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Social Media als Technikmythos | Soziale Medien – wie sie wurden, was sie sind | bpb.de

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Social Media als Technikmythos

Prof. Dr. Benjamin Krämer

/ 11 Minuten zu lesen

Manchmal scheint es, als sei Unglücklichsein in unserer Zeit vor allem Unglücklichsein angesichts des (vermeintlich) guten Lebens anderer, das sie auf sozialen Medien ausstellen. Man hat auch manchmal den Eindruck, als sei Radikalisierung heute letztlich gleichbedeutend mit Radikalisierung auf sozialen Medien. Unter politischer Polarisierung wird oft nur politische Polarisierung auf sozialen Medien und durch soziale Medien verstanden. Lüge und Desinformation in der Politik scheinen gleichbedeutend mit Lüge und Desinformation auf sozialen Medien (und scheint es vorher nicht gegeben zu haben). Unter Überwachung wird heute vor allem Überwachung durch die Technik der Social-Media-Plattformen verstanden. Und so weiter.

Illustration: www.leitwerk.com

Technikmythen statt Gesellschaftsdiagnose

Soziale Medien sind zu einem Mythos geworden, zu einem Technikmythos, das ist die Grundthese dieses Beitrags. Damit ist nicht einfach gemeint, dass falsche Behauptungen über soziale Medien kursieren (so wie man manchmal eine falsche Annahme als „Mythos“ bezeichnet). Gemeint ist stattdessen hier: Soziale Medien als Technik werden dann zum Mythos, wenn das Geschehen auf sozialen Medien quasi gleichbedeutend wird mit dem gesellschaftlichen Geschehen an sich. Der Teil (das Geschehen auf sozialen Medien) wird also zum Ganzen (dem gesellschaftlichen Geschehen überhaupt). Oder soziale Medien als (vermutete) technische Ursache für ein gesellschaftliches Phänomen und eine mögliche gesellschaftliche Wirkung scheinen so eng verbunden, dass sie gleichsam verschmelzen. Das Geschehen auf sozialen Medien (wie Polarisierung, problematische Formen der Selbstdarstellung usw.) und mögliche gesellschaftliche Folgen von sozialen Medien (wie gesellschaftliche Polarisierung, problematische Selbstbilder usw.) werden also eins; die Wirkung scheint offenkundig und ganz und gar selbstverständlich. Technikmythen ersetzen dann die sorgfältige Gesellschaftsdiagnose; verschiedene Probleme, verschiedene Ursachen und Wirkungen werden nicht mehr sorgfältig unterschieden und analysiert, sondern die sozialen Medien werden zum unhinterfragten Inbegriff vager Problemlagen.

Solche Gleichsetzungen oder Verschmelzungen sind auf mehreren Ebenen ein Problem: Sie schreiben erstens der Technik zu, was gesellschaftliche Probleme sind, ja entlasten uns bzw. die jeweils Verantwortlichen von der Pflicht zur sorgfältigen gesellschaftlichen Analyse und zum politischen Aushandeln oder Erstreiten von tatsächlichen gesellschaftlichen Verbesserungen. Die Mythen sind zweitens auch unhistorisch gedacht: Alle Probleme scheinen irgendwie neu, erst mit dem Aufkommen der sozialen Medien entstanden. Lehrreiche Analogien zu früheren Verhältnissen und ältere Wissensbestände, die für die Analyse und Lösungen tauglich wären, fallen einfach unter den Tisch. Und drittens lenken die Mythen nicht nur weg von fundierter Kritik der sozialen Medien (bzw. der Social-Media-Konzerne und ihrer politischen Regulierung). Die Mythen behindern zugleich, dass sich – bei aller Kritik – die positiven Potenziale der bestehenden oder besser organisierter Plattformen entfalten können.

Das alte Lied der Degeneration

Ob Beatles-Schallplatten oder Rap-CDs, die Jugend war schon früher in großer Gefahr! Populäre Musik, Videospiele, ja schon Bücher und Zeitungen, heute fast ein Inbegriff „guter“ Mediennutzung – fast jedem neuen Medium wurde nachgesagt, verantwortlich für Sittenverfall und Krankheiten unter Kindern und Jugendlichen zu sein. Der Verweis auf diese historische Regelmäßigkeit entbindet natürlich nicht von einer sorgfältigen Analyse, welche problematischen Wirkungen neue Medien wie etwa soziale Medien haben können. Doch einem komplexen Ursachengeflecht wird man nicht gerecht, wenn man soziale Probleme technisiert (d. h. alleine einer Medientechnologie als Ursache zuschreibt) und pathologisiert (d. h. vor allem als Frage der individuellen Krankheit und Gesundheit betrachtet).

Jugendliche in der Schallplattenabteilung eines großen Kaufhauses in Hamburg (1970) (© picture-alliance/dpa, Hennigsen)

Ein Inbegriff dieser Technisierung und Pathologisierung ist vielleicht die Idee einer „digitalen Demenz“ durch Bildschirmmedien, d. h. die These, wonach diese letztlich einsam, ungesund und weniger intelligent machen würden. Ein Medienangebot, das Kindern und Jugendlichen – bei allen Problemen – einen besonderen Zugang zur Welt (unter verschiedenen anderen) erschließt und ihnen Identitätsarbeit und Beziehungspflege ermöglicht, wird so alleine zum gefährlichen Krankmacher stilisiert. Die Folgerung daraus werden dann Stigmatisierung und Verbote, altertümliche Bewahrpädagogik statt sinnvoller Medienaneignung sein. Bestimmte Heranwachsende und ihre Eltern werden dann abgestempelt (die Kinder hingen einfach zu viel an ihren Handys). Gute pädagogische Konzepte entstehen nicht dadurch, dass man Social-Media-Nutzung umstandslos mit völlig verschiedenen Krankheiten („Demenz“, ADHS usw.) und substanzgebundenen Abhängigkeiten („Handysucht“ als Analogie zur Drogensucht) gleichsetzt.

Vielmehr könnte man danach fragen, wie z. B. Inhalte auf sozialen Medien teilweise problematische kulturelle Muster (wie Sexismus, normierte Körperbilder, Rassismus etc.) widerspiegeln und vielfach reproduzieren. Dies würde jedoch erfordern, die Existenz dieser Phänomene unabhängig von Social Media wahrzunehmen. Umgekehrt sollte einen dann aber auch interessieren, wie den Mustern auf sozialen Medien aktivistisch und emanzipatorisch entgegengewirkt werden kann. Es kommt auch nicht in den Blick, wie Jugendliche aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Bedingungen verschieden an soziale Beziehungen herangehen und wie Funktionalitäten und Algorithmen auf Social-Media-Plattformen letztlich bestimmte Wertsetzungen widerspiegeln, was „interessant“, „erfolgreich“ und kommerziell attraktiv ist. Wer statt diversen Inhalten und verschiedenen Funktionen nur böse Bildschirme sieht und Bildschirmzeit misst oder die sozialen Medien dem „echten Leben“ gegenüberstellt, trägt wenig zur Frage bei, wie Kinder und Jugendliche positive Beziehungen, Medienkompetenz und Weltwissen aufbauen können und wie soziale Benachteiligung als Ursache vieler Leidenswege und problematischer Verhaltensweisen bekämpft werden kann.

Welche gute alte Zeit und welche Spaltung?

Wenn man gegenwärtige Zeitdiagnosen über politische Polarisierung oder eine Spaltung der Gesellschaft umdreht, dann muss es ja eine gute alte Zeit gegeben haben, wohl vor den sozialen Medien, als die Menschen einträchtig der Tagesschau lauschten oder gesittet in den Parlamenten diskutierten, allen Seiten wohlwollend zuhörten und sich dann in der goldenen Mitte der besten politischen Lösungen trafen. Den aktuellen Spaltungsdiagnosen liegt wohl kein sehr genaues Bild früherer Zustände zugrunde, aber es würde sich einmal lohnen, näher nachzufragen, wann diese gute oder zumindest bessere alte Zeit gewesen sein soll und ob wirklich alle gesellschaftlichen Gruppen an diesem Konsens und seinen Segnungen teilgehabt hätten.

Wenn man aber dem Zusammenhang von sozialen Medien und gesellschaftlicher Spaltung näher nachgehen will, so muss man sich zuerst einmal entscheiden, welche der verschiedenen Spaltungsthesen die richtige sein soll oder welche davon gleichzeitig bestehen können. Führen die Algorithmen der Plattformen dazu, dass wir nur noch mit Botschaften konfrontiert sind, die der eigenen Meinung entsprechen? Dann würden Menschen zunehmend in Filterblasen leben und gar nicht mehr mit anderen Positionen und Lebenswelten in Kontakt kommen. Oder befördern die Algorithmen vielmehr die Kontroverse, weil sie Aufmerksamkeit bringt? Dann würde man durchaus mit gegensätzlichen Positionen konfrontiert und eine zunehmend feindselige Kommunikation würde die Menschen auseinandertreiben. Oder schlagen die Algorithmen einem immer die nächst-radikalere Variante des eigenen Weltbildes vor, tauchen wir also in das vielbeschriebene „Rabbit-hole“ ab, den Kanninchenbau aus Alice im Wunderland? Dann würden viele Menschen in eine Radikalisierungsspirale geraten. Was stimmt also: die These der Filterblasen als Bestätigung eines zunehmend erstarrten Weltbildes, oder die Thesen der Polarisierung oder Radikalisierung, also auseinander driftender Weltbilder?

Für all diese Thesen gibt es in ihrer Einfachheit nur sehr eingeschränkte wissenschaftliche Belege. Für viele Gruppen von Nutzer*innen sind keine echten Filterblasen oder Radikalisierungstendenzen belegt. Das ist auch naheliegend, sind doch sowohl die Empfehlungen auf Social-Media-Plattformen als auch die Meinungsbildung bzw. die Herausbildung politischer Weltbilder komplexe Prozesse, die sich in der Regel nicht einfach streng in eine Richtung bewegen, etwa hin zu mehr Radikalität oder zu einem Einkapseln in der eigenen Blase.

Spaltungsthesen rund um soziale Medien werden oft ohne historische Vergleiche, soziologische und sozialpsychologische Grundlagen und politische Einordnungen intensiv diskutiert. Man kann sich außerdem fragen: Folgt aus den Spaltungsthesen politisches Handeln oder eignen sie sich nur für einträchtiges Lamentieren? Und welche anderen wichtigen Diskussionen bleiben aus, wenn man davon ausgeht, dass soziale Medien selbst die Menschen durch ihre Technik radikalisieren oder polarisieren? Je mehr der Fokus auf sozialen Medien liegt, desto weniger muss man über historische Kontinuitäten der Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit und ihre Verankerung in bestimmten Milieus und Institutionen sprechen oder darüber, welche politischen Lager sich nun genau wie sehr radikalisieren.

Die Erzählung von der technisch verstärkten Propaganda

Der Trumpismus und Social Media konkurrieren heute darum, der Inbegriff der technisch verstärkten Propaganda zu sein, oder scheinen zu einer dunklen Einheit aus demagogischen Fake News, Targeting, Bots, Trollfarmen usw. zu verschmelzen. Nun mag man eingestehen, dass es sicher auch andere Formen der politischen Propaganda gibt und die Bedeutung der genannten Propagandatechniken vielleicht etwas übertrieben wird. Aber wer wäre nicht für mehr Fakten in der Politik, mehr Transparenz in der politischen Werbung und mehr zivile menschliche Kommunikation statt Hate Speech, Shitstorms und orchestriertem Spamming?

Die Durchsetzung der Menschenwürde und der Standards demokratischer Diskurse ist online wesentlicher denn je. Es bleibt jedoch immer die dringende Frage, durch wen, mit welchen Mitteln und mit welcher Legitimation Inhalte und Personen auf sozialen Medien kontrolliert und gesperrt werden sollten. Sonst können sich autoritäre Regime und interessengeleitete Plattformbetreiber bei ihren repressiven Maßnahmen darauf berufen, dass sie auch nur anerkannte Übel wie Desinformation und Hate Speech bekämpfen würden, wenn sie in Wirklichkeit eine politische Agenda verfolgen oder eine Opposition unterdrücken wollen.

Womöglich ist die Sorge über technisch verstärkte Propaganda nur ein negatives Spiegelbild des überdrehten Marketings, das für ähnliche Technologien betrieben wird (man denke an den Hype um den angeblichen Einfluss von Cambridge Analytica auf den Trump-Wahlkampf). Wenn man glaubt, dass Werbung datengetrieben an speziellste Zielgruppen ausgespielt und angepasst werden kann oder dass Algorithmen beruhend auf künstlicher Intelligenz Nutzer*inneninteressen sehr gut vorhersehen und zu allen Themen gewandt Konversation betreiben können, dann ist es auch naheliegend, dass Social Bots, geschickt ausgespielte Werbung und Falschmeldungen Wahlkämpfe entscheiden und die Demokratie gefährden könnten. Als Gegenmittel erscheint es naheliegend, die negativen Konsequenzen auch wieder technisch abzufangen, also Bots, Hate Speech, Desinformation usw. wiederum technisch erkennen und gar sperren zu wollen – mit dem erheblichen Risiko, dass die Technik diskriminierenden Kriterien folgt, übers Ziel hinausschießt oder die Plattformen sich gegenüber legitimen Einwänden gegen Sperrentscheidungen abschotten, da ja alles technisch gut geregelt sei.

Cambridge Analytica (Technikmythos)

Cambridge Analytica war ein britisches Beratungsunternehmen, das von 2013 vis 2018 aktiv war. Es versprach aber unter anderem, auf wissenschaftlicher Grundlage verschiedene maßgeschneiderte Wahlkampfbotschaften auf sozialen Medien an genau diejenigen Nutzer*innen ausspielen zu können, die aufgrund ihrer Persönlichkeit besonders dafür empfänglich sein würden (unter anderem habe man das im Wahlkampf von Donald Trump und vor der Brexit-Abstimmung auf wahlentscheidende Weise getan). Cambridge Analytica stützt sich dabei auf die Forschung wie die des Psychologen Michal Kosinski, wonach man auf der Grundlage von Facebook-Likes recht genau berechnen könne, wie ausgeprägt bestimmte Persönlichkeitsmerkmale bei den Betreffenden Nutzer*innen sind.

Siehe auch Interner Link: Microtargeting und Manipulation: Von Cambridge Analytica zur Europawahl

Statt bei Online-Propaganda das Hauptaugenmerk nur auf die sachliche Wahrheit und Unwahrheit einzelner Behauptungen oder die technische Verstärkung und Einhegung zu legen, sollte man sich auch mit den kommunizierten Ideologien der Ungleichwertigkeit auseinandersetzen, die nicht alleine mit Faktenchecks zu bekämpfen und nicht ohne Weiteres technisch zu identifizieren sind. Sie bestehen nämlich nicht nur aus prüfbaren Einzelaussagen, sondern stellen ganze Weltbilder voller gedanklicher Verknüpfungen und Wertsetzungen dar, die es zu durchdringen gilt. Es sollte uns vor allem auch interessieren, wer aus welchen Gründen die Inhalte menschenfeindlicher Botschaften akzeptiert (Technik erklärt ja weder die Motivationen der Kommunizierenden, noch der Angesprochenen) und wer darunter leidet. Und es sollte uns interessieren, dass die Bekämpfung menschenfeindlicher Äußerungen und Bilder immer noch weitgehend auf prekäre menschliche Arbeitskräfte, oft in benachteiligten Ländern, abgewälzt wird.

Social Media gelten als Inbegriff heutiger Datenschutzprobleme, irgendwie nicht zu Unrecht, aber der Blick ist doch recht verengt: Es erscheint, als sei das alles einfach eine Sache zwischen mir, dem Überwachten, und den Social-Media-Unternehmen, den Überwachenden. Die Frage ist ja: Überwachen diese mich wirklich? Nicht im klassischen Sinne, denn als Einzelperson bin ich für sie in aller Regel uninteressant. Und es lässt sich dann auch leicht einwenden, dass alles freiwillig sei, ich ja mit den Daten die meiste kostenlose Leistung der Social-Media-Plattformen „bezahlen“ würde.

Oder geht es um mich als Einzelperson gegenüber anderen Einzelpersonen, denen ich via soziale Medien Privates preisgebe? Datenschutz wird in beiden Fällen zu einer Frage der Einstellung: Was ich technisch in meinen Privatsphäre-Settings einstelle und welche Einstellung ich zur Preisgabe meiner Daten habe bzw. entgegen meiner Naivität besser haben sollte.

Datenschutz erscheint so als individuelles und technisches Problem: Es liegt im Wesen der Technik, dass Daten gesammelt werden, und es liegt am Individuum, welche das sind. Aber schon wenn man nur die direkt geposteten Informationen betrachtet (und nicht diejenigen, welche die Social-Media-Unternehmen auf den Plattformen und über weite Teile des Internets hinweg sonst noch sammeln), so habe ich es nicht alleine in der Hand, was online steht und gespeichert wird. Ich bin auf die Sensibilität anderer angewiesen, die auch über mich posten und kommunizieren können, oder ohne mein Wissen Plattformen wie Instagram mit einem Klick erlauben, ihr Adressbuch nach Kontakten zu durchsuchen und so auch über mich Daten preisgeben. Außerdem bleibt mir oft nur die Wahl, diejenigen Webseiten und Apps zu wählen, die auch andere nutzen wollen, wenn ich mit ihnen in Verbindung bleiben will, ob mir nun deren Datenschutz-Standards genügen oder nicht.

Datenschutz wird hier also zu einer kollektiven Aufgabe. Er wird es erst recht und er wird zu einer politischen Frage, wenn man die Idee von Daten als Privateigentum von Individuen und Unternehmen und die Idee von sozialen Medien als abgegrenzten Plattformen kritisch hinterfragt. Zunächst einmal sind gesammelte Daten immer auch ein Vorrat für potenzielle staatliche Überwachung und stehen im Visier krimineller Dritter. Und ob ich über die Grenzen von Plattformen und Apps mit anderen kommunizieren kann und diese damit frei wählen kann, das lässt sich wohl nur politisch durchsetzen, da es oft gegen die kommerzielle Interessen der Betreiber verstößt. Ob wir schließlich echte individuelle und kollektive Souveränität über die gesammelten Daten und einen gesellschaftlichen Nutzen daraus haben, das wäre eine Frage, die gesellschaftlich diskutiert und politisch geregelt werden müsste. So wäre es z. B. auch wünschenswert, wenn die Plattformbetreiber Wissenschaftler*innen und Journalist*innen einfachen und gleichberechtigten Zugriff auf gesammelte Daten bieten würden (wobei natürlich private Daten geschützt werden müssen, aber das darf kein Vorwand sein, Zugriff sehr weitgehend zu verwehren). So müssten sich Technikmythen auch der Überprüfung durch Forschung und investigative Recherche stellen. Stattdessen verfolgen die Plattformbetreiber unterschiedliche Strategien in ihrem eigenen Interesse: Die Datennutzung wird oft nur gegen Entgelt oder nur handverlesenen Personen und Institutionen gewährt, was den Kreis der Forschenden oder Recherchierenden und die verfolgten Fragestellungen stark einschränkt.

Mythen des Alltags, so ein Buchtitel von Roland Barthes, sind so mächtig, weil sie ein Symbol oder Symptom einer Sache zu einem selbstverständlichen Inbegriff der Sache, ja zur Sache selbst werden lassen. Sie sind zumeist eng mit Macht- oder kommerziellen Interessen und dem gesellschaftlichen Status Quo verbunden. Wenn die Technik der sozialen Medien zum Mythos wird, dann wird sie fälschlicherweise zum Inbegriff eines eigentlich viel umfassenderen gesellschaftlichen Problems. Wir müssen uns also fragen: Welche Formen der Ungleichheit, welche Grundkonflikte gibt es in der Gesellschaft? Mit welchen Herausforderungen kämpfen Menschen in ihrer Lebensführung? Welche ökologischen, gesundheitlichen, ökonomischen, sozialen oder anderen Krisen gilt es jeweils zu lösen? Hier müssen wir uns davon lösen, vorschnell die Ursache auf sozialen Medien zu suchen (sie etwa sofort als Hauptursache oder -quelle von Desinformation, bestimmten Krankheiten, Klimaleugnung, politischer Feindseligkeit usw. zu sehen). Vielmehr braucht es eine sorgfältige Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und Entwicklungen, um dann die Rolle sozialer Medien darin genauer einschätzen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Siehe die in der Fachwelt sehr kritisch beurteilten Thesen von Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen (München: Droemer, 2012).

  2. Siehe den Beitrag von Tong-Jin Smith in diesem Dossier für eine differenziertere Diskussion.

  3. Unter Targeting versteht man die Strategie, auf Social-Media-Plattformen politische oder Werbebotschaften zielgenau an genau diejenigen Zielgruppen auszuspielen, die dafür am ehesten empfänglich sein sollten, zumindest laut den Daten, die über die betreffenden Personen gesammelt wurden. Bots sind Programme, die automatisiert auf sozialen Medien oder andere Plattformen oder Geräten Botschaften ausgeben, die im Grenzfall von menschlicher Kommunikation ununterscheidbar sein sollen. Der Begriff des Trolls bezeichnet online traditionell eine Person, die andere Menschen gezielt verärgern („trollen“) will. Öfter taucht der Begriff auch auf, wenn über koordinierte Propagandaaktivitäten gesprochen wird, bei denen eine größere Zahl von Personen (eine so genannte Trollfarm) damit beauftragt wird, auf sozialen Medien Zwietracht oder Zweifel zu säen und damit eine politische Gegenseite oder geopolitische Konkurrenten zu schwächen.

  4. Spamming bezeichnet das massenhafte Versenden bzw. Posten digitaler Botschaften (klassisch via E-Mail, aber auch in Foren oder auf sozialen Medien), die als irrelevant und störend empfunden werden.

  5. An den sich das hier zugrunde gelegte Verständnis von Mythen anlehnt: Roland Barthes, Mythen des Alltags. (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1964)

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Weitere Inhalte

Prof. Dr. Benjamin Krämer ist Heisenberg-Professor für Kommunikationswissenschaft mit den Schwerpunkten Mediennutzung und -geschichte am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht unter anderem zu Mediennutzung, Online-Kommunikation und politischer Kommunikation. Er interessiert sich für Theorien des Medienwandels und untersucht den Beitrag sozialer und anderer Medien zum Erwerb populistischer und rechtsextremer Ideologien.