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Schreckgespenst Wahlenthaltung

Lisa Müller

/ 4 Minuten zu lesen

Für viele Franzosen haben demokratische Wahlen anscheinend keine zentrale Bedeutung mehr: Die Wahlbeteiligung ist in jüngster Zeit kontinuierlich gesunken. Was sind die Gründe – und wer profitiert davon?

Wahllokal, Lyon, 11. Juni 2017. (© picture-alliance, AP Photos)

Wenige Wochen vor den Präsidentschaftswahlen geht in Frankreich ein Gespenst um: das Gespenst der Wahlmüdigkeit. Denn bei den Regional- und Departementswahlen im vergangenen Sommer erreichte die Wahlbeteiligung einen neuen Negativrekord: Zwei Drittel der Berechtigten blieben im zweiten Wahlgang den Urnen fern. Die Corona-Pandemie und der Termin kurz vor den Sommerferien spielten dabei sicher auch eine Rolle. Allerdings bestätigten die Zahlen einen Trend, der sich seit Jahren abzeichnet. So schreibt Externer Link: Le Monde (21.12.2021): "[D]as Nichtwählen ist zu einem breiten Mainstream-Phänomen geworden, zu einer festen Größe der politischen Landschaft Frankreichs." In einer Umfrage aus dem Januar gaben nur 69,5 Prozent der Befragten an, sicher zu sein, im kommenden April ihre Stimme abzugeben. Das sind 15 Prozent weniger als noch bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017.

Dass die Prognosen für die Wahlbeteiligung so negativ ausfallen, könnte an der Liste der Kandidaten liegen. Einerseits fehlen der Präsidentschaftskampagne – mit Ausnahme des rechtsradikalen Eric Zemmour – neue, unverbrauchte Gesichter. Denn Emmanuel Macron (La République en Marche, LREM) tritt zum zweiten Mal an, Marine Le Pen (Rassemblement National, RN) und Jean-Luc Mélenchon (La France Insoumise) sogar schon zum dritten Mal. Andererseits ist aus früheren Wahlen ersichtlich, so Le Monde, dass vor allem "ein stark gespaltener Wahlkampf, in dem sich zwei ganz unterschiedliche gesellschaftspolitische Auffassungen gegenüberstehen", die Franzosen mobilisiert. Beispielsweise, wenn zwei gleich starke Kandidaten des linken und des konservativen Spektrums aufeinandertreffen. "In diesem Jahr sind die linken Parteien und die Grünen jedoch gespalten und so schwach wie nie zuvor. Sie können keine [glaubwürdige Alternative] verkörpern", analysiert Le Monde.

Findet Politik zunehmend außerhalb klassischer Institutionen statt?

Doch steckt nicht vielleicht noch mehr hinter dieser stetig sinkenden Wahlbeteiligung? Sind die Französinnen und Franzosen womöglich politikverdrossen? Einige sicherlich. In den Kommentarspalten wird allerdings ein anderes Hauptproblem ausgemacht: die Abkehr von den politischen Institutionen, der politischen Praxis. Externer Link: Slate (13.01.2022) erläutert: "Die Diskreditierung der Regierungen speist sich aus der intransparenten Macht, die gesichtslosen Multis, Big Pharma und den anonymen Tech-Konzernen zugeschrieben wird. Verschwörungserzählungen leben von dieser Unsichtbarkeit der Macht. … Die Kontroll- und Transparenzmechanismen, die Merkmale der legitimen Macht, werden in ein schwarzes Loch gestürzt, das die politische Substanz, ihre Figuren, Formen und Rituale anzieht und absorbiert".

Diese Abkehr von den Institutionen hängt mit dem Wunsch der Menschen nach mehr Transparenz und direkter Demokratie zusammen, erklärt der Soziologe Vincent Tiberj in einem Interview mit Externer Link: La Croix (12.01.2022). Als Bürger könne man heutzutage seine Ansichten auf vielerlei Arten vertreten: "Durch die Wahl unserer Lebensmittel, durch Petitionen, Stellungnahmen in den sozialen Medien, Demonstrationen, Boykott… Zu wählen, ist nur noch eine von vielen Möglichkeiten, sich auszudrücken, und nicht unbedingt die interessanteste." Externer Link: Le Figaro (21.06.2021) sieht diese Entwicklung kritisch: "An der Wahlurne gescheitert oder unfähig, sie aufzusuchen, sind Minderheiten, unbedeutende Organisationen und kurzlebige Bewegungen in der Lage, ihre Ansichten durchzusetzen – durch Gewalt, Medienwirksamkeit, Happenings oder, indem sie Entscheidungen verhindern."

Wer profitiert?

Doch welchen Kandidaten kommt es zugute, wenn immer weniger Menschen in Frankreich zur Wahl gehen? Externer Link: Slate (13.01.2022) beklagt, dass parallel zu der sinkenden Wahlbeteiligung die Liste der Kandidierenden immer länger wird: "Ein jeder kann sich heutzutage einbilden, zum Präsidenten bestimmt zu sein. Wenn 15 Prozent der Stimmen für die Stichwahl reichen, verliert das Präsidentenamt seinen Glanz. … Wenn es so weitergeht, wird es irgendwann gleichgestellt sein mit dem des Präsidenten eines Départements. Eine Art Demokratisierung des präsidialen Monarchismus, die den Status und das Amt selbst mittelmäßigsten Kandidaten zugänglich macht."

Dass vom offeneren Rennen um den Einzug in die Stichwahl vor allem die Parteien am Rand des politischen Spektrums profitieren, scheint jedoch nicht ausgemacht: Ein großer Teil der Nichtwähler in Frankreich ist weniger als 30 Jahre alt. Das zeigen Analysen der Präsidentschaftswahlen 2017. Viele von ihnen haben keinen Abschluss, sind erwerbslos oder arbeiten im Niedriglohnsektor. Bleiben diese Wählergruppen, die dazu neigen, ihre Stimme extremen Parteien zu geben, auch im kommenden April den Wahllokalen fern, bedeutet das vor allem eines, schreibt Externer Link: Marianne (25.09.2021): "Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen könnten die größten Leidtragenden sein." Dem amtierenden Präsidenten hingegen spiele die Situation womöglich in die Karten, da "die Anhänger von Emmanuel Macron – überwiegend Rentner und Angehörige der Oberschicht – diejenigen sind, die ihr Wahlrecht besonders ernst nehmen."

Ein Präsident, der seine Wahl hauptsächlich den älteren und wohlhabenden Teilen der Bevölkerung verdankt, würde allerdings einen Schatten auf die französische Demokratie werfen. Marianne mahnt, dass eine solche Entwicklung einer "Art Rückkehr zum Zensuswahlrecht" gleichkommen würde. Unabhängig vom Ausgang der diesjährigen Wahl dürfte die Diskussion um die Legitimität von Frankreichs Amtsträgern nicht abreißen.

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ist euro|topics-Korrespondentin für Frankreich sowie die französischsprachigen Teile Luxemburgs, Belgiens und der Schweiz. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und deutsch-französischen Journalismus. Schon kurz nach Abschluss ihres Studiums zog es sie nach Straßburg zurück, wo sie derzeit als freie Journalistin für Arte arbeitet.