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Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch 1923/24 | Türkei | bpb.de

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Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch 1923/24

Michael Schwartz

/ 12 Minuten zu lesen

Was war der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch? In welchem Kontext kam er zustande? Welche Auswirkungen hatte er? Ein Überblick.

1923/24 mussten Millionen Menschen im Rahmen eines Bevölkerungsaustauschs zwischen Griechenland und der Türkei Wohnort und Heimat verlassen. (© picture-alliance, picture alliance / Shotshop | Andy Nowack)

1. Das Abkommen

Am 30. Januar 1923 unterzeichneten im schweizerischen Lausanne die Bevollmächtigten der Regierung der Großen Nationalversammlung der Türkei und der Regierung Griechenlands eine bilaterale Übereinkunft über den „Austausch“ von Bevölkerungsgruppen. Geleitet wurden die Verhandlungen von Außenminister Izmet Pascha (ab 1935: Izmet Inönü, dem späteren Interner Link: Minister- und Staatspräsidenten der Türkischen Republik) und dem griechischen Ex-Ministerpräsidenten Externer Link: Eleftherios Venizelos. Artikel 1 der Konvention bestimmte: Mit Wirkung ab 1. Mai 1923 solle ein „zwangsweiser Austausch“ erfolgen, wonach Menschen christlich-orthodoxen Glaubens die Türkei und Menschen muslimischen Glaubens Griechenland verlassen sollten. Diese Bevölkerungsgruppen sollten ohne Genehmigung der jeweiligen Regierung nicht mehr in ihrer Heimat verbleiben dürfen.

Dieses Abkommen hat einige besonders charakteristische Merkmale: Es war erstens die völkerrechtliche Grundlage für die bis dahin umfassendste Zwangsmigration der modernen Geschichte: Erstmals waren Millionen Menschen davon betroffen. Erst die noch weit umfangreicheren Zwangsmigrationen der 1940er Jahre sollten den „Bevölkerungstransfer“ von Lausanne in den Schatten stellen.

Das Lausanner Abkommen war zweitens – nach zwei bilateralen Vorläufern, dem osmanisch-bulgarischen Vertrag von Adrianopel 1913 und dem griechisch-bulgarischen Vertrag von Neuilly 1919 – einer der ersten „Bevölkerungstransfers“, die auf einen wechselseitigen Austausch abzielten statt auf eine einseitige Entfernung von Menschen.

Drittens gewährte das Abkommen Betroffenen kein freiwilliges Entscheidungsrecht, sondern basierte auf staatlichem Zwang. Dies erfolgte auf türkischen Druck und wurde von griechischer Seite und vom Interner Link: Völkerbund-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, Fridtjof Nansen, akzeptiert. Jedoch wäre es zu einseitig, diesen Zwangscharakter allein der türkischen Seite anzulasten, auch wenn diese durch die gegen verschiedene ethnische Gruppen gerichtete Gewalt (Ethnogewalt) der nationalistisch-reformistischen Interner Link: Jungtürken geprägt war. Denn auch die Siegermächte des Ersten Weltkrieges und namentlich Griechenland hatten besiegten Feindstaaten 1919 Bevölkerungstransfers als Konfliktlösung auferlegt. Die dabei genutzte Freiwilligkeits-Klausel stand bei dem einzig tatsächlich durchgeführten bulgarisch-griechischen Transfer lediglich auf dem Papier, vor Ort herrschte faktischer staatlicher Zwang zur Abwanderung. Eine freiwillige oder nötigenfalls auch gewaltsame Trennung christlicher und muslimischer Bevölkerungen war bereits um 1900 in deutschen und britischen Diskursen theoretisch erörtert worden, sie war also mitnichten eine Erfindung von Türken oder Griechen.

Viertens war das bilaterale Transfer-Abkommen durch ausdrückliche Einbettung in einen multilateralen Friedensvertrag – in Artikel 142 des Interner Link: Vertrags von Lausanne vom 24. Juli 1923 – sowie durch Mitwirkung des Völkerbundes eine völkerrechtlich außergewöhnlich intensiv abgesicherte Zwangsmigration.

2. Betroffene

Rund zwei Millionen Menschen waren von diesem Bevölkerungsaustausch betroffen, insbesondere die in Kleinasien lebenden orthodoxen Griechen. Deren Gesamtzahl vor 1914 wird auf 1,7 Millionen geschätzt. Der griechische Zensus von 1926 zählte 1,1 Millionen griechische Flüchtlinge, von denen 627.000 aus Kleinasien, 182.000 aus der Schwarzmeerregion Pontos sowie 38.000 aus Konstantinopel (Istanbul) stammten. Neuere Forschungen sprechen von 1,1 Millionen Flüchtlingen aus Kleinasien und Thrakien, die 90 Prozent aller 1,2 Millionen Flüchtlinge in Griechenland gestellt hätten. Davon seien lediglich 192.356 erst nach dem Abschluss der Übereinkunft von Lausanne ausgesiedelt worden, denn tatsächlich waren umfassende Vertreibungen bereits erfolgt oder noch im Gange, als sich die griechische und die türkische Seite auf den „Bevölkerungsaustausch“ einigten. Hintergrund dafür war der Griechisch-Türkische Krieg ab 1919/20 (siehe unten).

Bei einem Teil jener Menschen, die erst nach der Vereinbarung von Lausanne umgesiedelt wurden, handelte es sich um griechische Männer (Nansen schätzte 100.000 Betroffene), die als Zwangsarbeiter in türkischen „Arbeitsbataillonen“ dienen mussten. Diese „Arbeitsbataillone“ wurden 1922 mit allen nichtmuslimischen Männern – nicht nur Griechen – zwischen 18 und 45 Jahren gefüllt, derer die Türken habhaft werden konnten, um sie „beim Wiederaufbau der von den zurückweichenden Griechen zerstörten Städte und Dörfer“ einzusetzen. „Arbeitsbataillone“ hatten die Jungtürken im Ersten Weltkrieg schon für als unzuverlässig geltende anatolische Christen geschaffen – für viele Armenier waren sie eine Vorstufe zum Interner Link: Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915/16. Und auch unter den 1922 von türkischer Seite rekrutierten Zwangsarbeitern fielen etliche, „die im griechischen Invasionsheer gedient hatten, sowie „Priester und Lehrer“ als mutmaßliche Träger griechischen Nationalbewusstseins, „systematischen Vergeltungsaktionen zum Opfer“. Laut Nansen konnte „nur noch ein Teil aller Zwangsarbeiter gerettet werden“. Die zweite Betroffenengruppe des in Lausanne ausgehandelten Bevölkerungstransfers stellte die muslimische Bevölkerung in Griechenland. Von ihnen waren verschiedenen Schätzungen zufolge 388.146 bzw. „rund 400.000“ betroffen. Ihre Zwangsumsiedlung setzte im Herbst 1923 ein und war bis Ende 1924 abgeschlossen.

Im Lausanner Abkommen gab es nur zwei Ausnahmen von der Grundregel des Zwangstransfers: Zum einen für die griechisch-orthodoxe Bevölkerung Istanbuls, zum anderen für die muslimische Bevölkerung des griechischen Westthrakien. In der alten osmanischen (und zuvor byzantinischen) Reichsmetropole lebten 1914 knapp eine Million Menschen; davon waren 350.000 Griechen, Armenier, Juden und anderen Nichtmuslime, die neben der Mehrheit von 560.000 Muslimen lebten. Zwar verließen 1922 bis 1924 rund 150.000 griechische Einwohner Istanbul, doch eine weitergehende Forderung der türkischen Delegation in Lausanne wurde nicht erfüllt: die gesamte griechische Bevölkerung Istanbuls ebenso zwangsauszusiedeln wie die Griechen Kleinasiens und des Pontos, dafür aber die Muslime Westthrakiens (124.000) vom Zwangstransfer auszunehmen und im Gegenzug auch rund 150.000 Griechen in Zentralanatolien (die Karamanlides) zu verschonen. Neben der strikten Weigerung Griechenlands, diese umfangreiche Istanbuler Gruppe aufzunehmen, standen dem auch ökonomische Interessen der europäischen Großmächte entgegen, denn die Istanbuler Griechen schienen für den Handelssektor und das Bankwesen der Metropole unverzichtbar. 1923 blieb auch die Absicht der türkischen Nationalisten, sämtliche übrigen Christen Anatoliens, „einschließlich der verbliebenen Armenier“, zusammen mit den Griechen zwangsauszusiedeln, „ein diplomatisches No-go“. Die griechische Minderheit Istanbuls wurde schließlich Interner Link: durch türkische Pogrome 1955 weitgehend vertrieben.

3. Vorgeschichte

Bereits 1830 war der soeben erst unabhängig gewordene Staat Griechenland Ort einer flächendeckenden ethnoreligiösen „Säuberung“ geworden. Diese wurde von mehreren europäischen Großmächten erzwungen und ging einseitig zu Lasten der muslimischen Minderheit. Von der Gründung des griechischen Staats waren aber vorerst weniger als die Hälfte aller im Interner Link: Osmanischen Reich lebenden Griechen betroffen. Zwar wurde die Befreiung aller Griechen und deren Zusammenführung in einem groß-griechischen Staat in den Folgejahrzehnten stets propagiert und teilweise auch umgesetzt – aber erst durch die endgültige Desintegration des Osmanischen Reiches zwischen 1918 und 1922 sowie durch Unterordnung oder Entfernung der muslimischen Bevölkerung konnte dieses Ziel tatsächlich umfassend verfolgt werden. Dabei ist zu bedenken, dass z.B. der Balkan (einschließlich Griechenlands) durch Kriege und Fluchtbewegungen zwischen 1821 und 1922 bereits immer christlicher, Kleinasien immer muslimischer, das Leben für Minderheiten folglich überall immer prekärer geworden war.

Diese langfristige Entwicklung spitzte sich im Gewaltjahrzehnt zwischen 1912 und 1922 dramatisch zu. Der Interner Link: Erste Balkankrieg von 1912/13 führte mit dem Verlust aller osmanischen Balkan-Provinzen nicht nur zu Massakern, sondern auch zur Flucht von Hunderttausenden muslimischen Einwohnern, die in Anatolien untergebracht werden mussten. Die im Osmanischen Reich herrschenden Jungtürken verübten kurz darauf während des Ersten Weltkriegs einen staatlich organisierten Interner Link: Genozid an den kleinasiatischen Armeniern, denen sie kollektiv Separatismus und Illoyalität unterstellten. Zugleich kam es zu einer ethnisch motivierten Gewaltpolitik gegen anatolische Griechen und andere Minderheiten. Dieser Interner Link: Ethnonationalismus endete 1918 mit dem Sturz der Jungtürken nicht, sondern sollte sich in Form partieller politischer und personeller Kontinuitäten auch in der 1923 gegründeten Türkischen Republik weiter auswirken.

Der Druck auf die griechische Minderheit begann schon unmittelbar nach den beiden Balkankriegen, also noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Indem die griechische Bevölkerung der kleinasiatischen Westküste terrorisiert wurde, drängten die Jungtürken in der ersten Jahreshälfte 1914 rund 150.000 Griechen zur fluchtartigen Auswanderung nach Griechenland, weitere 50.000 wurden ins Innere Anatoliens deportiert. Diese Repressalien sollten die Athener Regierung zu einem Vertrag über einen wechselseitigen Bevölkerungsaustausch nötigen, wie die Jungtürken ihn ähnlich 1913 mit Bulgarien abgeschlossen hatten. Auch der damalige griechische Regierungschef Eleftherios Venizelos soll an einem Transfer von Minderheiten zur Konfliktbereinigung interessiert gewesen sein, diesen sogar angeregt haben. Tatsächlich vereinbarten beide Regierungen im Juli 1914 einen solchen Bevölkerungsaustausch: Dieser sollte auf freiwilliger Basis stattfinden und zunächst die griechische Agrar-Bevölkerung der osmanischen Provinz Smyrna und Muslime in Griechisch-Mazedonien erfassen, später dann auch Thrakien und Epirus. Doch zur Umsetzung kam es infolge des Interner Link: Ersten Weltkriegs nicht mehr. Stattdessen veranlassten die Jungtürken Deportationen kleinasiatischer Griechen, von denen etwa ein Drittel der in Kleinasien lebenden griechischen Bevölkerung (481.000) betroffen gewesen sein dürfte. Die jungtürkische Verfolgung der Griechen stellt somit eine partielle, auf bestimmte Regionen konzentrierte Deportationspolitik dar, die zahlreiche Todesfälle bewirkte. Venizelos sprach 1919 von 300.000 während des Weltkriegs getöteten osmanischen Griechen. Noch Schlimmeres wurde vermutlich durch Rücksichtnahme der Jungtürken und ihrer Verbündeten auf das bis 1917 neutrale und daher von beiden Kriegsparteien – Interner Link: den Mittelmächten und den Entente-Mächten – umworbene Griechenland verhindert.

Die Niederlage des auf Seiten der Mittelmächte kämpfenden Osmanischen Reiches Ende 1918 versuchte Griechenland, das 1917 auf die Seite der Entente getreten war, dann zur Durchsetzung eigener Großmachtziele zu nutzen. Als griechische Truppen 1919 Smyrna (Izmir) besetzten, kam es zu Gewalt gegen Muslime. Daraus entspann sich ein Krieg, der nicht nur zwischen Armeen, sondern auch zwischen Banden und Zivilisten ausgetragen wurde. Beide Seiten verübten Massaker, Vergewaltigungen, Deportationen. Letztlich ratifizierte das Abkommen von Lausanne (für Kleinasien) nur auf internationaler Ebene, was auf lokaler Ebene von allen Beteiligten jahrelang praktiziert worden war: eine gewaltsame Entmischung der Bevölkerung. Vor der griechischen Armee sollen bis zu 1,2 Millionen Muslime geflüchtet sein, etliche wurden getötet. Auch ein Fünftel der anatolischen Griechen kam während des Krieges ums Leben; dabei wurden wohl gezielte Massaker an Männern begangen. Schließlich wurde die griechische Armee 1921/22 von der türkischen geschlagen und nach Westen getrieben. Der Krieg endete mit der türkischen Besetzung Smyrnas im September 1922, bei der es zu Massakern an 12.000 – manche Schätzungen sprechen gar von bis zu 30.000 – Griechen und Armeniern kam. Panische Massenflucht war die Folge.

Diese Ethnogewalt bildete letztlich die Voraussetzung für das 1923 vereinbarte Transfer-Abkommen von Lausanne. Doch auch die seinerzeit für den als Krisenherd betrachteten Raum zwischen Balkan und Kleinasien international zunehmend akzeptierte politische Praxis ethnischer „Säuberungen“ spielte eine gewichtige Rolle. 1919 hatte Venizelos bei der Interner Link: Pariser Friedenskonferenz an die tatsächlichen oder geplanten Bevölkerungstransfers der Jahre 1913/14 wiederangeknüpft. Vom Osmanischen Reich forderte er die Abtretung Ostthrakiens, einiger Ägäis-Inseln sowie Smyrnas und Umgebung – verbunden mit entsprechenden Bevölkerungstransfers. Derer bedurfte Venizelos auch, denn den Großmächten gegenüber präsentierte er die Region Smyrna als ‚griechisch‘, obwohl dort 1912 ca. 800.000 Griechen neben über einer Million Türken gelebt hatten. Mit dem besiegten Bulgarien wiederum gelang es Venizelos Ende 1919 einen Vertrag über freiwilligen Bevölkerungsaustausch abzuschließen. Auch der 1920 unterzeichnete Friedensvertrag von Sèvres zwischen der Entente und der osmanischen Regierung enthielt eine solche Bestimmung, doch trat dieser Vertrag nie in Kraft. Erst das Abkommen von Lausanne 1923 realisierte das angestrebte Transferziel – nun aber unter völlig gewandelten Umständen, wesentlich zu Lasten Griechenlands bzw. der kleinasiatischen Griechen.

4. Neuansiedlung

Dem britischen Historiker Carlile A. Macartney zufolge soll der Transfer der nach seinen Zahlen rund 356.000 Muslime aus Griechenland halbwegs geordnet verlaufen sein – zumindest für die zuerst Umgesiedelten, denn länger Zurückbleibende wurden von griechischen Flüchtlingen schon vor ihrem Abtransport aus ihren Häusern verdrängt. Die griechischen Zwangsumgesiedelten, die Macartney 1934 auf rund 190.000 Personen bezifferte, wurden demnach sehr viel häufiger aus ihren Häusern vertrieben und in Lagern interniert; auch hätten sie, anders als im Abkommen festgelegt, nur einen Bruchteil ihrer beweglichen Habe mit sich führen dürfen. Die im Abkommen vorgesehene Entschädigung zurückgelassenen Eigentums sei ebenfalls kaum umgesetzt worden, bevor Venizelos 1930 gegenüber Ankara dann vollkommen darauf verzichtete.

Die Neuansiedlung der griechischen Muslime in der Türkei wurde laut Macartney dadurch begünstigt, dass Land und Häuser der von dort entfernten Griechen hinreichend zur Verfügung gestanden hätten. Die Regierung habe auch Hilfen gewährt. Der Sozialwissenschaftler Joseph Schechtman konnte bei der Neuansiedlung der Muslime erst recht keine Schwierigkeiten erkennen. Allerdings habe Ankara, so Schechtman, anders als Athen auf internationale Verschuldung verzichtet, so dass es kaum finanzielle Unterstützung gegeben haben dürfte: Der türkische Finanzaufwand soll nur fünf Prozent des griechischen betragen haben. Neuere Forschungen zeichnen ein noch düstereres Bild: Demnach wurden die meisten zwangsumgesiedelten griechischen Muslime in Häusern einquartiert, die zerstört gewesen seien, und erhielten Felder, die abgebrannt waren.

Griechenland wiederum – mit einer Gesamtbevölkerung von 5,5 Millionen Einwohnern 1920 – hätte ohne internationale Hilfe die Ansiedlung von über einer Million Flüchtlinge nicht zu bewältigen vermocht. Hier war die Unterstützung des Völkerbundes essentiell: Dieser warb nicht nur zwei internationale Anleihen ein, auch die Ansiedlung wurde weitgehend von einer internationalen Kommission organisiert. Macartney behauptete 1934, fast alle Flüchtlinge seien sehr bald wieder in ordentliche wirtschaftliche Umstände gelangt. Zumindest gelang es der Ansiedlungs-Kommission, bis 1929 über 10.000 Wohnungen in Athen sowie weitere 7.000 in anderen Städten zu bauen – freilich kaum ein Drittel dessen, was benötigt wurde. Für bäuerliche Neusiedler hatte man rund 50.000 Wohnungen errichtet, doch auch damit war nur ein Drittel des Bedarfs gedeckt worden. Laut Schechtman war die Neuansiedlung der bäuerlichen Flüchtlinge dennoch deutlich besser gelungen als jene der städtischen Bevölkerungsgruppen, die in Griechenland ihren früheren Status nicht wieder erreichen konnten. Neuere Forschungen bestätigen dieses Land-Stadt-Gefälle: Bis 1926 sollen 623.000 Flüchtlinge neu untergebracht worden sein, darunter aber nur 72.000 Städter. 1932 sollen noch 30.000 urbane und 17.000 ländliche Flüchtlingsfamilien ohne adäquate Wohnung gewesen sein.

Doch auch das Bild einer halbwegs gelungenen landwirtschaftlichen Integration ist in jüngster Zeit relativiert worden. Die Mehrheit der enteigneten Agrarflächen sei in beiden Ländern nicht den Flüchtlingen oder Umgesiedelten zugutegekommen, sondern überwiegend von alteingesessenen Bevölkerungsgruppen okkupiert worden.

5. Wirkungen

Das Abkommen von Lausanne etablierte 1923 eine von drei prinzipiellen Alternativen im Umgang mit ethnoreligiösen Minderheiten: Neben Minderheitenschutz, wie die Pariser Vorortverträge und der Völkerbund ihn favorisierten, und einem Nationalitäten-Föderalismus, wie er in der 1922 neugegründeten Sowjetunion – freilich unter einer totalitären Parteidiktatur – zu praktizieren versucht wurde, setzte sich im Lausanner Abkommen Zwangsmigration zur ethnoreligiösen „Entmischung“ als drittes Modell durch. Mit Lausanne begann die schrittweise Zerstörung des Friedens-Systems der Interner Link: Pariser Vorortverträge. Folgerichtig enthielt der Lausanner Friedensvertrag auch keine der 1919 noch üblichen völkerrechtlichen Minderheitenschutzbestimmungen.

Die Transfervereinbarung von Lausanne gewann ab 1923 eine ambivalente Reputation. Zunächst überwogen kritische Wertungen. Die positive Bewertung als Konfliktlösungsmodell setzte sich erst in den späten 1930er Jahren durch: mit dem Interner Link: britischen Teilungs- und Transfervorschlag für Palästina 1937 (‚Zweistaatenlösung‘) und mit dem deutsch-italienischen Abkommen über die freiwillige Aussiedlung der Südtiroler 1939. Laut Schechtman habe das Südtirol-Abkommen – welches die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols vor die Wahl stellte, entweder ins nationalsozialistische Deutschland zu emigrieren oder im faschistischen Italien zu bleiben – das noch sehr viel umfassendere Transfer-Programm des „Dritten Reiches“ eingeleitet. Diese Feststellung mag für vertraglich vereinbarte „Umsiedlungen“ der Folgezeit zutreffen, nicht aber für Hitlers zahlreiche einseitige Deportationen oder Vertreibungen. Wer in Lausanne einen „frühen und entscheidenden Meilenstein auf dem europäischen Weg zu Shoah und Holocaust“ erblicken möchte, übersieht den kategorialen Unterschied zwischen Zwangstransfer und Genozid: Den jüdischen Opfern der Shoah wurde von den Tätern der Interner Link: Ausweg der Zwangsmigration ab 1941 systematisch verwehrt; Lausanne war gerade nicht – oder zumindest nicht mehr in diesem Fall – ein Vorbild für Hitler.

Stattdessen wurde Lausanne zur grundsätzlichen Anregung für die Zwangsumsiedlung der Deutschen aus Ostdeutschland und Osteuropa für die siegreichen Allliierten. Sehr viel konkreter aber wirkte der griechisch-türkische Vertrag über Bevölkerungsaustausch als Modell für einige andere bilaterale Umsiedlungsverträge gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, die unter der Ägide des Interner Link: sowjetischen Diktators Interner Link: Stalin zustande kamen. Dies gilt namentlich für den sowjetisch-polnischen Transfervertrag von 1944 (über den formell freiwilligen „Austausch“ polnischer, ukrainischer, weißrussischer und litauischer Bevölkerungsgruppen) und für den 1946 vertraglich vereinbarten Bevölkerungsaustausch zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn. Als denkbares Vorbild diskutiert wurde Lausanne darüber hinaus in der politischen Debatte der 1940er Jahre über die Interner Link: Teilung Britisch-Indiens in die beiden unabhängigen Staaten Indien und Pakistan. Der spätere Staatschef Pakistans, Muhammad Ali Jinnah, hielt 1940 einen Bevölkerungsaustausch für erwägenswert. Ein mit ihm und dem politischen und ideologischen Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung Interner Link: Mahatma Gandhi abgesprochener Teilungsplan sah 1944 freiwillige Transfers vor – was aber dem tatsächlichen späteren Flucht- und Vertreibungsgeschehen von 1947/48 keinesfalls entsprach. Indische Intellektuelle, Hindus wie Muslime oder auch der Sprecher der Interner Link: Kaste der „Unberührbaren“, Bhimrao Ambedkar, zeigten sich im Hinblick auf Lausanne ebenso gespalten wie die europäische Öffentlichkeit zuvor: Einige, darunter Ambedkar, favorisierten die Nachahmung des Bevölkerungsaustauschs, andere – wie der spätere erste Präsident Indiens, Rajendra Prasad – lehnten Lausanne als barbarisch ab und rieten dazu, sich an multinationalen Traditionen und insbesondere am Beispiel des sowjetischen Nationalitätenföderalismus zu orientieren.

Der Bevölkerungstransfer von Lausanne bildete die Grundlage für verbesserte bilaterale Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei in der Folgezeit: Im Abkommen von Ankara wurden im Juni 1930 zunächst die seit Lausanne jahrelang strittigen Punkte beigelegt, insbesondere der Konflikt um die bilaterale Verrechnung des zurückgelassenen Flüchtlingseigentums. Dies bildete die Voraussetzung für den Abschluss eines feierlichen Freundschaftsvertrages, der am 30. Oktober 1930 ebenfalls in Ankara vom nochmals regierenden griechischen Premierminister Venizelos und seinem früheren Verhandlungspartner in Lausanne, dem nunmehrigen türkischen Ministerpräsidenten Izmet Pascha, unterzeichnet wurde. Dieser ausdrücklich auf Freundschaft und Versöhnung zielende Vertrag bestätigte die Unverletzbarkeit der gemeinsamen Grenzen und den beidseitigen Willen zu friedlicher Kooperation. Venizelos, der einstige Vorkämpfer Großgriechenlands in Kleinasien, schlug daraufhin den türkischen Präsidenten Mustafa Kemal sogar für den Friedensnobelpreis vor. Der friedliche Ausgleich von 1930 sollte rund 25 Jahre halten, bis der Konflikt über die Interner Link: Zukunft der von orthodoxen und muslimischen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen bewohnten Insel Zypern die nationalistische Konfrontation Mitte der 1950er Jahre erneut entfachte.

Hatten also jene, die in einem „Unmixing of peoples“, der „Entmischung von Völkern“ die einzig tragfähige Friedenslösung für solche Krisenzonen erblickten, letztlich Recht behalten? Oder spielten auch andere inter- und supranationale Einflüsse (etwa durch NATO oder EU) in späteren Jahrzehnten eine deeskalierende Rolle, ohne derart einschneidende Folgen wie die Zwangsmigration von Millionen Menschen? Jedenfalls haben beide Staaten in den einhundert Jahren nach Lausanne nie wieder Krieg gegeneinander geführt – ganz anders als im Jahrhundert zuvor. Dennoch blieben Konflikte bestehen oder wurden neu geschürt: Beispiele sind die Vertreibung der Istanbuler Griechen 1955 und der bis heute Interner Link: ungelöste Konflikt um Zypern. Dieser brachte beide Staaten 1974 zumindest an den Rand eines neuen Krieges und führte – verbunden mit der faktischen Teilung des Inselstaates – auch zu einer neuen ethnischen „Säuberung“ durch wechselseitige Flucht und Vertreibung. Kann man solche späteren Konflikte damit erklären, dass der Zwangsaustausch von Lausanne eben nicht ausnahmslos durchgeführt worden sei – weil etwa Istanbul und Zypern (als damalige britische Kolonie) davon ausgenommen blieben? Oder vermochte dieser „Bevölkerungsaustausch“ aufgrund seiner inhärenten Gewaltsamkeit gar keinen tragfähigen Frieden zu stiften? Jedenfalls wirken die durch den 1923 kodifizierten „Transfer“ von rund zwei Millionen Menschen gerissenen Wunden immer noch nach und prägen bis heute die kollektiven Mentalitäten in beiden betroffenen Völkern auf vielfältige Weise mit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Externer Link: https://www.mfa.gov.tr/lausanne-peace-treaty-vi_-convention-concerning-the-exchange-of-greek-and-turkish-populations-signed-at-lausanne_.en.mfa (18.09.2023).

  2. Vgl. Michael Schwartz, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, München 2013, S. 309-318.

  3. Vgl. Joseph B. Schechtman, European Population Transfers 1939-1945, New York 1946, S. 18.

  4. Die griechische Seite fügte den Wunsch nach Zwangsumsiedlung der muslimischen Minderheit in Griechenland hinzu; ebd.

  5. Nansen rechtfertigte die Zwangsumsiedlung der Muslime aus Griechenland; vgl. Fridtjof Nansen, Betrogenes Volk. Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes, Leipzig 1928, S. 25f.

  6. So jedoch Hans-Lukas Kieser, Nahostfriede ohne Demokratie. Der Vertrag von Lausanne und die Geburt der Türkei 1923, Zürich 2023, S. 163.

  7. Schwartz, „Säuberungen“, S.317f.

  8. Vgl. zum frühesten Protagonisten Siegfried Lichtenstädter, der sich seit 1898 entsprechend äußerte und auch in Großbritannien Beachtung fand: ebd., S. 50-52, S. 286-288, S. 309-311 und S. 418f.

  9. Erik Sjöberg, The Making of the Greek Genocide. Contested Memories of the Ottoman Greek Catastrophe, New York / Oxford 2017, S. 45f.

  10. Justin McCarthy, Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821-1922, Princeton/N.J. 1995, S. 287.

  11. Onur Yildirim, Diplomacy and Displacement. Reconsidering the Turco-Greek Exchange of Populations, 1922-1934, New York / London 2006, S. 91.

  12. Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017, S. 313.

  13. Nansen, Volk, S. 23.

  14. Gerwarth, Die Besiegten, S. 311.

  15. Norman Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 43; Schwartz, „Säuberungen“, S. 136, Anm. 607.

  16. Gerwarth, Die Besiegten, S. 311.

  17. Nansen, Volk, S. 26.

  18. Yildirim, Diplomacy, S. 91.

  19. Gerwarth, Die Besiegten, S. 313.

  20. Yildirim, Diplomacy, S. 131.

  21. Donald Quartaert, The Age of Reforms, 1812-1914, in: Halil Inalcik / Ders. (Hg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire 1300-1914, Cambridge e.a. 1994, S. 759-933, insb. S. 780.

  22. Philipp Mansel, Constantinople. City of the World’s Desire, 1453-1924, London e.a. 1995, S. 407.

  23. Yildirim, Diplomacy, S. 57.

  24. Ebd., S. 81.

  25. Ebd., S. 49 und S. 57 f.

  26. Nansen, Volk, S. 24.

  27. Kieser, Nahostfriede, S. 163.

  28. Ugur Ümit Üngör / Mehmet Polatel, Confiscation and Destruction. The Young Turk Seizure of Armenian Property, London / New York 2011, S. 103.

  29. Schwartz, „Säuberungen“, S. 246f.

  30. Henry Morgenthau, I was sent to Athens, Garden City / N.Y. 1929, S. 11.

  31. Vgl. Schwartz, „Säuberungen“, S. 20f.

  32. Vgl. Erich J. Zürcher, The Young Turk Legacy and Nation Building. From the Ottoman Empire to Atatürk’s Turkey, London / New York 2010; Ugur Ümit Üngör, The Making of Modern Turkey. Nation and State in Eastern Anatolia, 1913-1950, Oxford e.a. 2012.

  33. Schwartz, „Säuberungen“, S. 106 und S. 312-315; Hans-Lukas Kieser, Talat Pascha. Gründer der modernen Türkei und Architekt des Völkermords an den Armeniern. Eine politische Biografie, Zürich 2021, S. 173-180.

  34. Schwartz, „Säuberungen“, S. 315.

  35. Ebd., S. 311f.

  36. Yildirim, Diplomacy, S. 5.

  37. C. A. Macartney, National States and National Minorities, Oxford / London 1934, S. 434f.; vgl. Schwartz, “Säuberungen”, S. 313-315.

  38. Taner Akcam, The Young Turks‘ Crime against Humanity. The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire, Princeton / Oxford 2012, S. 89.

  39. Ebd., S. 89.

  40. Vgl. Schwartz, “Säuberungen”, S. 101-109.

  41. Michael Llewellyn Smith, Venizelos‘ Diplomacy, 1910-23: From Balkan Alliance to Greek-Turkish Settlement, in: Paschalis M. Kitromilides (Hg.), Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship, Edinburgh 2006, S. 134-192, insb. S. 160f.; zur griechischen Gewalt in Smyrna und zu wechselseitiger Gewalt um Aidin: Gerwarth, Die Besiegten, S. 292-294.

  42. Volker Prott, The Politics of Self-Determination. Remaking Territories and National Identities in Europe, 1917-1923, Oxford 2016, S. 182 und S. 187f.

  43. Ebd., S. 209.

  44. Mark Levene, Crisis of Genocide. Vol. 1: Devastation: The European Rimlands 1912-1938, Oxford 2013, S. 230.

  45. Gerwarth, Die Besiegten, S. 307.

  46. Ebd., S. 40f.

  47. Llewellyn Smith, Diplomacy, S. 158f.

  48. Macartney, States, S. 255.

  49. Ebd., S. 445-447.

  50. Ebd., S. 447.

  51. Schechtman, Transfers, S. 21f.

  52. Yildirim, Diplomacy, S. 181.

  53. Dimitri Pentzopoulos, The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on Greece, London 1962, ND 2002, S. 128.

  54. Macartney, States, S. 447f.

  55. Morgenthau, Athens, S. 243f.

  56. Ebd., S. 267.

  57. Schechtman, Transfers, S. 20f.

  58. Yildirim, Diplomacy, S. 169.

  59. Ioannis D. Stefanidis, Reconstructing Greece as a European State: Venizelos‘ Last Premiership, 1928-32, in: Kitromilides, Venizelos, S. 193-233, insb. S. 210.

  60. Yildirim, Diplomacy, S. 181.

  61. Vgl. Schwartz, „Säuberungen“, S. 319-424.

  62. Prott, Politics, S. 234.

  63. Schechtman, Transfers, S. 22.

  64. Schwartz, “Säuberungen”, S. 425-492.

  65. Kieser, Nahostfriede, S. 8.

  66. Schwartz, „Säuberungen“, S. 493f.

  67. Ebd., S. 486-489.

  68. Ebd., S. 589-592.

  69. Vgl. Adamantios Theodor Skordos, Südosteuropa und das moderne Völkerrecht. Eine transregionale und globale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2021, S. 246f.; William F. Hale, Turkish Foreign Policy, 1774-2000, London / Portland/Or. 2000, S. 59.

  70. Vgl. Bruce Clark, Twice a Stranger. How Mass Expulsion forged Modern Greece and Turkey, London 2006; Nicholas Doumanis, Before the Nation. Muslim-Christian Coexistence and its Destruction in Late-Ottoman Anatolia, Oxford 2013; Emine Yesim Bedlek, Imagined Communities in Greece and Turkey. Trauma and the Population Exchanges under Atatürk, London e.a. 2016; Andreas Kossert, Flucht – Eine Menschheitsgeschichte, München 2020.

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Weitere Inhalte

Prof. Dr. Michael Schwartz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) (Abt. Berlin) und Apl. Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte ethnischer „Säuberungen“ im 19. und 20. Jahrhundert.