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Blut, Hustensaft-Hähnchen und die Porzellan-Challenge

Marcus Bösch

/ 7 Minuten zu lesen

(© Adobe-Stock/Nattakorn)

An Halloween 2020 initiiert ein US-amerikanischer Ketchup-Hersteller eine TikTok-Challenge (auf deutsch: Herausforderung). Die Idee ist einfach, einen passenden Sound liefert das Unternehmen gleich mit. Unter dem dazugehörigen Hashtag #HeinzHalloween sammeln sich im folgenden mehr oder minder kurzweilige Videos in denen mit Ketchup Blut simuliert wird . Es entstehen unzählige Videos, die allein am ersten Wochenende mehr als 3 Milliarden mal auf TikTok angeschaut werden. Ein Beispiel für eine so genannte Challenge auf der Plattform. TikTok-Challenges sind Kampagnen oder Trends, die Nutzende dazu einladen, eigene Videos basierend auf der Ausführung einer bestimmten Aufgabe zu erstellen. Ein typisches interaktives Angebot auf der Plattform, welches entweder von Unternehmen und Marken oder von Nutzer/-innen ausgeht. Das Bereitstellen einer Handlungsanweisung, zum Teil mit einem bereitgestellten Sound, führen zur niedrigschwelligen Aktivierung und somit zu mehr Videoinhalten auf der Plattform. Challenges können so zu einer Art Feiertagsbeschäftigung für die gesamte Familie werden und wirken gemeinschaftsfördernd. Durch die Konzentration auf Inhalte im Gegensatz zu der Konzentration auf reichweitenstarke Accounts, können auch Menschen mit wenig Followern dank einer guten Idee Reichweite erzielen oder im Rahmen einer Challenge durch eine originelle Performance unmittelbar zu temporärem Ruhm gelangen.

Screenshots der TikTok-Videos von @universebyu, @creatorland, @blackoppsninja (zuletzt aufgerufen am 23.06.2023) (© Externer Link: @universebyu, Externer Link: @creatorland, Externer Link: @blackoppsninja)

„Niemand kocht das wirklich“

Ein weiteres Lebensmittel steht im Zentrum einer anderen Challenge. Es handelt sich um ein Hühnchen, beziehungsweise um ein so genanntes schlafendes Hühnchen. In TikTok Videos wird gezeigt, wie man Hühnerbrüste zubereitet, dabei werden sie in einer blauen Flüssigkeit gekocht, die vor allem aus dem Hustensaft NyQuil besteht. Eine Abbildung des „Sleepy Chicken“ versehen mit der Überschrift „Deadly TikTok Challenges“ (deutsch: Tödliche TikTok-Challenges) wurden in der Befragung des TikTok CEOs Shou Zi Chew vor dem US-amerikanischen Kongress im März 2023 präsentiert. Shou Zi Chew, musste vor dem Kongress aussagen, da US-amerikanische Beamte Sicherheitsbedenken über die in chinesischem Besitz befindliche App geäußert hatten. In der über fünf Stunden dauernden Debatte wurde der CEO mit zahlreichen Vorwürfen konfrontiert. Der republikanische Abgeordnete Earl L. „Buddy“ Carter aus Georgia äußert vor dem Hühnchen-Poster sitzend, die Kommunistische Partei Chinas betreibe „psychologische Kriegsführung durch TikTok, um US-Kinder gezielt zu beeinflussen“, insbesondere durch gefährliche TikTok-Challenges. Schließlich habe die amerikanische Food and Drug Administration (FDA) erst kürzlich eine Warnung vor dem Rezept herausgegeben . Problematisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass es sich bei dem NyQuil-Hühnchen nicht um eine TikTok-Challenge handelt. Die Idee entstand 2017 auf der Website 4chan – ein Jahr bevor TikTok in den USA startete. Und das angebliche Rezept ist seit Jahren ein Internet-Meme. Darauf weist unter anderem die US-amerikanische Journalistin Taylor Lorenz in der Washington Post hin. Das Hühnchen verbreite sich seit Jahren in viralen Posts auf Reddit, auf Image-Boards und auf Humor-Websites. Bilder und Videos von Hühnchen, die in NyQuil zubereitet werden, seien auch auf YouTube und Instagram zu finden. Allerdings gebe es keine tatsächlichen Beweise dafür, dass Kinder und Jugendliche dieses Rezept wirklich ausprobierten und auch essen würden, so die Journalistin Amanda Silberling bei Techcrunch . Silberling fordert dazu auf, endlich den Unterschied zwischen einem viralen Trend und dem Posten eines viralen Memes durch einzelne Personen zu erkennen. Denn beim Hustensaft-Hühnchen handle es sich ganz offensichtlich um das Posten eines viralen Memes, also einem Bild, Video oder Text, der von Internetnutzenden schnell kopiert und verbreitet wird, oft mit geringfügigen Änderungen.

Die Kombination aus überraschenden Bestandteilen, wie Hühnchen und Hustensaft, sowie konträre Emotionen wie Ekel und Erstaunen und einer Plattform, die zwar von vielen Kindern und Jugendlichen intensiv genutzt wird, aber nicht von ihren Eltern, führt unter anderem zu einer Vielzahl von Warnungen vor möglichen Gefahren der App. Vor allem wenn es reichweitenstarke Berichte über Todesfälle im Zusammenhang mit vermeintlichen TikTok-Challenges gibt. An dieser Stelle beispielhaft ist die so genannte Blackout-Challenge, die zu rund 20 Todesfällen in 18 Monaten geführt haben soll. Laut der britischen Zeitung The Independent waren 15 Opfer 12 Jahre oder jünger . Bei diesem Ohnmachts- beziehungsweise Würgespiel wird absichtlich eine Ohnmacht herbeigeführt, die auf einer reflektorischen Verlangsamung des Herzschlags, Blutdruckabfall und einem akuten Sauerstoffmangel im Gehirn beruht. In zahlreichen internationalen Medienberichten wird ein Zusammenhang zwischen TikTok und dem Ohnmachtsspiel hergestellt, der als Fazit wie hier bei Bloomberg nur eine Schlussfolgerung zulässt: „Die viralen Challenges von TikTok locken immer wieder junge Kinder in den Tod.“ Das Problem an dieser Betrachtung ist die Fokussierung auf eine Plattform und die Implizierung eines exklusiven Zusammenhangs. Zum Beispiel auch in der Überschrift eines Zeit-Artikels aus dem Jahr 2023: Blackout-Challenge: TikTok und der Tod. Die so genannte Challenge lässt sich aber weit ins 20. Jahrhundert datieren. So weist wiederum in der Zeit ein Artikel aus dem Jahr 2009 auf die Praktik des Würgespiels hin, die der aus dem südfranzösischen Ort Manosque stammende Schriftsteller Jean Giono in seiner bereits 1948 entstandenen Novelle Faust au village beschreibt. Eine Auswertung von Medienberichten durch die U.S. Centers for Disease Control and Prevention (CDC) identifiziert 82 mit dem Spiel in Zusammenhang stehende Todesfälle von amerikanischen Jugendlichen zwischen 6 und 19 Jahren im Zeitraum 1995 bis 2007 – wiederum lange vor TikTok. Die Plattform kann hier als Verstärker der Verbreitung dienen, ist aber nicht exklusiver und nicht ausschließlicher Ort. Dass es dennoch gefährlich sein kann, sich auf solche Challenges einzulassen, soll an dieser Stelle betont werden. Handlungsmöglichkeiten und Hilfestellungen sind Interner Link: hier zu finden.

Ähnlich verhält es sich mit weiteren vermeintlichen TikTok-Challenges wie der Cinnamon-Challenge (auf deutsch: Zimt-Challenge), bei der Nutzerinnen und Nutzer einen Esslöffel Zimt in 60 Sekunden ohne ergänzende Flüssigkeit herunter schlucken sollen. Auch diese gesundheitsgefährdende Aufgabe gab es lange vor TikTok.
Es empfiehlt sich eine kritische Betrachtung des Einzelfalles dahingehend, ob es sich bei vermeintlichen TikTok-Challenges auch wirklich um welche handelt. So ist bis heute nicht eindeutig nachvollziehbar, ob es sich bei der vermeintlichen Creed 3-Challenge , die im März 2023 zu verwüsteten Kinos in ganz Deutschland geführt haben soll, um ein echtes Phänomen handelte. So ließen sich keine Videos auf der Plattform finden, die zur Randale aufriefen.

Mit einem Mindestmaß an Digitalkompetenz lassen sich Trends wie die Porzellan-Challenge, bei der Nutzerinnen und Nutzer das Porzellan ihrer Großeltern zerhacken, mahlen und dann durch die Nase ziehen, als Falschmeldung enttarnen. Schließlich handelt es sich hier um die bewusste Aktion eines TikTok Nutzers namens Sebastian Durfee, der dazu aufforderte, in Videos vor den Gefahren des übermäßigen Porzellankonsums zu warnen. „Helft mir, Videos mit dem Hashtag #porcelainchallenge zu erstellen, um die Babyboomer in Angst und Schrecken zu versetzen“, schrieb Durfee im Untertitel seines Videos. Eigentlich recht einfach zu erkennen. Trotzdem schaffte es die „gefährliche Challenge“ prominent als Meldung auf Fox News und andere TV-Sender. „Sebastian Durfee hat eine Fake-Teenager-Challenge ins Leben gerufen – und wurde von TikTok verbannt“, kommentiert die MIT Technology Review: „Das bewies gewissermaßen seinen Standpunkt zum Thema moralische Panik im Internet.“ Zur Einordnung neuer oder gegebenenfalls alter Internet Challenges empfiehlt sich folgende Liste . Zudem sollten jeweils entsprechende Challenge-Hashtags bei TikTok selbst überprüft werden. Hilfreich ist es, sich einige Videos selbst anzuschauen, die Kommentare zu lesen oder erfahrenen Nutzer/-innen um eine erste Einschätzung zu bitten.

Informationen für Lehrkräfte, Erziehungsberechtigte, Kinder und Jugendliche

Weitere Informationen im Kontext Challenges bietet TikTok, beispielsweise den Externer Link: Leitfaden für Erziehungsberechtigte. Wer unabhängige Informationen sucht, findet diese unter anderem bei der EU-Initiative Externer Link: klicksafe. Hier gibt es auch konkrete Handlungsempfehlungen: Externer Link: Was tun bei gefährlichen Challenges? Die Landesanstalt für Medien NRW bietet mit Externer Link: Zebra ein kostenloses Angebot, bei dem sich individuelle Fragen zu Medien und dem digitalen Alltag stellen lassen. Der Externer Link: jugend.support ist ein Rat- und Hilfeangebot für Kinder ab 10 Jahren und Jugendliche in Zusammenarbeit von klicksafe mit dem Bundesfamilienministerium. Hier finden sich Informationen unter anderem zum Themenkomplex Externer Link: Influencer/-innen. Die gemeinnützige NGO Externer Link: HateAid setzt sich für Menschenrechte im digitalen Raum ein und engagiert sich auf gesellschaftlicher wie politischer Ebene gegen digitale Gewalt und ihre Folgen. Und berät und unterstützt auch individuell.

Weitere Inhalte

Marcus Bösch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der HAW Hamburg und forscht zu TikTok, politischer Kommunikation und Desinformation. Er veröffentlicht den wöchentlichen Newsletter Externer Link: Understanding TikTok.