Anschluss an den Vertrag von Lausanne diskriminiert und in ihren Rechten verletzt. Den Unabhängigkeitskrieg der nationalen Bewegung hatten viele von ihnen unterstützt. Im Anschluss wurden kurdische Bestrebungen nach Selbstbestimmung jedoch bereits in den 1920er und 1930er Jahre gewaltsam niedergeschlagen. Kurdische Dörfer wurden zerstört, Menschen in den Westen Anatoliens deportiert. Für Ausdrücke kurdischer Identität war in dem kemalistischen Konzept der neuen türkischen Republik kein Platz. Interner Link: Der sogenannte Kurdenkonflikt dauert bis heute an.

Auch die Interner Link: Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei ist nach wie vor von Spannungen geprägt. Einer der Streitpunkte bezieht sich auf Hoheitsrechte im ägäischen Meer. Obwohl die Türkei die Grenzen lange anerkannte, erhebt sie seit den 1990er-Jahren Anspruch auf bisher griechische Inseln. Beide Länder sind zwar mittlerweile Mitglieder der NATO. Trotzdem kommt es immer wieder zu Eskalationen im gegenseitigen Verhältnis: Im Herbst 2022 etwa feuerte die griechische Küstenwache Warnschüsse in Richtung eines Frachters vor der türkischen Insel Bozcaada.

Erinnerung an den Vertrag von Lausanne

In der Türkei gilt der Vertrag von Lausanne bis heute als Gründungsurkunde, wie der türkische Außenminister im vergangenen Jahr zum Jahrestag betonte. Gleichzeitig deutete Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer wieder an, den Grenzverlauf nach dem Vertrag von Lausanne in Frage zu stellen.

Angehörige der kurdischen Gemeinschaft und anderer Minderheiten nutzen den Jahrestag, um auf die Verletzung ihres Rechts auf Selbstbestimmung und Autonomie aufmerksam zu machen. In Lausanne erinnert das historische Museum in einer Ausstellung an den Vertragsabschluss und seine Folgen.

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