Ableistische Begegnungen
In der Bäckerei. Ich stehe in der Schlange vor der Brötchentheke. Nein – ich sitze. Ich bin Rollstuhlfahrerin und kleinwüchsig. Schaue ich geradeaus, sehe ich auf den Hosenbund der vor mir Wartenden. Die Verkäuferin sieht mich augenscheinlich nicht. Wie soll sie auch: Die Theke ist etwa ein Meter fünfzig hoch, ihr Blickwinkel ist ungünstig. Oder sieht sie mich doch? Schwer zu sagen. Eine andere Person kommt vor mir dran, obwohl eigentlich ich an der Reihe wäre. Das kann passieren. Als sie die nächste stehende Person drannehmen will, mache ich auf mich aufmerksam. Ich winke und rufe laut „Hallo, hier unten!“. Sie sieht hinunter und sagt „Ach Entschuldigung! Ich dachte die Person neben Ihnen wäre Ihr Betreuer“. Peinlich berührt kommt sie um die Theke herum und nimmt meine Bestellung entgegen. Es ist ein freundlicher Austausch, das Missverständnis ist schnell geklärt. Als ich die Brötchentüte entgegennehme und in meiner Tasche hinten am Rollstuhl verstaue sagt sie anerkennend: „Ich sehe schon, Sie brauchen meine Hilfe nicht. Sie sind Vollprofi - sehr versiert!“.
In diesem Aufsatz geht es um Diskriminierung behinderter Menschen, alltagssprachlich auch Behindertenfeindlichkeit genannt. Warum beginnt er mit dieser Szenerie in der Bäckerei? Augenscheinlich spielt sich hier doch ein ganz normales Zusammentreffen ab, eine alltägliche kleine Karambolage aus Missverständnissen, ungünstig gebauter Umwelt, vielleicht Überforderung im stressigen Arbeitsalltag. Wo ist hier die Diskriminierung, ja Behindertenfeindlichkeit?
In der Tat ist hier von offener Feindlichkeit gegen behinderte Menschen wenig zu spüren. Niemand hat mich rausgeworfen, mich beleidigt oder mir das Lebensrecht abgesprochen. Im Gegenteil – alle waren freundlich, es gab sogar Entschuldigungen und Komplimente. Diskriminierung ist jedoch mehr als „Feindlichkeit“. Sie zeigt sich nicht nur in offener Gewalt oder Ausschluss. Sie kann sich auch in freundlich gemeinten Bemerkungen oder Handlungen ausdrücken, und sie ist in Institutionen und in die gestaltete Umwelt eingelassen. Wer bekommt Zugang und wer nicht? Und welche Annahmen sind über Menschen in der Welt? All dies sind Fragen nach Diskriminierung, nach „Unterscheidungen, die Unterschiede behaupten und in Ungleichheiten verwandeln“ (Scherr, 2016, VII).
Ein neuer Begriff: Ableismus
In den vergangenen Jahren hat daher neben Behindertenfeindlichkeit der Begriff Ableismus einen Platz im deutschen Diskurs. Ableismus geht noch über Behindertenfeindlichkeit hinaus. Mit ihm lassen sich nicht nur behindertenfeindliche, diskriminierende Einstellungen und Handlungen fassen (im Englischen auch disablism genannt; Goodley, 2014), sondern auch die strukturelle Grundlage, auf der sie entstehen (Campbell 2009, S.5f; Goodley, 2014, 78). Abgeleitet ist er vom englischen ableism, in dessen Kern sich wiederum das Wort Fähigkeit, ability, befindet. Die Ableismus-Forscherin Fiona Kumari Campbell fasst ableism als ein „(…) Netzwerk von Glaubenssätzen, Prozessen und Praxen, die eine bestimmte Art von Selbst und Körper produzieren (den korporealen Standard), der als perfekt, spezies-typisch und deshalb vollends menschlich projiziert wird. Behinderung wird demgegenüber als reduzierter Daseinszustand geformt“ (Campbell, 2001, 44; Übers. durch die Verfasserin). Ableismus ist ein ideologischer Diskurs, der nichtbehinderte Normalität, Autonomie und Nützlichkeit ganz grundsätzlich voraussetzt und einfordert, und der tief in gesellschaftliche Strukturen und in die Subjektivität aller eingelassen ist. Dieser Diskurs lässt sich nicht etwa durch eine Änderung einer „feindlichen“ Haltung einfach auflösen (Maskos 2021 ). Er ist eng verknüpft mit den Erwartungshaltungen, die gerade in leistungsorientierten und individualisierten Gesellschaften an jeden Menschen gerichtet werden (vgl. Goodley 2014; vgl. Maskos 2015).
Das Neue am Begriff des Ableismus ist darüber hinaus, dass er eine Parallele zu Begriffen wie etwa Sexismus und Rassismus zieht. Damit schließt er an den Gedanken an, dass die diskriminierenden und „feindlichen“ Haltungen und Handlungen Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse sind, zu deren Aufrechterhaltung und Legitimierung die Diskriminierungen in Dienst genommen werden (Scherr, 2016, 9; Köbsell, 2015; Rommelspacher 2009). Ähnlich wie Rassismus und Sexismus erfüllt Ableismus eine Funktion für die Konstruktion von Normalität: Die Markierung von behinderten Menschen als „Andere“, denen gegenüber sich ein normiertes, autonomes und leistungsfähiges Ideal-Subjekt aufrechterhalten lässt. Durch dieses „Othering“, das „Zum-Anderen-Machen“ behinderter Menschen, wird ein stabiles „nichtbehindertes“ Subjekt erst wirkmächtig (Shakespeare 1994; Spivak 1999). Dabei sind diese Machtverhältnisse potentiell für alle schädlich, denn niemand wird dem nichtbehinderten Ideal vollends gerecht. Behinderung ist eine – wenn auch oft unbewusste – Realität für alle, spätestens im Alter werden alle zu beeinträchtigten Menschen (Maskos 2010; Köbsell 2015).
Das Ausmaß von ableistischer Diskriminierung ist in Deutschland bisher kaum erforscht. Studien zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ nahmen „Abwertung behinderter Menschen“ als ein Element des „Syndroms“ der Menschenfeindlichkeit mit auf (Heitmeyer et.al 2008). Als Einstellungsforschung nutzen sie dabei Aussagen, die üblicherweise mit dem Begriff der Behindertenfeindlichkeit verbunden werden. Im Zentrum stehen Aussagen zur „Belastung der Gesellschaft“ durch behinderte Menschen (Heitmeyer et.al 2012). Die Zustimmungswerte zu diesen Aussagen bewegte sich bei Abschluss der Langzeitstudie im Jahr 2012 im Vergleich zu anderen Menschenfeindlichkeiten auf einem geringeren Niveau (zwischen rund 4 und 8 Prozent). Zuletzt forschte indes die „Leipziger Autoritarismus Studie“ unter anderem nach sozialdarwinistischen Urteilen über den mangelnden „Lebenswert“ behinderter Menschen und erreichte dabei mit rund siebzehn Prozent recht hohe Zustimmungswerte (in Ostdeutschland sogar 31 Prozent; Decker et.al 2022, 46).
Ableistische Bilder und „Mikroaggressionen“
Ableismus wirkt sich ganz unterschiedlich auf die Lebensrealitäten aller Menschen aus. „Behindernd“ ist er allerdings vor allem für Menschen, die als behindert klassifiziert sind und die alltäglich vor einer Vielfalt von strukturellen und zwischenmenschlichen Barrieren stehen. An dieser Stelle komme ich wieder zurück auf die Szene in der Bäckerei. Hier finden wir zunächst eine Reihe von Elementen, die man den ableistischen „Mikroaggressionen“ zuordnen könnte. Dieser Begriff entstand im Diskurs um rassistische Alltagserfahrungen, wird aber auch auf andere Diskriminierungen übertragen. Er bezeichnet scheinbar harmlose Bemerkungen, Fragen und Handlungen, die Diskriminierte als dauerhaft belastend erleben, weil sie unbeabsichtigt und subtil bestimmte abwertende und verallgemeinernde Botschaften transportieren (Sue 2010, 5). In der Summe können sie einen hohen Grad an „Minderheiten-Stress“ („minority stress“) produzieren (Meyer 2003).
Beispiele dafür finden sich im Gespräch mit der Verkäuferin. Da ist zunächst die Annahme, dass die Person neben mir mein „Betreuer“ sein muss. Tatsächlich werden viele behinderte Menschen durch eine Persönliche Assistenz, durch Freund*innen oder Familie im Alltag unterstützt – dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht selbst als kompetentes erwachsenes Gegenüber agieren können. Der vermeintlich nicht erwachsene Status legitimiert, dass mitunter über ihren Kopf hinweg oder wie mit einem Kind mit ihnen gesprochen wird. Außerdem Invasionen der Privatsphäre, wie sie bei nichtbehinderten Menschen kaum vorkommen würden: Etwa intensives Starren bei sichtbar beeinträchtigten Menschen, genauso wie private Fragen nach der Diagnose, nach Toilettengängen oder Sexualität durch entfernte Bekannte oder Zufallsbegegnungen.
Auch das Kompliment über meine vermeintliche „Versiertheit“ im Verstauen meiner Brötchen offenbart einiges über gängige ableistische Bilder von Behinderung. Die Absicht ist alles andere als abwertend – es ist als Lob gemeint und soll den Austausch auflockern. Gleichzeitig offenbart es eine verbreitete Vorstellung: Dass behinderten Menschen kaum etwas zuzutrauen ist, dass sie für alles fremde Hilfe brauchen und wenn nicht, dies eine bemerkenswerte Höchstleistung darstellen muss. Verknüpft damit ist das Bild des Leidens: Behinderung, so wird angenommen, ist eine rein negative, leidvolle Erfahrung, die unbedingt vermieden oder beseitigt werden muss. Behinderte Menschen sehnten sich vor allem danach, nichtbehindert und „normal“ zu sein oder geheilt zu werden. Mitleidige Bemerkungen speisen sich aus diesem Mythos, etwa die Vorstellung des „schweren Schicksals“. Umgekehrt kann aber auch das Lob für Alltägliches – etwa die Anerkennung dafür, allein einkaufen zu gehen und „das Leben zu meistern“, oder den Applaus dafür, auch auf der Tanzfläche einer Party zu finden zu sein, abwertend wirken. Eine gelassene Normalität eines Lebens mit Behinderung – die Lebenswirklichkeit sehr vieler behinderter Menschen – ist für viele nicht vorstellbar.
Damit verknüpft, aber im ideologischen Ursprung und den Auswirkungen erheblich tiefgreifender, ist die Vorstellung eines „nicht lebenswerten Lebens“ mit Behinderung. Oft wird mit dem Befund, eine Behinderung würde keinerlei Lebensqualität bieten, ein dahinterstehendes Urteil verschleiert: dass behinderte Menschen vor allem eine Last für die Gesellschaft darstellten. Das Narrativ der „Erlösung“ hat Tradition in der Legitimierung von Morden an behinderten Menschen. Menschen mit Behinderungen
Der Diskurs ist ebenfalls bestimmend in Debatten um Techniken der Pränataldiagnostik, bei denen meist die vermuteten Belastungen der werdenden Eltern diskutiert werden, aber kaum eine Kritik an einer noch nicht inklusiven Gesellschaft geübt wird, die den Eltern behinderter Kinder Unterstützung vorenthält und ihnen die Verantwortung für die Behinderung des Kindes zuschiebt. (Achtelik 2015). Darüber hinaus durchzieht er Debatten zum assistierten Suizid.
Auch in Kontroversen um schulische Inklusion greift das Narrativ der „Belastung“. Nicht nur Parteien wie die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte AfD behaupten, dass behinderte Kinder den Schulerfolg nichtbehinderter Kinder ausbremsen würden und Inklusion schlicht nicht funktionieren würde – auch wenn viele Studien klar das Gegenteil belegen (z.B. Feyerer 1998, Preuss-Lausitz 2009).
Ableismus in medialen Repräsentationen, in gestalteter Umwelt und Institutionen
Eingebettet sind all diese Diskurse und Alltagspraxen in eine strukturell ausgrenzende Umwelt, in der behinderte Menschen systematisch übersehen und ihre die Bedürfnisse nicht mitgedacht werden. Da ist zunächst ihre immer noch einseitige mediale Repräsentation, die ableistische Bilder mitunter aufgreift und verstärkt und oft eine Projektion stereotyper Annahmen über Behinderung nichtbetroffener Journalist*innen und Drehbuchautor*innen darstellt (Radtke 2003 ). So schließen beispielsweise manche Berichterstattungen über den Behindertensport an das Leidens-Narrativ an und stellen behinderte „Held*innen“ dar, die „mutig“ gegen ihr Schicksal ankämpfen. Die australische Journalistin und Bloggerin Stella Young nannte mit Rückgriff auf die Disability Studies derartige Repräsentationen „inspiration porn“ - eine mediale Instrumentalisierung von Behinderung, die in nichtbehinderten Menschen Gefühle von Bewunderung und Rührung auslösen soll, aber die Normalität eines Lebens mit Behinderung ausblendet (Young 2014). Begleitet werden schablonenhafte Darstellungen auch heute noch von ableistischen Phrasen wie etwa „an den Rollstuhl gefesselt“ oder der generalisierenden Formulierung, dass jemand „an einer Behinderung leidet“, beispielhaft nachzulesen auf der Online-Plattform Externer Link: www.leidmedien.de.
Zurück in der Bäckerei zeigt sich auch in der gebauten Umwelt die Ausblendung behinderter Menschen: Die Theke ist auf Stehhöhe ausgerichtet, was auch die Blickgewohnheiten der Verkäuferin und der Kund*innen prägt. Immerhin ist die Bäckerei barrierefrei zugänglich – keine Selbstverständlichkeit, schließlich ist in Deutschland die Privatwirtschaft nicht zu Barrierefreiheit verpflichtet. Architektur und Stadtplanung, Brandschutz- und Denkmalschutzregeln stellen Barrierefreiheit oft hinten an und beziehen behinderte Menschen nicht mit in die Planungen ein. Zugänge werden in Deutschland oft nur durch „ausgebildetes“ Personal gewährleistet, für alles andere sei man „nicht versichert“ – auch so bleiben behinderte Menschen allzuoft draußen. Beispiel Deutsche Bahn: Um Fernverkehrszüge zu nutzen, müssen sich Rollstuhlfahrer*innen 24 Stunden vorher anmelden. Dies ist jedoch keine Garantie dafür, auch am Ziel ankommen: Zugverspätungen etwa, verpasste Anschlusszüge, fehlende Duchsagen oder nicht funktionierende Aufzüge werfen manche Voranmeldungen über den Haufen. Spontanes Reisen im Zug ist unmöglich – eine klare Ungleichbehandlung gegenüber nichtbehinderten Kund*innen (Rosigkeit 2023).
Braucht eine behinderte Person im Alltag viel Assistenz, ist ihr Radius ohnehin davon abhängig, ob ihre finanziellen Ressourcen für die notwendige Unterstützung ausreichen. Die Beantragung von Geldern für Hilfsmittel, Assistenz und Pflege ist kompliziert. In Zeiten von knappen personellen Ressourcen sind behinderte Menschen dabei meist auf sich selbst zurückgeworfen. Leben sie in einer Wohneinrichtung ist ihr Alltag vom Dienstplan des Heimpersonals abhängig. Sich selbstständig in die Bäckerei zu bewegen wäre dann kaum möglich. Auch finanziell sind viele behinderte Menschen schlechter gestellt. Ihre Arbeitslosenquote ist im Schnitt knapp doppelt so hoch wie die nichtbehinderter Arbeitnehmer*innen (Aktion Mensch 2022) – und die Skepsis von Personalchefs gegenüber behinderten Bewerber*innen ist beträchtlich (v. Kardorff et.al 2013). Arbeiten behinderte Menschen in einer Behindertenwerkstatt, beträgt ihr Stundenlohn durchschnittlich 1,35 €. Dies ist legal, da Beschäftigte in Werkstätten nicht als reguläre Arbeitnehmer*innen mit den entsprechenden Rechten gelten, sondern als Rehabilitand*innen.
Fazit: Gegen Ableismus hilft nur Inklusion
Gerade in Deutschland ist das Netz von Sondereinrichtungen, Werkstätten und Wohnheimen dicht gewebt, und trotz aller schulischer Inklusionsbemühungen wird eine teure Parallelstruktur an Förderschulen weiter aufrechterhalten. Behinderte Menschen sind dadurch oft nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft und es fehlt der persönliche Kontakt, durch den ableistische Bilder aufbrechen könnten. Dass behinderte Menschen ein erfülltes Leben führen können, mit Freund*innen, Liebesbeziehung und Kindern, dass sie ein Leben jenseits von Werkstatt und Pflegeheim haben, dass sie selbst eine Expertise haben im Umgang mit ihrer Behinderung, all dies verschwindet derzeit noch hinter der Wand ableistischer Bilder.
Die Schablonen im Blick auf behinderte Menschen und die vielfach räumliche Trennung bei Arbeit, Wohnen etc. ermöglichen nichtbehinderten Menschen indes, sich vom verunsichernden, angstmachenden Szenario Behinderung zu distanzieren: Zu den Held*innen kann man hinaufschauen, zu den Opfern hinunter – eine Augenhöhe, die eine Nähe zu behinderten Menschen herstellen würde, braucht man so nicht einzunehmen (Garland Thomson 2001). Erst wenn behinderte Menschen überall selbstverständlich dabei sind – am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Freizeit, im Freundeskreis, gäbe es eine Chance auf unverkrampfte Alltagsbegegnungen ohne „Mikroaggressionen“ und ein selbstverständliches Mitdenken behinderter Menschen. Auf dem Weg dahin müssten nichtbehinderte Menschen sich ihrer eigenen Leerstellen beim Thema Behinderung bewusst werden und Ableismus als etwas verstehen, das auch sie selbst betrifft.