Auf dem 2013 erschienenen Album "Das Hohelied der Herkunft" der Rechtsrockgruppe Stahlgewitter findet sich das Lied "Deine Asche - dein Grab". Stahlgewitter ist eine der gegenwärtig bedeutendsten deutschen Neonazibands. Der Sänger Daniel "Gigi" Giese wurde 2012 unter anderem wegen Volksverhetzung verurteilt – für eine CD mit dem Titel "Adolf Hitler lebt" eines Nebenprojektes unter dem Namen "Gigi und die braunen Stadtmusikanten". Er ist auch verantwortlich für das berüchtigte Lied "Dönerkiller", das die Mordserie des NSU verherrlicht.
Wie Verbrecher kamen sie im Morgengrauen.
Dein Grab geschändet und den Stein zerhauen.
Die Stelle eingeebnet und verwaist,
so groß die Furcht vor deinem Geist.
Sie dachten, wenn keiner mehr dein Grabmal kennt,
auch keiner mehr deinen Namen nennt.
Wollten dich löschen aus des Volkes Sinn.
Streuten deine Asche heimlich in den Wind.
Doch der Wind fuhr auf und trug sie fort,
verstreute sie hier und streute sie dort.
In die rauschenden Wälder, in die langen Höhen.
Dein Name, der wird nie vergehen.
Dein Heldengrab ist überall.
Ganz Deutschland ist dein Ehrenmal.
Wessen Grab wurde "geschändet"? Mit keinem Wort wird im Text benannt, wer hier von Stahlgewitter so verehrt wird, wessen "Name nie vergehen" werde. Auch im Booklet der CD findet sich kein Hinweis auf den Verehrten. Doch die Eingeweihten wissen es: Es geht um Rudolf Heß, einen der zentralen Helden der Szene, der immer wieder in Rechtsrock-Songs bejubelt wird. Heß war Stellvertreter Hitlers und einer der Hauptverantwortlichen der Nürnberger "Rassegesetze", die die Verfolgung von Juden in Deutschland institutionalisierten.
Im Jahr 2011, im Lied wird es angedeutet, wurde das Grab von Rudolf Heß in Wunsiedel aufgelöst. Wunsiedel war jahrelang ein Wallfahrtsort für Neonazis gewesen, hier hatten jährlich zum Todestag von Heß große Neonaziaufmärsche stattgefunden. In Wunsiedel gab es gegen den Spuk vielfältige Proteste, seit 2005 wurden die Aufmärsche verboten. Doch das Grab auf dem evangelischen Friedhof in Wunsiedel blieb eine Pilgerstätte für Neonazis.
Als der Pachtvertrag für das Grab 2011 auslief, nutzte die evangelische Kirchengemeinde dies dazu, den Vertrag nicht zu verlängern und das Grab aufzulösen. Auch die Erben hatten nach einigen Verhandlungen schließlich der Auflösung des Grabes zugestimmt und folgten der Kirchengemeinde in der Argumentation, dass Wunsiedel in Zukunft kein Wallfahrtsort für Neonazis mehr sein dürfe. Die Erben entschieden schließlich, dass die Gebeine verbrannt und die Asche über dem Meer verstreut werden solle.
Von dieser Rolle der Erben erfährt man bei Stahlgewitter allerdings nichts – es würde schließlich das Feindbild stören. Stattdessen wird stereotyp der Begriff "sie" benutzt, als Sammelbegriff für alles, was sich gegen Rudolf Heß richtete.
Diese "sie" bleiben bewusst nebulös – der Zuhörer soll darunter alle verstehen, die sich der Szene entgegenstellen. "Sie" kommen im Morgengrauen, "sie" handeln "heimlich" – die Assoziationen zur Geheimpolizei einer Diktatur sind überdeutlich.
Angst vor einem Toten, der im Grabe liegt.
Vor seinem Geist, bis heute unbesiegt.
Vor der Asche, den Knochen, vor einem Greis.
Kerker und Mord waren der Preis.
Sie dachten wenn keiner mehr dein Grabmal kennt,
auch keiner mehr deinen Namen nennt.
"Bis heute unbesiegt" heißt es im Lied – bejubelt wird damit, dass Rudolf Heß Zeit seines Lebens "standhaft" blieb. Sein Schlusswort im Nürnberger Prozess, "Ich bereue nichts!" findet sich in zahlreichen Propagandamaterialien der Szene. Die gesellschaftliche Abscheu gegenüber Rudolf Heß liegt für Stahlgewitter nicht in der Tatsache begründet, dass dieser hoher Repräsentant eines verbrecherischen Regimes war. Stattdessen hätten "sie" Angst vor seinem "unbesiegten" Geist. Obwohl Rudolf Heß heute ausschließlich in der Neonaziszene populär ist und nichts darauf hindeutet, dass sich dies ändern könnte, unterstellt die Band, das wahre Motiv für die Behinderung der Verehrung sei Angst – und suggeriert damit gegen alle Fakten, die Szene sei weitaus stärker, als sie es in Wirklichkeit ist.
Ganz nebenbei wird auch noch behauptet, dass Heß von den Alliierten ermordet worden sei – eine Legende, die seit Heß’ Tod im Jahr 1987 von Neonazis verbreitet wird und mit der die Alliierten als kriminell dargestellt werden sollen. Tatsächlich hatte Heß Suizid begangen.
Dein Heldengrab ist überall.
Ganz Deutschland ist dein Ehrenmal.
Dein Grab ist zwar verschwunden.
Sie haben dich nie überwunden.
Dein neues Grab ist überall.
Ganz Deutschland ist dein Ehrenmal.
Liebliche Auen, der steile Grat.
Alle empfingen diese Saat.
Es raunt und flüstert, landauf und landab.
Überall ist jetzt dein Grab.
In jeder Faser, in jedem Strauch.
In jedem Halm, in jedem Hauch.
In jedem Blatt, in jedem Baum.
In Ewigkeit durch Zeit und Raum.
In jeder Blüte und in jedem Korn.
Mit jedem Samen wird er wieder neu gebor'n.
In jeder Ähre, in jeder Frucht.
In jedem Wassertropfen und in jeder Bucht.
In jedem Atem, der sich regt.
In allem und in jedem, was sich nur bewegt.
Er lebt!
Die kitschigen Worte von "den lieblichen Auen" stammen nicht von Giese, es handelt sich um ein Zitat. Der Originaltext findet sich auf einer "Gedenktafel" für den in Nürnberg verurteilten und hingerichteten Naziverbrecher Wilhelm Keitel. Die Tafel steht auf dem Gelände seines früheren Guts, der Text wird regelmäßig von Neonazis zitiert. Im Original schließt der Spruch allerdings mit den Worten "Ganz Deutschland wurde ihr Ehrenmal". Während die Gedenktafel alle in Nürnberg Verurteilten "ehrt", thematisiert Giese nur Heß.
Wenn man den lächerlichen Bombast dieser Zeilen beiseite lässt, springt vor allem eines ins Auge: Die Behauptung, die Erinnerung an Heß sei "in allem und in jedem, was sich bewegt". Nur die Neonazi-Szene sei lebendig, wer nicht dazu gehört, innerlich tot.
Hier wird auch deutlich, dass es um mehr geht als nur die Person Rudolf Heß: In NS-Tradition soll der Nationalsozialismus als deckungsgleich mit Deutschland konstruiert werden: "Ganz Deutschland ist dein Ehrenmal". Es ist nicht nur Rudolf Heß, der viele Jahre nach seinem Tod noch "lebt", sondern auch der Nationalsozialismus, der weiterhin lebendig sei.
Rudolf Heß ist ein Dauerthema im Rechtsrock. Kein anderer Naziführer wird so oft in Texten verherrlicht. Doch hier wird er nicht einmal namentlich genannt. Warum? Auf die Funktion solcher Auslassungen wird im Rahmen der Interpretation eines zweiten Textes zurückzukommen sein.
Zwischen den Zeilen: Antisemitismus
Nicht näher bezeichnete "sie" stehen auch im Mittelpunkt eines Songs des neonazistischen Musikers Jan-Peter. "Sie", so auch der Titel des Songs, erschien im Jahr 2011 auf dem Album "Endstation" bei PC Records, dem gegenwärtig wohl bedeutendsten deutschsprachigen Label für Neonazi-Musik. Jan-Peter war bereits auf mehreren sogenannten Schulhof-CDs vertreten, mit denen die NPD und andere Neonazis über Rechtsrock gezielt Jugendliche ansprechen wollen.
Sie
Sie bilden und führen Monopole in den Zweigen und Ästen der Industrien.
Sie reglementieren die Etablierten in allen Strukturen und Hierarchien.
Sie befehligen ihre Akteure auf den Kulissen dieser Welt –
im Schauspiel Menschenwürde, Selbstbestimmung und Humanität.
Aus religiösem Fanatismus und - oder als Initiatoren der Hochfinanz
erklären sie den freien Menschen Krieg und rüsten sich zum Kampf.
"Sie" werden nicht weiter bezeichnet, man erfährt nicht direkt, wer gemeint ist. Dennoch ist die Botschaft denkbar klar: Hier ist versammelt, was zur Tradition antisemitischer Verschwörungstheorie gehört – beginnend mit ideologischen Anleihen bei den berüchtigten "Protokollen der Weisen von Zion". Das Lied "Sie" ist ein Musterbeispiel für Antisemitismus als Modell zur Erklärung der Welt und allen Unheils. Juden müssen hier gar nicht mehr direkt als Feindbild benannt werden; die Band kann darauf setzen, dass ihre Zuhörer genau wissen, wer gemeint ist. Juden als Strippenzieher hinter den Kulissen, die die Rede von Menschenrechten dazu missbrauchten, die Völker zu unterjochen und ihre Interessen durchzusetzen – das gehört zum ideologischen Grundinventar der Neonaziszene. Die Behauptung, beim Judentum handele es sich um eine in seinem Wesen fanatische Religion, ist ebenfalls Teil des antisemitischen Kanons.
Wie schon im Text von Stahlgewitter über Rudolf Heß geht es, wenn das Thema des Liedes nicht klar benannt wird, um mehr als nur darum, juristische Hindernisse zu umgehen und mit der juristischen Unangreifbarkeit zu kokettieren, nach dem Motto: "Seht her, ihr könnt uns nichts."
Einerseits gehört Raunen – das Arbeiten mit Andeutungen – zum Standardrepertoire des Antisemitismus, andererseits wird hier durch das bewusst Nebulöse demonstriert, man dürfe ja nicht Klartext reden, weil Verfolgung drohe. Der Neonazi als Opfer von Zensur, als Opfer von Gesinnungsjustiz, als ewig Verfolgter – dies ist ein wiederkehrendes Motiv der Agitation, das hier nur im Subtext auftaucht.
Wichtiger noch ist aber, dass durch das gemeinsame Verstehen von Andeutungen die Bindung zwischen Musiker und Hörer verstärkt wird. Wer die Anspielungen versteht, wer erkennt, dass Rudolf Heß oder Juden gemeint sind, gehört dazu, ist Teil der Eingeweihten, die besser verstehen, was wirklich in der Welt passiert, ist in der Lage, hinter die Kulissen zu sehen. Das Verstehen der Andeutung markiert die Grenze zwischen In- und Outgroup, durch die Geheimnistuerei wird beim verstehenden Hörer das Selbstwertgefühl gestärkt.
An allen Fronten dieser Welt haben sie ihre Söldner stationiert
und ihre Lakaien und Speichellecker in die Systeme infiltriert.
Woanders fallen ihre Bomben – hier sind sie Teil der Obrigkeit,
sie bleiben, was sie immer waren – Teufel in Menschengestalt!
Sie sind die Drahtzieher der Konflikte, der Kriege und Komplotte,
sie inszenieren ebenso Wirtschaftskrisen und Bankrotte.
Sie haben den Erdball aufgeteilt – der Beigeschmack ist obligat.
Für die einen Brot und Spiele, für alle anderen Stacheldraht.
Die Sklaverei der freien Geister gehört sowohl zu ihrer Strategie
wie auch die Gewalt an Völkern im Zuge der Expansionsmaschinerie…
Namen sind Schall und Rauch – ihr Wesen zeigt am besten, wer sie sind –
Völkervernichter! Weltenvergifter!
Was auch immer in der Welt geschieht, hinter allem Übel, ob Krieg oder Wirtschaftskrise, steckt das Judentum. Diese Ideologie ist in der Szene allgegenwärtig.
Dabei greift Jan-Peter nicht nur auf ideologische Muster des NS-Antisemitismus' zurück. Im Begriff des "Weltenvergifters" scheint das ältere antisemitische Motiv der Brunnenvergiftung auf. Das Wirken der Juden findet in dieser Hassideologie weltweit statt – "an allen Fronten der Welt" habe man die "Systeme infiltriert". In diesem Denken kann es kein legitimes politisches Handeln von Juden geben und keine legitime Zugehörigkeit zu irgendeiner Bevölkerung – Juden sind immer "die Anderen", sie sind, wie einst Adolf Stoecker, einer der wichtigsten Begründer des modernen Antisemitismus, schrieb: "fremder Blutstropfen in unserem Volkskörper".
Das vermeintlich Böse ist, wie Jan-Peter am Ende des Liedes betont, das "Wesen" des Judentums, das "bleibt", was es immer war. Dieses Wesen ist überhistorisch und unveränderlich, weil es in der Biologie begründet ist – in Anknüpfung an den Rassenantisemitismus des Nationalsozialismus.
Auffallend ist jedoch, dass der Standardvorwurf von Neonazis an Juden, diese hätten den Holocaust erfunden, um das deutsche Volk zu knechten und zu endlosen Bußzahlungen und Schuldritualen zu zwingen, hier nicht vorkommt. Man kann unterstellen, dass der Autor des Liedes dies dann doch juristisch für zu heikel hielt.
Die Formen von Mimikry, von vermeintlicher Entschärfung der Texte, die sich bei Stahlgewitter und Jan-Peter finden, gehören bereits seit Mitte der 1990er Jahre zum Standard der Szene. Es ist seit langem üblich geworden, dass Anwälte Texte vor der Veröffentlichung prüfen. Dass diese sprachliche Mäßigung zumindest auch taktisch motiviert war und ist, machte Ken McLellan, Sänger der englischen Band Brutal Attack, deutlich: "Wer unsere Botschaft versteht, denke ich, der weiß auch so, wo wir stehen."