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Instrumentalisierung einer Minderheit | China | bpb.de

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Instrumentalisierung einer Minderheit

Björn Alpermann

/ 9 Minuten zu lesen

In der Wissenschaft, den Medien und sozialen Netzwerken findet ein Kampf um die Deutungshoheit darüber statt, wie China mit den Uiguren umgeht. Dabei spielen auch die gegenwärtigen Spannungen zwischen China und den USA eine Rolle.

Tourismusfördernde Propaganda: Dieses von der Nachrichtenagentur Xinhua 2023 verbreitete Bild zeigt einen chinesischen Touristen mit einer Folklore-Tänzerin und deren Kind in Kaschgar. (© picture-alliance, Xinhua News Agency )

Interner Link: Chinas Behandlung der uigurischen Volksgruppe kann nicht losgelöst von den derzeitigen geopolitischen Spannungen zwischen der Volksrepublik einerseits und den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten andererseits betrachtet werden. Angesichts der sich zuspitzenden Interner Link: Konfrontation in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Sicherheit liegt es vermeintlich nahe, Xinjiang nur als ein weiteres Feld der Auseinandersetzung zu betrachten. Viele Akteur:innen – gerade in den sozialen Medien – bewerten die Lage vor Ort vor allem vor diesem Hintergrund und kritisieren oder unterstützen die chinesische Regierung entsprechend ihrer Einstellung zum sino-amerikanischen Verhältnis. Diese Wahrnehmung greift jedoch zu kurz und verhindert eine sachliche Aufklärung der Zustände in Xinjiang. Der jeweiligen Gegenseite wird oft pauschal Voreingenommenheit und Parteilichkeit vorgeworfen, um sie zu diskreditieren. Dieser Kampf um die Deutungshoheit findet in den Medien, sozialen Netzwerken und in akademischen Foren statt und wird von unterschiedlichen Seiten mit harten Bandagen ausgefochten.

Es ist tatsächlich auffällig, dass die Studien, welche die Diskussion zu Xinjiang in den liberalen Demokratien bestimmen, häufig von (konservativen) Think Tanks und anderen Institutionen herausgegeben werden, deren Hauptaugenmerk der Sicherheitspolitik gilt und die zudem der Verteidigungsindustrie bzw. Geheimdiensten nahestehen. Beispiele hierfür sind die US-Denkfabriken Center for Strategic and International Studies (CSIS), Jamestown Foundation oder das Australian Strategic Policy Institute (ASPI), dessen Xinjiang-Recherchen z.T. vom US-Verteidigungsministerium finanziert werden. Kritiker:innen fokussieren besonders gern auf einen Wissenschaftler, der mit seinen Studien einen überdimensional großen Teil zur Aufdeckung und Thematisierung der Menschenrechtsverstöße in der Region beigetragen hat: Adrian Zenz. Der deutsche promovierte Anthropologe lebt seit Jahren in den Vereinigten Staaten und arbeitet für die Victims of Communism Memorial Foundation (VOC) – nach Darstellung seiner Gegner:innen eine extrem rechts-konservative Institution, die eine klare Anti-China-Politik betreibe. Sie beanstanden dabei nicht nur die politische Einstellung der Organisation, sondern versuchen auch, durch persönliche Angriffe die wissenschaftliche Integrität von Zenz in Frage zu stellen.

Diese Gegner:innen sind häufig selbsternannte Friedensaktivist:innen, deren eigene fachliche und China-Expertise teils aber fraglich ist. Statt sich auf sachlicher Ebene mit den o.g. Studien auseinanderzusetzen, werden diese Untersuchungen und ihre Autor:innen oft in Gänze abqualifiziert. Im Stil einer Verschwörungstheorie beklagt beispielsweise eine Publikation der Transnational Foundation for Peace & Future Research die Existenz eines „Military-Industrial-Media-Academic Complex“, der einen Kalten Krieg gegen China führe („China Cold War Agenda“, CCWA) und Menschenrechte nur als Waffe einsetze. Dies gipfelt in der Behauptung, hinter den Genozid-Vorwürfen an Chinas Adresse stecke eine breite Kooperation von Anti-China-Kräften, nämlich: „Christian fundamentalism + hawkish conservative U.S. foreign policy circles + Muslim Brotherhood circles + extreme anti-Communism + pro-Israel lobby circles + the politicising human rights machinery”. Wie diese äußerst gegensätzlichen Interessengruppen koalieren können, wird jedoch nicht erklärt.

Sogar dort, wo in diesen Publikationen eine Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene stattfindet, ist sie geprägt von dem Bemühen, Chinas Vorgehen zu entschuldigen, selbst wenn dabei wesentliche Aspekte (bewusst) ausgeblendet werden. Dabei ist eine quellenkritische Betrachtung der o.g. Studien durchaus angebracht, um zu eigenständigen Schlüssen zu gelangen. Auch die Frage, ob internationale Medien die Berichte über Menschenrechtsverletzungen in China zu bereitwillig und unkritisch aufgenommen haben, ist berechtigt. Genauso kann man kontrovers diskutieren, ob es angemessen oder zielführend ist, wenn Parlamente in westlichen Demokratien Beschlüsse fassen, um Chinas Vorgehen in Xinjiang als „Genozid“ einzustufen. Mehrere Rechtsgutachten und Untersuchungen kommen hier zu unterschiedlichen Ergebnissen. Insofern kann argumentiert werden, dass es einem zuständigen Gericht zu überlassen wäre, diese juristisch strittige Frage zu entscheiden, statt dies als politische Frage in Parlamenten zu behandeln. Natürlich steht es Parlamenten frei, solche Beschlüsse zu fassen, wie z.B. im Bundestag bezogen auf den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. Sie beruhen jedoch nicht auf einer gerichtlichen Aufarbeitung und sind im Unterschied zu einem Gerichtsurteil rechtlich nicht bindend. Allerdings kam auch die unabhängige Untersuchung der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, schlussendlich zu dem Ergebnis, dass der Verdacht von Verbrechen gegen die Menschlichkeit berechtigt sei. Ihr Bericht konnte folglich nur gegen den erbitterten Widerstand der Volksrepublik China veröffentlicht werden.

Die Vorwürfe gegen Chinas Kritiker:innen in Sachen Xinjiang werden auch von offiziellen chinesischen Medien verbreitet, sodass diese Akteure ihre Botschaften wechselseitig verstärken. Die offiziellen Staatsmedien, insbesondere das China Global Television Network (CGTN), das in fünf Sprachen sendet, richteten sogar spezielle TV-Sendungen ein, um die Studien zu Xinjiang und ihre Autor:innen zu diskreditieren. Damit wenden sich die staatlichen Medien vor allem an Länder des Globalen Südens und an Menschen in liberalen Demokratien, die die sogenannten „Mainstream-Medien“ anzweifeln. Das Vorgehen der chinesischen Regierung wird als „Terrorismusbekämpfung und Deradikalisierung von Extremist:innen“ dargestellt. Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird dabei jedoch außer Acht gelassen. Neben diesen direkten Erwiderungen gegen die Vorwürfe setzen offizielle chinesische Medien aber vor allem auf positive Botschaften zu Xinjiangs Entwicklung, seiner multiethnischen Kultur und wunderschönen Natur, mit denen sie das negative Image zu verdrängen suchen.

Da dieser Form der unmittelbaren Beeinflussung Grenzen gesetzt sind, nutzt die chinesische Seite zunehmend auch indirekte Instrumente zur Desinformation. Analysen belegen, dass vermeintlich unverbundene Vlogger:innen auf YouTube Teil einer Kampagne zur Beeinflussung des internationalen Meinungsbilds zu Xinjiang sind, und dass massenweise Videos mit denselben anti-amerikanischen Botschaften von uigurischen User:innen organisiert durch die Propagandabehörden bei Twitter bzw. X hochgeladen werden. Auch ausländische Vlogger:innen werden strategisch eingesetzt, um chinesische Narrative zu Xinjiang zu verbreiten. Zu beachten ist dabei, dass diese internationalen sozialen Netzwerke in China durch die Zensur blockiert werden und nur mit Hilfe von speziellen Programmen erreicht werden können, die teilweise in China illegal sind oder sich dort in einer rechtlichen Grauzone befinden.

Es kann festgehalten werden, dass Xinjiang ein Gegenstand geopolitischer Spannungen geworden ist und dass bestimmte politische Kräfte in den USA sich dieser Thematik bedienen, um etwa Sanktionen gegen China zu rechtfertigen, auch wenn es ihnen unter Umständen weniger um die Einhaltung der Menschenrechte als um die strategische Rivalität geht. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die im Interner Link: Hauptartikel zu Chinas Umgang mit den Uigur:innen genannten Menschenrechtsverstöße inzwischen sehr gut und durch eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen belegt sind (darunter offizielle chinesische Regierungsdokumente, die durch Datenlecks publik wurden, Satellitenbilder, Augenzeugenberichte usw.). Aufgrund dieser politischen Gemengelage muss jede Studie unabhängig überprüft und ausgewertet werden. Zugleich gilt es, nicht in das Gegenextrem zu verfallen und etwa wegen der einen oder anderen Ungenauigkeit oder fragwürdigen Interpretation in einem Think Tank-Bericht gleich die gesamte Argumentation in Frage zu stellen und einseitig die Sicht Chinas zu übernehmen. Denn dass der autoritäre Parteistaat seine eigene einheitliche politische Agenda verfolgt, liegt auf der Hand, während in den pluralen Demokratien ein vielschichtiger Diskurs stattfindet. Gemäß der offiziellen Forderung des KPCh-Generalsekretärs Xi Jinping geht es schließlich darum, mit allen verfügbaren Mitteln „die Xinjiang-Story gut zu erzählen“, um Chinas internationale „Diskursmacht“ zu steigern.

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Prof. Dr. Björn Alpermann ist Professor für Contemporary Chinese Studies an der Universität Würzburg.